Archivale

An Bürgermeister und Rat

Regest: Ich +) wurde am 26. November 1612 ins Spital zu etlichen des Rats erfordert und habe alsbald am gleichen Abend die vom Herrn Regierenden Bürgermeister empfangene Instruktion ins Werk gesetzt und berichte folgendes:
Nachdem ich dem Eppersturm zugegangen, auf dem die Agnesa Geyger in Haft lag, hörte ich, daß M. Eusebius kurz zuvor bei ihr gewesen war und ihr am nächsten Morgen das heil. Abendmahl auf mein Begehren zu reichen versprochen hatte. Ich habe eine Vorbereitung darauf begonnen. Dabei waren jedoch der Michel Dettinger, gewesener Zusprecher (= Leichenbesorger), und etliche Buben, die aus dem Spital kamen. Als sie bei uns in dem Stüblein zu lang verharren wollten, hieß ich sie, weil es Essenszeit war, abtreten und in das andere Stüblein zum Essen hinübergehen. Als wir beide allein waren, hat die Geygerin angefangen, sie möchte an mich eine Bitte richten, und ich soll's ihr bei den Händen versprechen. Ich schlug ihr dann die Hand und bekräftigte es hoch und stark, sofern es in meinem Vermögen stünde und der Billigkeit gemäß sei. Darauf sagte sie: "Könnt' ich nicht in eine Totenbahre gelegt werden wie ein anderer Christ?" Ich sprach, sie sollte um den Leib nicht sorgen, sondern wie ihre Seel wohl versorgt würde. Und wenn sie eine gnädige Sentenz (= Urteil) erlangt habe, solle sie nicht weiter begehren. Weil jedoch solches nicht bei mir, sondern bei unserer Obrigkeit stehe, solle sie mir vertrauen, daß ich es den Herren sagen werde, was hiemit geschieht. Darauf fing ich an, jetzt hätte ich eine Bitte an sie. Sie solle mir's nicht abschlagen, weil sie es nicht allein gut könne, sondern auch schuldig (= dazu verpflichtet) sei vor Gott und Menschen. Ich fragte, wie es eine Gelegenheit habe (= wie es stehe) mit der Münsingerin, wie oft sie mit ihr hinausgefahren sei. Sie sagte: "Ich weiß nichts von der Münsingerin, als daß wir einmal an einem Tag 6mal in die Holzbirnen gegangen sind, und der Ihre hat uns die Birnen geschüttelt." Ich sagte: "Habt Ihr aber, als er auf den Baum hinaufstieg, seine Geißfüße nicht gesehen?" Sie sprach: "Auwei (= oh weh), Herr, es ist kein Teufel, sondern ihr leibeigner (= eigener) Mann gewesen. Allein wir sind in verbotene Birnen gegangen, denen von Weil (= Wannweil)." Hier hab ich zwar ihr heftig zugeredet, sie fange an ein Ding zu sagen, schwanke aber und falle bald davon. Ich konnte aber nichts weiter von ihr bringen (= aus ihr herausbringen), als daß sie sagte: Ihr werdet mir ja selbst nicht raten, daß ich etwas auf einen Menschen sagen soll, wovon ich nichts weiß." Ich fuhr fort: "Liebe Agnesa, die Münsingerin ist fürwahr sehr argwöhnisch (= verdächtig), und ich kenne den Teufel auch ein wenig. Sie hat ihre 2 Männer beschädigt und ihre Kinder sind erbärmlich gestorben. Es tut's der Satan nicht anders: es ist nicht möglich, sie hat dazu geholfen, Rat und Tat und Vergiftung dazu getan." Sie antwortete: "Die Münsingerin ist länger zu Betzingen gewesen, als ich da gewohnt hab. Man hat sie im Flecken lang für ein solches Weib gehalten. Ach Gott, ich hab nicht vermeint, daß man so von mir sage und mir so Übles zutraue." Mehr konnte ich an diesem Abend nicht von ihr bringen. Ich befahl sie Gott. Sie befahl mir ihren Schaufel-Martin (= Martin Schaufel?). Ich ging also zur Schmelzin auf der Mauer hinum bei sinkender Nacht mit einem Knaben, der mir vorleuchtete. Weil aber anwesende Personen eben zu Nacht aßen, machte ich einen kurzen Eingang zur Aktion des heil. Abendmahls, welches ich ihr am folgenden Morgen zu reichen versprach, und ging heim.
Am andern Tag ++), Freitag, morgens ist M. Daniel bald bei mir gewesen im Stüblein und hat uns zugehorcht, bis es zur heimlichen Beichte kam. Da ist er abgetreten. Hierauf vermahnte ich sie, damit niemand zu kurz (= unrecht) geschehe und doch das Böse gestraft werde, solle sie rund und mit gutem Bedacht anzeigen, ob sie an allem dem, was sie der Obrigkeit bekannt habe, etwas widerrufen, davontun oder mehr dazusetzen wolle. Ich malte ihr die kurzen Stunden ihres noch restierenden Lebens, dagegen die lange Pein und schwere Rache Gottes vor, wenn sie etwas Unwahrhaftes reden würde, und betete mit ihr auch vorher den Morgensegen und das Vaterunser. Darauf faltete sie ihre Hände oftmals, hob sie gegen den Himmel auf und sprach: "Ich weiß wohl, daß ich nicht mehr viel auf Erden tauge und daß Gott alles weiß." Indem sie aber in ihren Reden fortfahren wollte, fiel ich ihr darein: "Anna, Ihr tauget doch noch soviel auf Erden, daß ihr die Wahrheit befördern und viel Leut aus einem großen Zweifel nehmen könnt, wenn Ihr den ganzen Grund anzeiget." „Ja, sagt sie, lieber Herr, will's Gott, ich will's anzeigen und Euch, meinem Lehrer, nicht aus den Händen gehen, und was ich den Herren gesagt hab, dabei bleib ich. Man hat mich dem Babelin ins Angesicht (= gegenüber) gestellt. Sie leugnet jämmerlich. Ach, was mag (= kann) sie schweren dafür (= wie kann sie es abschwören?), sie weiß gut in ihrem Herzen, daß sie ärger ist als ich. Gott geb es ihr nur auch zu erkennen!" Ich sprach: "Anna, habt Ihr aber ihren Geist nie gesehen, wie er gestaltet ist, oder wisset Ihr nichts davon, daß der Satan einer jeden ein Merkzeichen oder Mal an den Leib pfetzt (= zwickt, kneift) und wenn man die Münsingerin durchsuchte am Leib, meinet Ihr nicht, daß man ein solches Zeichen des Teufels an ihr finden könnte und sie so überzeugen (= überführen)?" Sie antwortete mir: "Ihren Geist hab ich nicht gekannt, weiß auch nicht, daß eine sollte ein Malzeichen am Leib tragen. Ich hab an meinem Leib nichts empfangen. Allein er hat mich oft jämmerlich geschlagen, daß ich froh bin, daß es mit mir dahin gekommen ist, und ich sterbe mit ganzen Freuden. Ich weiß, daß mir der barmherzige Gott wird gnädig sein und mich meine Sünden nicht wird entgelten lassen." Dabei weinte sie sehr heftig. Ich sagte weiter: "Annelin, wenn Ihr tot seid, wird die Münsingerin sagen, Ihr seiet ihr feind gewesen." Da sagte sie noch weinend und mit schneller Antwort: "Nein, sie kann's nicht sagen. Denn ich bin ihr mein Leben lang keine Stund feind gewesen, wie auch der Estetterin nicht." Da sprach ich: "Ich höre, die Estetterin ist auch aus eurer Schar." "Ei, sagte sie, die Herren wissen wohl, was ich bekannt habe, ich will niemand unrecht tun. Es ist erst gestern oder den vorherigen Tag eine lang da unten bei dem Turm umhergezogen, hat oft heraufgeguckt. Was sie aber von mir gewollt oder was sie in dieser Gasse zu schaffen gehabt, kann ich nicht wissen." Weiter machte ich ihr eine namhaft und fragte, ob diese nicht Hexenwerk treibe. Sie lächelte ein wenig und sagte: "Ich weiß weger (= wahrhaftig) nicht, Herr Pfarrer. Aber das Babele ist gar zu hartnäckig, sie sollt's nicht tun. Ich hab anfangs auch nichts bekennen wollen. Ich wollte jetzt nicht, daß es anders wäre." Und zum Überfluß, um wohl zu erkundigen (= herauszubekommen), ob es ein Neid (= Haß, Feindschaft) wäre oder ob sie aus Gunst etwas verschweigen wolle, sagte ich zu ihr: "Anna, vielleicht werden die Herren die Münsingerin wieder laufen lassen. Wenn Ihr mir mehr Weiber namhaft machen wollt, will ich sie in Eurem Namen warnen, daß sie bei Zeiten ausreißen." Aber sie sprach: "Es gilt mir gleich, ob man sie laufen läßt oder nicht. Was ich an der Wag (= Spannvorrichtung, Folterwerkzeug) den Herren bekannt habe, darauf will ich den bitteren Tod willig leiden, daß ich keinem Menschen unrecht tue. Doch möchte ich keine warnen. Es dürfte (= könnte) ihnen wohl von Nutzen sein, daß sie hier litten, wie ich hoffe, Gott werde mir die ewige Seligkeit geben." Schließlich sagte ich: "Anna, es heißt dies die heimliche Beicht, und was ich mit Euch geredet, weil es niemand gehört hat als Gott und wir beide, so bin ich schuldig, solches alles zu verschweigen. Sofern es aber Euch nicht zuwider ist, so darf ich es unserer Obrigkeit anzeigen." "Ei, warum nicht, sagte sie, ich trag dessen keine Scheu. Was ich geredet hab, dabei bleib ich bis in den bitteren Tod, will auch heut, will' Gott, fröhlich darauf sterben."
Darauf rief ich M. Daniel und andere, die abgetreten waren. Wenn sie mit uns beten wollen, sollen sie zu uns in das Stüblein kommen. Ich fuhr dann fort mit Reichung des hochwürdigen Abendmahls.

