Zum Tag der Arbeit: Backstein – von Ziegeln, Handelsrouten und Industriekultur

29.04.2021 Theresa Rodewald

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1. Mai 1886, Haymarket in Chicago: US-amerikanische Arbeiter*innen streiken für die Einführung des Achtstundentags. Der Streik endet blutig, wird aber in den folgenden Jahren zum Ausgangspunkt für den Ersten Mai als Tag der Arbeit (mehr Informationen gibt es hier). Thema dieses Spotlights sind jedoch nicht die historischen Wurzeln dieses spannenden und konfliktreichen Feiertags, sondern das, was Arbeiter*innen Ende des 19. Jahrhunderts täglich umgeben hat: Industriearchitektur. Einem einzelnen Aspekt dieser Architektur widmen wir uns genauer: dem Backstein.

Ziegel über Ziegel: Adobe, Klinker, Backstein

Wer heute den Begriff „Adobe“ hört, denkt zunächst an PDF oder Photoshop. 1886 denken die Menschen wohl zuerst an Mauerwerk. Denn vor allem in den USA sind ungebrannte Lehmziegel unter dem spanischen Begriff „Adobe“ bekannt. Die Software-Firma ist allerdings nicht nach einem Ziegel benannt, sondern bezieht sich auf den Bach „Adobe Creek“, der hinter dem Haus von Firmengründer John Warnock verläuft. Neben Adobe gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Ziegeln, so der Oberbegriff, die je nach Herstellungsweise einen eigenen Namen tragen. Gemeinsam ist ihnen ihr Material (Lehm oder Ton), ihre Herstellungsweise (sie werden geformt und getrocknet) und ihre grundsätzliche Funktion (es handelt sich um künstliche Steine).

Um sie witterungsbeständig zu machen, werden die meisten Ziegel gebrannt, der Backstein trägt seine Herstellungsweise also im Namen. Adobe wird lediglich luftgetrocknet und weicht bei Regen auf. Er ist deshalb vornehmlich in trockenen Regionen zu finden, so zum Beispiel in der traditionellen Bauweise der indigenen Völker Amerikas. Die Sonnenpyramide von Teotihuacán im heutigen Mexiko gilt als eines der größten Adobe-Bauwerke weltweit. Wichtig für die europäische Industriearchitektur sind aber gebrannte Ziegel und hier vor allem Klinker, die bei so hohen Temperaturen gebrannt werden, dass sich die Poren verschließen und der Stein kaum noch Wasser aufnimmt.

Anfänge: Steinzeit, Mesopotamien und Antike

Zusammen mit Holz, unbearbeiteten Steinen und Pflanzenfasern sind Lehmziegel die ältesten Baumaterialien der Menschheit. Archäologische Funde aus Jericho lassen sich auf 7.500 v. Chr., also in die Jungsteinzeit zurückdatieren. Frühe Beispiele der Ziegelbaukunst finden sich in der mesopotamischen Hochkultur. Ein schillerndes Beispiel ist das Ischta-Tor, das der babylonische König Nebukadnezar II. um 600 v. Chr. errichten lässt. Das Tor ist nicht nur wegen seiner Größe bemerkenswert, sondern stellt mit seinen glasierten Ziegeln auch ein Beispiel herausragender Handwerkskunst dar. Von der bronzezeitlichen Indus-Kultur bis zu chinesischen Backsteinbauten von 1.000 v. Chr. -  Ziegelarchitektur findet sich weltweit.

Im Römischen Reich erlebt der Ziegelbau ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. für circa dreihundert Jahre eine Blüte. Ziegeleien verbreiten sich im gesamten Römischen Reich, sodass Überreste von Ziegeln bis heute bei archäologischen Ausgrabungen gefunden werden. Die Römer trocknen ihre Ziegel vor dem Brennen auf dem Boden, Spuren menschlicher und tierischer Fußabdrücke sind deshalb häufig im Baumaterial verewigt.

Europäische Blütezeit: Backsteingotik und Backsteinrenaissance

In Mittel- und Nordeuropa, aus dessen Architektur Backsteinbauten heute nicht mehr wegzudenken sind, verschwinden mit dem Ende des Römischen Reichs zunächst auch die Ziegel. Erst im Hochmittelalter führen Mönche den Baustil wieder ein. Es folgt die Backsteingotik, deren imposante Bauwerke die roten Steine unverputzt oder auch gelb, grün oder schwarz glasiert zur Schau stellen. Verbreitung finden die prächtigen Gebäude vor allem im Ostseeraum und in den Niederlanden bzw. entlang der Handelsroute der Hansestädte, aber auch in Süddeutschland und bis nach Galizien finden sich entsprechende Bauten.

