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Räumliche Aspekte von Transformationsproblemen aus systemtheoretischer Perspektive

Der mit dem Topos "Transformation von Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen" axiomatisch angenommene Unvereinbarkeit sozialistischer und marktwirtschaftlicher Strukturen ist aus raumwissenschaftlicher Sicht nicht nachvollziehbar. Zum einen gibt es in Wirtschaftsgeographie und Infrastrukturtheorie eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten und Berührungspunkten, die man für den konstruktiven Systemumbau nutzen kann. Zum andern benötigt der Umbau selbst eine räumliche Infrastruktur. Und zum dritten brauchen Wissenschaftler und Planer Lösungskonzepte und Instrumentarien, mit denen sie räumliche Koordinations- und Steuerungsprobleme lösen können, die während der immer wieder verlängerten Transformationsphase auftreten. Die Art und Weise, wie räumliche Kalküle in den Transformationsablauf (West-Ost) eingebaut und umgesetzt werden, ist in vieler Hinsicht entscheidend für den Gesamtprozess: Der Erfolg beim Aufbau einer adressräumlichen Infrastruktur bestimmt, ob Unternehmen miteinander in Wettbewerb treten können oder nicht. Ergänzungsräumliche Logistik bestimmt darüber, welche Regionen als Beschaffungs-, Produktions- und/oder Absatzgebiete infrage kommen. Administrativräumliche Disaggregation entscheidet über die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit politisch-juristischer Regulierung und Sanktionen für marktdestruktives Verhalten. Die politische Konstitution neuer Vaterländer kann nach außen hin als akzeptabel (Russland gegenüber Tschteschenien) oder inkompatibel (Serbien gegenüber Kosovo) rezipiert und entsprechend bekämpft werden. Der emotionale Rückzug vor der Undurchsichtigkeit von Transformationsprozessen auf Heimat und/oder Mesoregion kann marktwirtschaftsnah oder -fremd akzentuiert sein. Die Ergebnisse bisheriger Transformationsprozesse lassen vielerorts zu wünschen übrig. Die Organisationsvorteile und räumlichen Strategien westlicher Produzenten und Vermarkter bei der Angebotsdiffusion wurden unterschätzt. In vielen Branchen, vor allem in Ostdeutschland und in den GUS-Ländern, eskalierte ein Verdrängungswettbewerb, der die eigenen Volkswirtschaften in Peripherien für Westeuropa und Ostasien transformierte. Andererseits erwiesen sich einige wenige sowjetische monopolistische Ministerialkonzernstrukturen als weltmarktkongruent. Im Energie- und Rohstoffbereich braucht offenbar nicht allzu viel transformiert werden. Die Schwächung der staatlichen Verwaltung in den ärmeren Transformationsstaaten durch Auflagen internationaler Kreditgeber zur Verringerung der Staatsquoten hat sich in einer Zerstörung der Infrastruktur- und Sozialsysteme niedergeschlagen, so dass in der GUS große Bevölkerungsteile der Verelendung preisgegeben sind. Das ursprünglich ökonomisch rational angelegte Transformationskalkül ist längst durch Realpolitik kompromittiert und als Umsetzungsziel auf unabsehbare Zeiten verschoben worden. Die positiven Transformationseffekte (Transfer von Kapital, Arbeitskraft und politischer Macht - durch Destruktion der Gegenmächte in Osteuropa häufen sich in Westeuropa und den USA. Dort stützt der Transformationsimperativ für Osteuropa) die "Richtigkeit" und Überlegenheit des eigenen Systems. Um Transformation in Osteuropa überlebensfähig zu halten, wird sie vielerorts mit nationalistischem Gedankengut im Rahmen von "Vaterlands"-propaganda kultiviert (vgl. Abb. 7). Im Rahmen der wissenschaftliche Arbeit hat Transformation dazu beigetragen, dass wir heute mehr als je zuvor über sozialistische Realsysteme wissen. Im übrigen ist das Transformationskalkül weder als geschlossenes gesellschaftliches Zielsystem, was es immer sein wollte und nirgends wurde, noch als Problemselektor für die wissenschaftliche Arbeit tragbar. Man kann Steuerungsprobleme in postsozialistischen Ländern heute nicht mehr auf Sozialismus als Ganzes zurückführen. Man muss sie als "normale" makro-, meso- und mikroregionale Infrastruktur- und Koordinationsprobleme ernst nehmen und als solche bearbeiten - wie in anderen Ländern auch.

Räumliche Aspekte von Transformationsproblemen aus systemtheoretischer Perspektive

Urheber*in: Klüter, Helmut

Rechte vorbehalten - Freier Zugang

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Weitere Titel
Spatial aspects of transformation problems from a system-theoretic perspective
ISSN
0943-7142
Umfang
Seite(n): 35-51
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Status: Veröffentlichungsversion; begutachtet

Erschienen in
Europa Regional, 8.2000(3/4)

Thema
Städtebau, Raumplanung, Landschaftsgestaltung
Soziologie, Anthropologie
Raumplanung und Regionalforschung
Soziologie von Gesamtgesellschaften
Wirtschaftssoziologie
Transformation
Systemtheorie
Osteuropa
Forschung
Raum
Theorie
Wirtschaft
Bruttoinlandsprodukt
Sozialgeographie
DDR
Wirtschaftsstruktur
regionaler Vergleich
öffentlicher Haushalt
politisch-administratives System
Verwaltung
Südosteuropa
Ostmitteleuropa
postsozialistisches Land
Nationalismus

Ereignis
Geistige Schöpfung
(wer)
Klüter, Helmut
Ereignis
Veröffentlichung
(wo)
Deutschland
(wann)
2000

URN
urn:nbn:de:0168-ssoar-48272-7
Rechteinformation
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Bibliothek Köln
Letzte Aktualisierung
21.06.2024, 16:26 MESZ

Datenpartner

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Objekttyp

  • Zeitschriftenartikel

Beteiligte

  • Klüter, Helmut

Entstanden

  • 2000

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