Bestand
Lehensprozess König Ferdinands gegen Herzog Ulrich (Bestand)
Historischer Hintergrund: Nach der Rückkehr Herzog Ulrichs in die württembergischen Lande und die Bestätigung seines Besitzes als österreichisches Afterlehen im Kaadener Vertrag 1534 führte Herzog Ulrich von Württemberg in seinem Herzogtum die Reformation ein und schloss sich 1536 dem schmalkaldischen Bund an. Im Zuge des schmalkaldischen Kriegs 1546/47 besetzten spanische Truppen Kaiser Karls V. das Herzogtum und zwangen Herzog Ulrich im Heilbronner Vertrag 1547 zu einer Aussöhnung mit dem Kaiser. Dagegen sah der römisch-deutsche König Ferdinand, später Thronfolger Karls V., als Erzherzog von Österreich in der Teilnahme Herzog Ulrichs am schmalkaldischen Krieg, insbesondere im Angriff auf die zu Österreich gehörige Ehrenberger Klause, eine Verletzung der Lehenspflichten und meldete Ansprüche auf das Herzogtum Württemberg an, die in einem Lehens- bzw. Felonieprozess mündeten.
Prozessverlauf: Im Vorfeld versuchte Herzog Ulrich besonders über die Vermittlung Herzog Wilhelms IV. von Bayern und des eigenen Sohnes Herzog Christoph einen Prozess abzuwenden. Abfindungssummen von 50.000 und 100.000 Gulden schlug der König aus. Mit der Übermittlung der Ladung (Citatio) Herzog Ulrichs durch Kaiser Karl V. am 13. Januar 1548 begann die juristische Auseinandersetzung (ein detaillierter Ablauf bei Seeger, S. 30-34). Diese fand aufgrund der Regimentsordnung von 1521 nicht vor dem Reichskammergericht, sondern vor kaiserlichen Kommissaren statt, richtete sich aber nach dem Positionalverfahren des römisch-kanonischen Zivilprozessrechts (Artikelprozess). Unter dem Vorsitz des Erzbischofs Adolf von Köln berief der Kaiser als Kommissare unter anderem den Bischof von Arras, Antoine Perrenot de Granvelle, Sohn seines Kanzlers Nicolas Perrenot de Granvelle, und seine Räte und Rechtsgelehrten Johannes Marquard und Johannes Colin (Colynus). Der erste Rechtstag fand am 9. Februar 1548 in Augsburg statt und führte zu letzten Vergleichsversuchen. Einreden (Exzeptionen) der württembergischen Anwälte, der Rechtsanspruch des Klägers sei nach den Regelungen im Heilbronner Vertrag erledigt, blieben nach Replik der königlichen Anwälte und eigener Duplik erfolglos. Die württembergischen Anwälte mussten sich durch eine Streitbefestigung (Litiskontestation) am 8. Rechtstag (13. April) auf die Klage einlassen. Anschließend zergliederten Anklage und Verteidigung ihre Anliegen in Artikel: Den Positionalartikeln der königlichen Anwälte stellten die Anwälte Herzog Ulrichs Responsionen entgegen, ihren Defensionalartikeln folgten die Einreden der königlichen Partei. Am 22. Rechtstag (25. Juni) begann ein langwieriges Beweisverfahren unter Vernehmung etlicher Zeugen sowie der Zuordnung ihrer Aussagen zu den jeweiligen Artikeln (Spezifikation), das sich über vier Fristverlängerungen (Dilationen) bis zur Eröffnung der Zeugenaussagen im April 1550 hinzog. Dabei mussten die kaiserlichen Kommissare zum Verhör der Zeugen aus Böhmen, Sachsen, Hessen, Schwaben und dem Elsass teilweise bis an deren Wohnorte reisen. Während dieser Zeit ließ sich Herzog Ulrich Rechtsgutachten von europäischen Universitäten erstellen, darunter Bologna, Pavia, Ferrara, Bourges, Orléans, Poitiers, Basel, Ingolstadt und Tübingen. Kopf der württembergischen Verteidigung war der Tübinger Professor Johannes Sichard, dessen Gutachten, Bedenken und Konzepte sich über den gesamten Verhandlungszeitraum finden lassen. Über die Vermittlung Herzog Christophs befasste sich auch der Basler Professor Bonifacius Amberbach in besonderer Weise mit dem Prozess. Ebenso wurden die Bemühungen um eine gütliche Einigung im Hintergrund weitergeführt. Nach der Überweisung des Prozesses an den deutschen Hofrat im Sommer 1550 und dem Austausch der Probationsschriften bemühten sich die württembergischen Anwälte mittels einer Spolieneinrede erfolglos um einen letzten Aufschub: Demnach hätte der Prozess erst nach den Schadensregelungen wegen der kaiserlichen Besetzungen, zu deren Beweisung sich etliche weitere lokale Gerichtsakten im Bestand finden, fortgesetzt werden können (vgl. Bestand A 87). Nach dem Tod Herzog Ulrichs (6.11.1550) ließ sich König Ferdinand mit dessen Nachfolger Herzog Christoph auf gütliche Verhandlungen ein, die letztlich zur Anerkennung der österreichischen Afterlehensherrschaft bei einer Zahlung von 300.000 Gulden im Passauer Vertrag 1552/53 führten (vgl. Bestand A 89).