Reference number
A 2 f (Hexenprozesse) Nr. A 2 f (Hexenprozesse) Nr. 7749
Formal description
Beschreibstoff: Pap.
Further information
Zeugen / Siegler / Unterschriften: M. Christoph Ensslin, Diener am Wort allhie zu Reuttlingen +++)

Bemerkungen: +) Ausnahmsweise ist in diesem Regest die Ich-Form des Originals beibehalten und nicht wie sonst in die 3. Person umgesetzt.
++) auf dem Rand: Was die Schmelzin belangt
+++) Über Ensslin vgl. RGB 1900 S. 71 ff., 1901 S. 1 ff. Th. Schön sagt dort (1901 S. 2): "Er wurde 1616 (nicht 1610) Pfarrer." Nach obigem Schriftstück ist er aber jedenfalls schon 1612 Geistlicher in Reutlingen gewesen.

Genetisches Stadium: Or.

Context
Reichsstädtische Urkunden und Akten (Bde. 23-25) >> Bd. 23 Hexenprozesse
Holding
A 2 f (Hexenprozesse) Reichsstädtische Urkunden und Akten (Bde. 23-25)

Date of creation
1612 November 26, Tag St. Conrads

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Last update
20.03.2025, 11:14 AM CET

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Object type

  • Archivale

Time of origin

  • 1612 November 26, Tag St. Conrads

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