Archivale

Briefe Gottlieb von Tuchers an Paul Johann Anselm von Feuerbach

Enthält:
1830 März 26: Brief Gottlieb v. Tuchers (in duplo), Nürnberg, an Exzellenz (Paul Johann Anselm von Feuerbach).
Kaspar (Hauser) befindet sich seit Neujahr im Haus des Kaufmanns (Johann Christian) Biberbach, wo er im 1. Stock, der ansonsten unbewohnt ist, ein wohlverwahrtes Zimmer hat. Er wird ständig von 2 Polizeisoldaten bewacht, was zwar richtig ist, aber Kaspar geht dabei zu Grunde. Es sind eben Soldaten, aber keine Erzieher. Eine Entfernung dieser Wache scheint daher geboten. Wie kann dann für Kaspar gesorgt werden? Schreiber hat in Hamburg, London und Paris Freunde, besonders an letzterem Ort Herrn Reinhard - weiter hat Schreiber Verwandte in Berlin, Prag, Wien und Frankfurt, und schließlich könnte durch die Kaufleute Platner, Merkel, Cnopf, Merk und Dietz an den großen Handelsplätzen Sammlungen veranstaltet werden. Selbst wenn der Name des Schreibers nicht genannt würde, könnte er doch nicht lange verborgen bleiben. Nun will Schreiber aber auch nicht die Ungnade Sr. Majestät und die Ungunst der Regierung provozieren. Schreiber sucht nach einer Familie, wo für Kaspars Ausbildung besser gesorgt werden könnte - bislang vergeblich. Vom Magistrat konnten immerhin 300 Gulden jährlich zum Unterhalt Hausers bewirkt werden. Am 10. Januar wandte Schreiber sich an den König (Ludwig I.) (s. Nr. 2821 Prod. 2).

1830 März 27: Brief Tuchers, wie vor, an Feuerbach.
Heute morgen kam Herr (Johann Jakob) Schnerr, der Kaspar schon viel Gutes getan hat, mit einem Major, einem alten Bekannten (= Heinrich v. Weitershausen) zu Biberbach, und brachte einen Fremden mit, einen Herrn Birch oder Burg (= Otto von Pirch). Dieser Herr befindet sich auf Reisen und war u. a. in Ungarn und Polen gewesen. (Erzählung der Reaktion Hausers auf verschiedene ungarische Wörter und Redewendungen). Kaspars Träume, in denen er Latein 'erkannte'.

1830 März 29: Brief Tuchers, wie vor, an Feuerbach.
Zweites Treffen mit Pirch mit weiteren Sprachversuchen im Ungarischen. (Unvollständig).
Dabei:
Behufs der gefälligen Vernichtung dieses Blatts.
Auseinandersetzung mit den Vermutungen über eine Erzieherin Hausers, veröffentlicht in Nr. 26 des "Bazar" von (Moritz Gottlieb) Saphir. - Traum Hausers, worin die Ode Difugere nives des Horaz vorkam.

1830 April 15: Tucher, wie vor, an Feuerbach.
Dank für die Hilfe, welche Adressat für Hauser organisiert hat. Man könnte auch das von (Friedrich) Fleischmann in Stahl gestochene Porträt Hausers einsetzen, um die Schwachheit der Leute zu benützen. (Georg Friedrich) Daumer wäre bereit, aus seinen Notaten über Hauser eine Druckschrift zusammenzustellen, etwa unter dem Titel "Vorläufige Mittheilungen über Kaspar Hauser von G. F. Daumer". Fraglich, ob man auch die Träume Hausers veröffentlichen soll. - Kürzlich erhielt Schreiber einen Brief von Pirchs aus Sondershausen mit einem Auszug aus dessen Tagebuch, den Schreiber hier mit beifügt (= Nr. 2862). - Kaspar erholt sich langsam von dem Unglück (= Unfall mit der Pistole, s. Nr. 2864). Zu wünschen bleibt schließlich die Entfernung Kaspars aus dem Hause Biberbachs. Gerade dessen Frau (Magdalena Klara) ist ein gar zu unverständiges Weib, das den Kaspar nicht leiden kann u. wie ich fürchte über kurz oder lang ihm die Lage noch mehr verbittern wird.