Bestandsbeschreibung: Die Unterlagen des Lehensprozesses sind seit dem 16. Jahrhundert als Membrum "König Ferdinands Rechtfertigung" unter dem zweiten Titel "weltlicher Stand" im herzoglichen Archiv überliefert. Eine charakteristische Eigenschaft des Bestandes stellen Mehrfachüberlieferungen und Doubletten dar, die durch Überarbeitungen und neue Kontextualisierungen der Korrespondenzen und Prozessunterlagen entstanden. Ferner ergibt sich aus etlichen Vermerken, dass der Registrator Jakob von Rammingen (1510-1582) wenigstens Teile der bei Herzog Christoph angefallenen Unterlagen aus Mömpelgard im Jahr 1564 der hauseigenen Registratur zugeordnet haben könnte. Dieser ist vermutlich auch Verfasser eines chronologischen Verzeichnisses der Rechtstage und eines Protokollbuchs über die ein- und ausgehenden Schriftstücke, in denen das Signatursystem aus Buchstaben und Symbolen auf den Einzelstücken aufgeschlüsselt wird (vgl. Bü 1). Aus dem Rahmen fallen Abschiede der elässischen Landstände (1542-1558) und Angelegenheiten zu Mömpelgard (1574, 1639), die zu deutlich späterer Zeit protokollarischen Unterlagen der Rechtstage zugeordnet wurden (vgl. Bü 104). Als materielle Besonderheit hat sich ein besiegelter Postsack erhalten, in dem Abschriften von der Universität Bourges an Herzog Ulrich zurückgesendet wurden (vgl. U 1).
Bearbeiterbericht: Die gegenwärtige Ordnung beruht auf der Verzeichnung des Membrums im Jahr 1788 durch Wilhelm Ferdinand Ludwig Scheffer (1756-1826). Hier wurden umfangreichere Büschel gebildet und teilweise Inhaltsverzeichnisse (Acta Directoria) beigelegt. Die Vorsignaturen dieser Verzeichnung reichen bis Bü 92 bei einer geringfügigen Erweiterung bis Bü 95. In späterer Zeit wurden diese Büschel physisch getrennt und unter Ergänzung einiger Nachträge die heutige Signierung (Bü 1-106) angelegt, danach der Postsack als U 1, früher Bü 96, vom Rest des Bestandes separiert und um Bü 82a ergänzt. Seit seiner Neuverzeichnung 2018 in ScopeArchiv ist der Bestand in sechs Rubriken untergliedert. Neue Titelaufnahmen berücksichtigen die mehrbändige Struktur der älteren Verzeichnung, um büschelübergreifende Blattzählungen und Nummerierungen zu erhalten. Ferner wurde der Bestand über Enthält-Vermerke, teilweise mit Hilfe der Inhaltsverzeichnisse, tiefer erschlossen sowie um Bestimmung der Pergamentmakulaturen erweitert.
Literaturhinweise: Heyd, Ludwig Friedrich: Der Frieden, das Elend im Lande und der Rechtsstreit mit König Ferdinand, in: Ders: Ulrich, Herzog zu Württemberg. Ein Beitrag zur Geschichte Württembergs und des deutschen Reichs im Zeitalter der Reformation, Bd. 3, Tübingen 1844, S. 440-505 Hagemann, Hans Rudolf: Bonifacius Amerbach und der württembergische Felonieprozeß, in: Schott, Clausdieter/Petrig Schuler, Eva (Hrsg.): Festschrift für Claudio Soliva, Zürich 1994, S. 109-126 Hartmann, Alfred (Hrsg.): Die Amerbachkorrespondenz, Bd. 1-8, Basel 1942-1974 Press, Volker: Herzog Ulrich von Württemberg (1498-1550), in: Ders.: Adel im Alten Reich, hrsg. Franz Brendle u.a. (Frühneuzeit-Forschungen 4), Tübingen 1998, S. 71-91 Schrempf, Herbert: Württemberg als Rechtsfall. Der Felonieprozeß gegen Herzog Ulrich 1548 bis 1553 im Spiegel der Rechtsgutachten, in: Ludwigsburger Geschichtsblätter 52 (1998), S. 35-46 Seeger, Hermann von: Der Felonie-Prozess gegen Herzog Ulrich von Württemberg, in: Universität Tübingen (Hrsg.): Festgabe zum fünfundzwanzigjährigen Regierungs-Jubiläum seiner Majestät des Königs Karl von Württemberg, Tübingen 1889, S. 3-35
- Bestandssignatur
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Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, A 85
- Umfang
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1 Urkunde, 106 Büschel (6,20 lfd. m)
- Kontext
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Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Archivtektonik) >> Altwürttembergisches Archiv >> Auslesebestände über Auswärtiges >> Kaiser und Reich
- Bestandslaufzeit
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1254 - 1639 (1788)
- Weitere Objektseiten
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- Rechteinformation
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- Letzte Aktualisierung
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20.01.2023, 15:09 MEZ
Datenpartner
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Objekttyp
- Bestand
Entstanden
- 1254 - 1639 (1788)