Insbesondere im Ost- und Nordseeraum wird der Backstein als Alternative zu Naturstein verwendet, der in der Region kaum vorkommt. Lehm, der für die Herstellung der Ziegel benötigt wird, gibt es hier dagegen reichlich. Auch der Handel spielt eine wichtige Rolle: Vorteil der Backsteine ist, dass sie leichter als Naturstein und damit wesentlich einfacher zu transportieren sind. Städte mit natürlichem Steinvorkommen können den Baustoff also einfach importieren. Klassiker der Backsteingotik sind christliche und weltliche Repräsentationsbauten, wie die Marienkirche in Lübeck (mit dem höchsten Backsteingewölbe der Welt) und das Schlieffhaus in Danzig.

Das Ende des Mittelalters bedeutet keineswegs ein Ende der Backsteinbauten. Sie setzen sich in der Backsteinrenaissance zum Beispiel in den bürgerlichen Giebelhäusern der Hansestädte fort –  man denke nur an Amsterdam. Doch auch jenseits der bekannten Handelsroute wird immer mehr mit Backstein gearbeitet. Ziegel ersetzen zunehmend die mit Lehm ausgefüllten Fachwerkhäuser und Bauten aus Naturstein. Die typischen roten Backsteinfassaden aber verschwinden teilweise, denn das Mauerwerk wird oft verputzt oder Fachwerk mit Ziegeln ausgefüllt.


Industriezeitalter: Backsteinkathedralen der Arbeit

Eine neue Dimension der Backsteinarchitektur bringt die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Weit über traditionelle Verbreitungsräume hinaus werden Fabrik- und Bahnhofsgebäude aus rotem, unverputzten Backstein und Klinkern errichtet. Denn für die großen Industriekomplexe, Kraftwerke, Wassertürme, Hochöfen und Brücken, die jetzt ganze Stadtviertel und Landstriche prägen, wird leicht herstellbares, belastbares und gut transportierbares Baumaterial benötigt. Backstein erfüllt diese Anforderungen und wird entsprechend zum architektonischen Grundstein der Industrialisierung.

Mit dem erhöhten Bedarf an Baumaterial verändert sich auch die Ziegelproduktion. Vor allem das Formen, Schneiden und Brennen der Ziegel wird industrialisiert, also mechanisiert und beschleunigt. Traditionell wird die Tonmasse über den Winter ausgefroren, dann gereinigt und per Hand in ein Ziegelmodell gepresst, bevor sie luftgetrocknet und schließlich für mehrere Tage gebrannt wird. In den industriellen Ringöfen können Ziegel kontinuierlich gebrannt werden, wohingegen traditionelle Schachtöfen nur fünf Mal im Jahr bestückt werden können.

Mit der industriellen Produktion verlieren sich allerdings auch handwerkliche Traditionen, wie zum Beispiel die sogenannten Feierabendziegel. Nach getaner Arbeit, also zum Feierabend, werden spezielle Ziegel mit Datumsangaben, oder als Glücksbringer mit Ornamenten oder Symbolen verziert, manchmal reicht auch ein Handabdruck.

Das Brennen von Ziegeln ist alles andere als einfach: Je nach Ton- bzw. Lehmgemisch, Lagerung, Trocknung und Hitze des Ofens ist oft mehr als ein Drittel am Ende unbrauchbar, zersplittert oder bei zu niedriger Temperatur gebrannt. Es ist also nicht verwunderlich, dass der erste und letzte Ziegel oft mit Sonnen und Monden verziert wird, um ein gutes Gelingen zu beschwören.

Auch für die Fabrikarbeiter*innen muss Wohnraum in den rasant wachsenden Städten geschaffen werden. Mietskasernen werden aus Backstein errichtet, manche Unternehmen bauen Arbeiterquartiere in der Nähe ihrer Produktionsstätten, hier entstehen Städte innerhalb der Städte, deren Zentrum nicht länger die Kirche und ihr Marktplatz, sondern die Fabrikhalle ist.

Die neue Industriearchitektur zeichnet sich aber nicht nur durch ihre Ausmaße, sondern auch durch ihren repräsentativen Anspruch aus. Diese „Kathedralen der Arbeit“ greifen Baumerkmale sakraler Architektur auf: Torbögen, Schornsteine und Türme im neogotischen Stil erinnern an Kirchen. Damit verbunden ist sowohl ein Machtanspruch einzelner Industrieller als auch ein langsam einsetzender, gesellschaftlicher Umbruch.