1830 April 20: Tucher, wie vor, an Feuerbach.
Am letzten Samstag annoncierte die Buchhandlung Bauer und Raspe im "Korrespondenten", sie beabsichtigten, das Leben Hausers auf authentische Weise bearbeiten zu lassen! Schreiber stellte Herrn (Johann Michael) Bauer sofort zur Rede. Nach anfänglicher Weigerung nannte Bauer den Verfasser des Werks: Es handelt sich um den hiesigen Gerichtsarzt Dr. (Paul Sigmund Karl) Preu. Dieser versprach, sein Manuskript dem Schreiber zur Durchsicht zu übergeben, welcher wiederum dasselbe dem Adressaten zusenden wird. Preu ist ein gränzenlos leichtsinniger Mensch, dessen liederlicher Lebenswandel Schreiber missfällt (s. u. Prod. 8). - Themenwechsel: Die Familie Schreibers hat Probleme mit der Patrimonialgerichtsbarkeit, welche Schreiber selbst als nicht mehr vereinbar mit einem konstitutionellen Staat betrachtet. Durch die Administrativbehörden kommt es ständig zu Boshaftigkeiten und Willkürmaßnahmen. Die Familie besitzt im Obermainkreise das ehemals reichsritterschaftliche Gut Rüssenbach, auf dem sie seit fast 200 Jahren die Gerichtsbarkeit ausübt. Im Dezember vorigen Jahres wurden die Grundholden vor das Landgericht Ebermannstadt geladen und durch den Landrichter (Johann Benedikt) Rascher aufgefordert, auf ihren Gerichtsstand zu verzichten. Diejenigen, die sich weigerten, wurden auf den Befehl des Landrichters: "Werfts h'nunter die Hund'!" in Kriminalarrest genommen. Erst ein Ersuchen an die Regierung erbrachte die Freilassung der Grundholden, deren Verhaftung allerdings mit einem Schreibfehler entschuldigt wurde! Schreiber ist mit dieser Sache sehr beschäftigt, wiewohl ihn die Vormundschaft über Hauser gewiss noch mehr beschäftigen wird.

1830 Juni 18: Tucher, wie vor, an Feuerbach (unvollständig)
Die Lieferung der Notate über Hauser an den Adressaten hat sich verzögert und wird sich noch etwas verzögern. Schreiber hat nun Herrn Pritting von der Stadtgerichtskanzlei mit dieser Aufgabe betreut. An der Verzögerung ist außerdem der erbärmliche Jammermensch Professor Wurm (= Christian Wurm, s. Nr. 2863) schuld. Professor Daumer ist krank und kann deshalb wenig leisten. - Adressat hat den ursprünglichen Plan einer Sammlung für Hauser im Ausland (= außerhalb Bayerns) inzwischen aufgegeben. - Gestern hat der Maler (Johann Dietrich Karl) Kreul Kaspar ungefragt bei Biberbach abgeholt, um ihn für den Adressaten zu porträtieren.

