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Am Kamin

Menzels späte historische Darstellungen – stets in Kabinett-Formaten und viel öfter in Gouache als in Ölfarben ausgeführt – sind wieder, wie die allerersten (vgl. »Der Gerichtstag«, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 896) im Alltag des 17. Jahrhunderts angesiedelt. Ihre anekdotische, nicht selten satirisch akzentuierte Handlung folgt keiner historischen oder literarischen Vorlage. Im Vergleich zu Gesellschaftsstücken des holländischen ›Goldenen Zeitalters‹ zeigt sich eine viel analytischere, individuellere, momentanere Schilderung der Charaktere. Unschwer zu deuten ist die Kaminszene mit ihrer im Halbdunkel zwischen den Kulissen von Kamin und Sesselkante gezwängten, bis in die vorderste Bildebene vorstoßenden Figurengruppe. Der ursprüngliche Titel lautete »Überrumpelung«, und man errät, daß das ängstlich hinter die Sessellehne zurückweichende Fräulein verheiratet werden soll. Die Mutter redet heftig auf ihren zögernden Gatten ein, dessen schräg in den Vordergrund eingelagerte Silhouette irritierenderweise aus einer Hauptfigur zu einer anonymen Grenzbezeichnung wird. Der offenbar ungeliebte Bräutigam stochert mit dem Schüreisen im Kamin. Ist er ein Bürger, der in den Adel hineinheiraten will? In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges kann sich das neureiche Großunternehmertum der Gründerzeit wiedererkennen. Dieser ironische Bezug zur Gegenwart spiegelt sich werkimmanent in einer dem »Eisenwalzwerk« (1872–1875, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 201) verwandten malerischen Aufgabe: dem Wechsel von kühler zu warm-roter Farbstimmung. Während von dem altertümlichen Butzenfenster, welches das Außenlicht rot und gelb filtert, wenigstens ein Stück sichtbar wird, bleiben die zwei wesentlichen Lichtquellen unsichtbar: das in seinem roten Widerschein erkennbare Kaminfeuer und, in scharfem Farbkontrast dazu, das Tageslicht, das von rechts aus einem nahen Fenster (außerhalb des Bildes) einfällt. Es trifft auf Kragen und Kleidung der Damen, während sich am weißen Kragen des Herrn am Kamin der Übergang aus der einen in die andere Beleuchtungssituation vollzieht. Aufs sparsamste und zarteste tritt im zwiefarbenen Gegenlicht des Hintergrundes der Diener aus der rotbraunen Untertuschung heraus. So läßt sich das Bildchen auch als ein travestierender Nachtrag zum »Eisenwalzwerk« lesen. | Claude Keisch

Vorderseite | Fotograf*in: Andres Kilger

Public Domain Mark 1.0

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Material/Technik
Öl auf Leinwand
Maße
Höhe x Breite: 29 x 23 cm
Rahmenmaß: 44 x 39,5 x 4,5 cm
Standort
Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
Inventarnummer
FNG 94/03

Ereignis
Erwerb
(Beschreibung)
2003 Ankauf durch den Verein der Freunde der Nationalgalerie
Ereignis
Herstellung
(wer)
(wann)
1876

Letzte Aktualisierung
08.08.2023, 11:02 MESZ

Objekttyp


  • Bild

Beteiligte


Entstanden


  • 1876

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