Backsteinavantgarde: Neue Sachlichkeit und Expressionismus

Passend zum Umbruch in der Gesellschaft kristallisiert sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein neuer Baustil heraus: der Funktionalismus, bzw. die Neue Sachlichkeit. Die Gebäude zeichnen sich durch schlichte Formgebung ohne viele Ornamente aus, deren Design vor allem funktional ist. Industriearchitektur wird zum Experimentierfeld für neue Bauweisen, Ausdruckformen und Materialien. Vorreiter dieser sachlichen Architektur ist zum Beispiel Peter Behrens, der für die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG Aktiengesellschaft) in Berlin alles entwirft, von Fabrikgebäuden und Arbeiterwohnsiedlungen, über Briefköpfe und Werbeplakate bis hin zu Teekesseln und Ventilatoren.

In den späten 1920er Jahren nimmt die Backsteinarchitektur noch einmal ganz besondere Formen an. Der Backsteinexpressionismus, der vor allem in Deutschland und den Niederlanden bewundert werden kann, nutzt Ziegel, Fliesen oder Klinker, um eigenwillige, ausdrucksstarke Formen und Ornamente zu schaffen. Durch die unterschiedlichen Färbungen von Backsteinen und Klinkern, von Rot und Dunkelbraun über Violett bis hin zu Schwarz, werden Gebäudefassaden mit Mustern versehen. Auch fehlgebrannte Klinker kommen zum Einsatz.

Außerdem bedient sich der Backsteinexpressionismus der eckigen Steinform und schafft reliefartige Wandverzierungen. Damit fungiert er auch als Gegenstück zur zurückgenommenen Neuen Sachlichkeit. Die scharfkantigen, dynamischen Bauten von Fritz Höger stehen stellvertretend für eine Architektur, die Backstein gekonnt in Szene setzt. Neben Industrie- und Wirtschaftsbauten entwirft Höger Kirchen, Hoch- und Rathäuser, Schulen und sogar ein Krematorium.

Diese backsteinbetonten Bauten entstehen zu einer Zeit, in der sich Bauweisen noch einmal stark verändern. Stahlbeton und Glas werden in den kommenden Jahrzehnten zum dominanten Baumaterial, erst der Industriearchitektur und spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg auch des Wohnungsbaus. Die Großsiedlungen, die in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Boden gestampft werden, sind nahezu synonym mit vorgefertigten Betonplatten. Versatzstücke, die es ermöglichen, schnell, einheitlich und relativ preiswert zu bauen.

Heute wird Backstein vor allem zum Schmuck, als sogenanntes Verblendmauerwerk, eingesetzt. Viele Fabrikbauten der Jahrhundertwende stehen heute unter Denkmalschutz. Im Sinne ihrer ursprünglichen Funktion werden sie inzwischen nur noch selten genutzt. Die backstein-dominierte Industriearchitektur erlebt aber trotzdem ein Comeback: Ob als privater Wohnraum, wie die ehemalige Glanzfilm AG in Berlin-Köpenick, als Ort für Kunst und Kultur, wie die Kindl-Brauerei in Berlin, oder wie das ehemalige AEG-Gelände in Berlin-Wedding (heute: Technologie-Park Humboldthain), als Mix aus Forschungsräumen, Gewerbebetrieben und Medienunternehmen. Backsteine aus alten Gebäuden werden wiederverwendet. Ob Baumaterial oder Ornament, Backstein bestimmt inzwischen seit über 9.000 Jahren Struktur und Erscheinungsbild von Wohnräumen und ist damit nicht nur Grundstein der Industriearchitektur, sondern auch menschlicher Siedlungen weltweit.

Quellen

Wikipedia „Mauerziegel“: https://de.wikipedia.org/wiki/Mauerziegel#Geschichte

Planet Wissen: https://www.planet-wissen.de/technik/werkstoffe/beton_der_formbare_stein/index.html

Europäische Route der Backsteingotik: https://www.eurob.org/

Baunetz_Wissen: https://www.baunetzwissen.de/glossar/b/backsteinexpressionismus-1479515 und https://www.baunetzwissen.de/mauerwerk/fachwissen/mauersteine/mauerziegel-162682

Berliner Zentrum Industriekultur: http://www.industriekultur.berlin/

Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kathedralen-der-arbeit.1013.de.html?dram:article_id=172134

Ziegelei Lade, LWL-Industriemuseum: https://ziegelei-lage.lwl.org/de/ausstellungen/in-der-fremde/

stern.de: https://www.stern.de/kultur/buecher/industriearchitektur-in-berlin--kathedralen-der-arbeit-6900036.html

Architekten Scout: https://architekten-scout.com/tag/industriearchitektur

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