1830 Juli 20: Tucher, wie vor, an Feuerbach.
Anbei nun die fertige Abschrift der Notate (hier nicht enthalten). Entschuldigung der Verzögerung. - Um Mittel für Kaspars Unterstützung zu erhalten, ruhen nun die Hoffnungen auf der zu erwartenden Schrift des Adressaten. Kaspar befindet sich seit dem 15. d.M. im Hause des Schreibers, damit er unter beständiger Aufsicht steht. Mein gescheutes verständiges Weib (Maria Helena Wilhelmina, geb Haller) , das denn auch in meine Gedanken u. Ansichten völlig eingeht, unterstützt mich nun dabei aufs Beste - u. so wollen wir denn getrost hoffen, daß es gut gehe. Kaspar geht es gut, und Schreiber hofft, dass Ruhe und frische Luft ihn weiter stärken werden. Hinsichtlich der Sicherheit glaube ich genugsam gesorgt zu haben. Er bewohnt ein geräumiges Mansardenzimmer im 2ten Stok, das auf der einen Seite eine Bodenkammer <,> auf der andern ein Vorzimmer hat, in diese beiden Piecen sind die 2 Polizeisoldaten vertheilt; übrigens haben alle Fenster Läden. - Ein englischer Advokat aus London namens Blacker hat aus Gesundheitsgründen Nürnberg zu seinem Aufenthaltsort gewählt. Er wäre bereit, das Werk des Adressaten ins Englische zu übersetzen. Er will hier zusammen mit seiner Frau von seinen Renten leben, sucht aber dabei eine Beschäftigung: So will er hier eine Feuerversicherungsbank gründen, weswegen er demnächst nach Ansbach zu Herrn Generalkommissar und wohl auch zum Adressaten reisen will. - Frage nach den nächsten Plänen des Adressaten. Der mitgeteilte Brief des Herrn (Julius Eduard) Hitzig (Nr. 2865) scheint ja etwas vorauszusetzen. Appellationsgerichtsrat (Johann Carl Friedrich) Schumann gibt auch nichts preis und Legationsrat (Guido) v. Meyer in Frankfurt plant eine Schrift über Hauser zu veröffentlichen, verbunden mit einem Spendenaufruf. Die Publikation soll gleichzeitig in Paris und London erscheinen. Schreiber bat seinen Schwager (!) aber um Zurückhaltung, um Kollisionen mit dem geplanten Werk des Adressaten zu verhindern. - Die geplanten authentischen Nachrichten Dr. Preus (s. o. Prod. 6) wurden durch Herrn (August Karl Alexander) v. Röder unterdrückt, der Preu darauf hinwies, dass ohne Genehmigung des Appellationsgerichts nichts veröffentlicht werden dürfe, was Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung ist. Preu ist nun wütend, und will in ausländischen Blättern Lärm schlagen.

Archivaliensignatur
Stadtarchiv Nürnberg, E 29/II Nr. 2861
Umfang
Umfang/Beschreibung: 9 Prod
Sonstige Erschließungsangaben
Bemerkungen: Acc.Nr. D 1/2014

Bemerkungen: Vgl. überhaupt Nr. 2869

Bemerkungen: Prod. 1: Teilabdruck bei A. v.d. Linde 1887, II, S. 346, Anm. 1. Die Dublette = Abschrift - aus Mappe 19/20/21, hier ist Feuerbach ausdrücklich als Adressat genannt

Bemerkungen: Prod. 2 und 4 teilweise bei Johannes Mayer: Lord Stanhope - Der Gegenspieler Kaspar Hausers, Stuttgart 1988, S. 293. v. Weitershausen lt. Pies, K.H. Eine Dokumentation 1966, S. 80. Wahrscheinlich Heinrich v. W., s. Kneschke s.v.

Bemerkungen: Prod. 5: Die geplante Schrift Daumers kam - so jedenfalls - nicht zustande

Bemerkungen: Prod. 6: Verleger Bauer lt. NKL s.v. - Der Landrichter - "Werfts.." - offensichtlich ein Altbayer, die Vornamen lt. Hof- und Staatshandbuch des Kgr. Bayern 1827, S. 151

Bemerkungen: Prod. 7: Das bekannte Pastellgemälde von Kreul ist nun ziemlich exakt zu datieren!

Bemerkungen: Prod. 8: Der Wohnort müsste das Gartenhaus im Süß'schen Garten gewesen sein, der Garten in E 29/VIII Nr. 163. - Der Legationsrat in Frankfurt = der Schwager Gottlieb v. Tuchers, also Guido v. Meyer.

Indexbegriff Person: Bauer, Johann Michael

Indexbegriff Person: Bauer & Raspe

Indexbegriff Person: Biberbach, Johann Christian

Indexbegriff Person: Biberbach, Magdalena Klara

Indexbegriff Person: Blacker, N

Indexbegriff Person: Cnopf, N

Indexbegriff Person: Daumer, Georg Friedrich Prof.

