Bestand

Amtsgericht Cannstatt/Stuttgart II (Bestand)

Überlieferungsgeschichte
Der Amtsgerichtsbezirk Cannstatt war bis 1905 identisch mit dem Oberamt Cannstatt, danach blieben die Gemeinden Cannstatt, Untertürkheim und Wangen trotz ihrer Eingemeindung nach Stuttgart beim Amtsgerichtsbezirk Cannstatt.
Nach der Auflösung des Oberamts Cannstatt wurde durch Verordnung des Staatsministeriums vom 22.02.1924 eine Neuaufteilung der Amtsgerichtsbezirke vorgenommen (Reg.blatt 1924 S. 71). Anstelle der Amtsgerichte Stuttgart, Stuttgart-Amt und Cannstatt traten:
1) das Amtsgericht Stuttgart I (zuständig für die Stadt Stuttgart ohne Cannstatt, Obertürkheim und Untertürkheim und das Amtsoberamt Stuttgart ohne Feuerbach);
2) das Amtsgericht Stuttgart II (Großteil des früheren Amtsgerichtsbezirks Cannstatt mit dem beim Bezirk Stuttgart-Amt gewesenen Ort Feuerbach, ohne die an die Oberämter Waiblingen und Esslingen gefallenen Orte Oeffingen, Rommelshausen, Schmiden, Stetten i.R. und Schanbach).
Als 1931 Zuffenhausen und 1942 Stammheim eingemeindet wurden, fielen diese Stadtteile trotz ihrer räumlichen Entfernung an den Amtsgerichtsbezirk Stuttgart I.

Inhalt und Bewertung
Der Bestand enthält zum einen einen sehr kleinen Teil älterer Straf- und Zivilsachen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zum anderen aus den Zugängen vom 14.12.1979 und 04.11.1988 stammende Akten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit mit dem typischen Aktenzeichen "GR". Die "GR-Akten" stellen mit über 3000 Einzelfällen aus dem Zeitraum 1908-1945 eine äußerst reichhaltige Überlieferung für den Amtsgerichtsbezirk Cannstatt dar (s. Anmerkung unten). Das Amtsgericht hatte die Akten mit Aktenzeichen GR nach Rechtsbereichen in seiner Registratur bereits vorgeordnet, so dass bei der Endbearbeitung diese Sachgruppen im Wesentlichen beibehalten werden konnten und daher von der klassischen Sortierung rein nach Aktenzeichen ausnahmsweise abgesehen wurde. Hervorzuheben ist die Vielzahl an Fürsorgesachen, Sorgerechtssachen, Annahmen an Kindesstatt (oft zusammenhängend mit einer entspr. Vormundschaftssache) sowie die Ehesachen - in Kriegszeiten besonders viele Befreiungen vom Aufgebot. Die Geschäftsregister für die Fälle der Freiwilligen Gerichtsbarkeit sind von 1885-1927 überliefert.
Todeserklärungen für die Zeit des 1. Weltkriegs sind keine vorhanden, lediglich einige Fälle aus der Zeit des 2. Weltkriegs. Die zahlreichen Todeserklärungen nach 1945 befinden sich in Bestand FL 300/37.
Aus dem Zugang 2014/116 des Amtsgerichts Bad Cannstatt wurden 2 lfd. m Akten mit Laufzeit vor 1945 abgetrennt und dem vorliegenden Bestand zugeteilt. Es handelte sich vor allem um Fürsorgeerziehungssachen und einige wenige Verwaltungsakten. Im Rahmen eines studentischen Praktikums bearbeitete Christine Fröhlich von Juli bis August 2015 die Fürsorgesachen der Jahrgänge 1914 sowie 1926-1930 (Bü 1300-1390).
Der Hauptteil des umfangreichen Gerichtsbestandes wurde ab August 2014 durch Christiane Schöttler bearbeitet, die das Erschließungsprojekt nach Beendigung des Zeitarbeitsvertrages dankenswerterweise noch einige Monate in ehrenamtlicher Arbeit weiterführte und im August 2016 abschloss. Die Klassifikation und Endredaktion des Findmittels übernahm die Unterzeichnete. Kassiert wurden etwa 50 Akten mit erheblichem Schimmelbefall sowie stark verschmutzte Aktenumschläge.
Ludwigsburg, im November 2016
Ute Bitz Die folgende Anmerkung zum Quellenwert der in besonderer Geschlossenheit überlieferten Akten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (GR-Akten) stellte Frau Christiane Schöttler zusammen:
Der Bestand spiegelt das Leben der unteren Bevölkerungsschichten vom ausgehenden Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wider. Die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Menschen, die von zwei Weltkriegen und der Weltwirtschaftskrise heimgesucht wurden, waren geprägt durch Armut, beengte Wohnverhältnisse und unzureichende medizinische Versorgung. Auffällig sind die in den Standesamtssachen enthaltenen zahlreichen Berichtigungen der Sterbeanzeigen von Kleinkindern und Säuglingen ebenso wie die unzähligen Befreiungen vom Aufgebot zur Zeit des 1. Weltkriegs.
Kultur- und rechtsgeschichtlich verdeutlichen die Akten die damals völlig andere moralische Bewertung zerrütteter Familienverhältnisse, psychischer Probleme und erzieherischer Defizite. Dies manifestiert sich u.a. im damals angewandten Jugendstrafrecht und im Scheidungsrecht nach dem Schuldprinzip. In den umfangreichen Akten der Fürsorgeerziehung fällt meist der Begriff "sittliche Verwahrlosung". Nach einer Scheidung waren Schuld und Unschuld wesentliche Kriterien für die Übertragung des Sorgerechts (alter Paragraph 1635 BGB).
Die Zuordnung der einzelnen Fälle zu den Rechtsbereichen war innerhalb der einzelnen Zugänge in keiner Weise stringent. Dies liegt an der Doppelwertigkeit einzelner Fälle. Beispielsweise kann eine Befreiung vom Aufgebot als Ehesache gesehen werden, stellt aber auch einen standesamtlichen Verwaltungsakt dar.
Im Zweifelsfall sollte immer über die Volltextsuche recherchiert werden.

Reference number of holding
Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg, F 260 I

Context
Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Ludwigsburg (Archivtektonik) >> Untere Verwaltungsbehörden 1806-um 1945 >> Geschäftsbereich Justizministerium >> Amtsgerichte

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18.04.2024, 10:40 AM CEST

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