Archivalie
Liebes Tull, muß Dir schnell noch Briefgen schreib...
Transkription: Liebes Tull, muß Dir schnell noch Briefgen schreib. Wie gehts, wie Frau V.?, wie Dir im Schäft? Noch so lang die Zeit? Denk oft an Dich wie Du gfangen sitzt Du Freiheitsmenschenkind. Tu jezt immer morgens 1/2 6 den Wecker rasseln lassen, denk dann an Dich daß d jezt aufstehen mußt, wills dann auch, bleib abr noch liegen 1 Stund 2 Stund. Werd aber doch aufstehen, wird nur immer abends so spät, weil da so ruhig wenn B.s fort sind, Casc schlaft u ich sitz u lesen kann und sinnen. Schaff tagsüber oben fleissig, muss ein Stück vorwärts gehen, geht auch, will vorbereiten weil dann Mitte Juli nach Dresden u Weimar fahr. Mach jezt Masken, täten dir auch gfallen. Dann allerlei andres. Muß Clichées machen lassen nach meinen Arbeiten für Utopia-Verlag in Weimar. Morgen Kommt Frankfurter Musikcomponist Hindemith, Freund von Temes, der jedenfalls Tanzmusiken schreibt. Ist mir arg recht weil meine große Sorg war daß da das richtige zustand kommt. Hat eine kleine Oper insceniert von Kokoschka (text) das am Landes Theater. nächsten Winter erstaufgeführt werden soll u das ich inscenieren soll. Hab Dir ja schon gschrieben.- Gestern abend noch spaziert mit Casca zum Seiltänzer. Einer ist auf dem Wasen, Schiffschaukel, Schießbude, Mordsradau, ein andrer ist im Marstallhof (bei der Kronstraß) Feuerwerk noch gsehen. - Am Samstag abend bei Hildebrandts einladen west, große Gsellschaft 30 Leut ca. ein Heidelberger Psychiater früherer Kunsthistoriker hielt Vortrag über Zeichnungen von Irren. sehr interessantes Bildermaterial, ganz überraschende Ähnlichkeiten mit Modernen, Klee zB der die Sachen gesehen hat u begeistert war. Giebt sehr zu denken. Der Mann, Dr. Prinzhorn, hat mich einladen nach Heidelberg dort die Anstalt zu sehen, macht viel dort in Kunstsachen. Hab mir dann ein Tag lang einbild, tät verrückt werden u hab mich sogar freut, bei dem Gedank daß dann alles so wär wie erstrebt, schrankenlos in der Ideenwelt in sich versunken, das was die Mystiker erstreben. Ein Blatt war dabei, stand oben: "Gefährlich es zu betrachten!" Geht mich noch sehr im Kopf herum, waren feine Symbolzeichen für, Liebe, Leben, Kindheit, Witz, usw. systematisch angeordnet. - Wird natürlich benuzt die ganze Sache die modernen Künstler zu überführen: seht: wie die Verrückten! Aber ist nicht so; wol Ähnlichkeit: der Irre hat die Ideenwelt die der Gesunde erstrebt, reiner weil ganz losgelöst von allem Aussen. Freilich ein gefährliches Spiel der Modernen u ein Göthe wüßte wol warum es sich so sehr auf die Wirklichkeit stellte ja den gesunden Menschenverstand pries, ich denke weil er die Gefahr kannte der Phantasien ins Uferlose. Sie beschäftigen mich sehr diese Fragen. - Meyer hat noch nicht wieder geschrieben, wird aber wol bald. - Manches hat mich auch stark an Meyer erinnert, ganz überraschend. Vor allem will ich wissen, wie meine Tulle lebt u liebt, wies ihm geht u obs immer froh u munter ist. Seis! Schickst mir auch einmal ein Bildchen von einem Passphotografen oder sonst einer Gelegenheit? Hier die vom Sturm u von der Tour. Casc hats heut bracht. Schicks retour. Leb wohl, sei grüßt u küßt viel u herzlichst von Deim Bosk
- Sammlung
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Archiv Oskar Schlemmer
- Inventarnummer
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AOS 2015/1576
- Material/Technik
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Papier; Tinte
- Ereignis
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Herstellung
- (wer)
- Provenienz
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Abshrift vorhanden; Ordner Abschriften unikal
- Rechteinformation
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Staatsgalerie Stuttgart
- Letzte Aktualisierung
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28.03.2025, 12:10 MEZ
Datenpartner
Staatsgalerie Stuttgart. Bei Fragen zum Objekt wenden Sie sich bitte an den Datenpartner.
Objekttyp
- Archivalie
Beteiligte
- Oskar Schlemmer (04.09.1888 - 13.04.1943)
- Tut Schlemmer (12.11.1890 - 25.04.1987)