Indexbegriff Person: Dietz, N

Indexbegriff Person: Feuerbach, Paul Johann Anselm Dr. Ritter von

Indexbegriff Person: Fleischmann, Friedrich

Indexbegriff Person: Hauser, Kaspar

Indexbegriff Person: Hitzig, Julius Eduard

Indexbegriff Person: Horaz

Indexbegriff Person: Kreul, Johann Dietrich Karl

Indexbegriff Person: Ludwig I. (König Bayern)

Indexbegriff Person: Merkel, N

Indexbegriff Person: Meyer, Guido von

Indexbegriff Person: Pirch, Otto von

Indexbegriff Person: Platner, N

Indexbegriff Person: Preu, Paul Sigmund Karl Dr.

Indexbegriff Person: Pritting, N (Stadtgerichtskanzlist)

Indexbegriff Person: Rascher, Johann Benedikt (Landrichter Ebermannstadt)

Indexbegriff Person: Reinhard, N (Paris)

Indexbegriff Person: Roeder, August Karl Alexander von

Indexbegriff Person: Saphir, Moritz Gottlieb

Indexbegriff Person: Schnerr, Johann Jakob

Indexbegriff Person: Schumann, Johann Carl Friedrich

Indexbegriff Person: Tucher, Christoph Karl Gottlieb Sigmund

Indexbegriff Person: Tucher, Gottlieb (= Christoph Karl Gottlieb Sigmund)

Indexbegriff Person: Tucher, Maria Helena Wilhelmina von - geb Haller

Indexbegriff Person: Weitershausen, Heinrich von

Indexbegriff Person: Wurm, Christian (Prof)

Indexbegriff Sache: Klassifikation E/F-Bestände: Hauseriana (Quellen und Forschungen zu Kaspar Hauser)

Indexbegriff Sache: Klassifikation E/F-Bestände: Briefwechsel Gottlieb von Tucher

Indexbegriff Sache: Klassifikation E/F-Bestände: Vormundschaften

Bestand
E 29/II Tucher/Gesamtgeschlecht und Jüngere Linie/Akten und Rechnungen
Kontext
Tucher/Gesamtgeschlecht und Jüngere Linie/Akten und Rechnungen

Indexbegriff Ort
Ansbach
Berlin
Ebermannstadt
Frankfurt a. M.
Garten, Süß'scher = Gärten bei Wöhrd 173 und 174
Hamburg
London
Obermainkreis
Paris
Polen
Prag
Rüssenbach
Sondershausen
Ungarn
Wien
Indexbegriff Sache
Exzellenz
Kaufmann
Unterbringung
Unterhalt
Bewachung
Polizeisoldaten
Sammlung
Spendensammlung
Ausbildung
König von Bayern
Gesuch
Major
Besuch
Ungarisch
polnisch
Sprachversuche
Träume Kaspar Hauser
Latein
Ode
Zitat Horaz-
Der Bazar
Porträt Kaspar Hauser
Buchveröffentlichung geplant
Notate
Pistolenschuss
Unfall
Charakterisierung
Buchhandlung
Bauer & Raspe
Korrespondent (von und für Deutschland)
Annonce
Gerichtsarzt
Leichtsinn
Lebenswandel, liederlicher
Patrimonialgericht Rüssenbach
Landgericht Ebermannstadt
Landrichter Ebermannstadt
Grundholde
Vorladung
Gerichtsstand Verzicht auf
Weigerung
Kriminalarrest
Regierung
Schreibfehler
Haftentlassung
Vormund
Stadtgerichtskanzlist
Kopierarbeit
Verzögerung
Professor
Krankheit
Maler
Aufsicht
Mansardenzimmer
Bodenkammer
Vorzimmer
Fensterläden
Advokat, englischer
Klimawechsel
Renten
Feuerversicherungsbank geplant
Appellationsgerichtsrat
Legationsrat
Generalkommissar
Reiseplan
Spendenaufruf
Genehmigung
Publikationsverbot
Appellationsgericht
Erzieherin
Zeitschrift

Laufzeit
26.03.1830 - 20.07.1830

Weitere Objektseiten
Rechteinformation
Letzte Aktualisierung
12.02.2024, 08:47 MEZ

Objekttyp

  • Archivale

Entstanden

  • 26.03.1830 - 20.07.1830

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