Archivale

An Bürgermeister und Rat der Reichsstadt Reuttlingen

Regest: Aus den überschickten Akten haben die Unterzeichneten entnommen, wie die im Spital bisher verwahrte Margaretha, Tochter des Schultheissen Jacob Schirm zu Betzingen, sich dem Teufel (Gott behüt uns!) ergeben, Gott abgesagt, auch in ihrer Haft Hexenwerk erwiesen hat, und dass trotz mühsamer und kostbarer (= teurer) Anstalten, damit das Töchterlein täglich in die Kirche geführt, zum Gebet und Anhörung des Wortes Gottes angehalten werde, keine Besserung zu verspüren, sondern je mehr Fleiss angewendet und mit Singen und Beten angehalten wird, desto härter dem Mägdlein vom bösen Geist zugesetzt werde, sodass es während der Haft zum zweitenmal sich mit Leib und Seel dem bösen Feind als eigen ergeben musste. Daher haben die Herren ein rechtliches Gutachten begehrt, wie solches zu strafen oder dies gefährliche Hexenwerk weiter anzugreifen sei.
Die Unterzeichneten haben die wichtige Sache in ihrem versammelten Collegium fleissig (= eifrig) beraten. Sie können aber gar nicht dahin schliessen (= den Schluss ziehen), dass das erbärmliche (= bemitleidenswerte) Mägdlein noch zur Zeit zum Tod oder einer anderen scharfen Straf zu verdammen sei.
Denn obwohl es das Ansehen haben könnte, dass nunmehr nach der wiederholten Verleugnung Gottes dies Töchterlein nach seinem eigenen Begehren ab der Welt zu schaffen, auch dabei für seiner Seele Seligkeit mehr Hoffnung zu schöpfen sei, weil es täglich mille fraudibus et insultibus diaboli obnoxia (= tausenderlei Betrug und Beschimpfungen des Teufels ausgesetzt) nur elender, böser und verstockter werden kann, erinnern wir uns, dass bei so jungen, unverständigen Jahren, ehe noch Delicta erfolgen, mehr mit Erbarmen als mit der Todesstraf vorzugehen ist. (Es folgt nun ein längeres lateinisches Zitat aus einer Schrift des Rechtsgelehrten Binsfeld, der widerrät, vor vollendetem 16. Lebensjahr die Todesstrafe zu verhängen).
Diese Meinung ist im gegenwärtigen Fall um so mehr zu ergreifen, weil aus den Akten nicht zu entnehmen ist, dass dieses Töchterlein einen actus veneficii (= Versuch mit Gift) unternommen, Menschen oder Vieh beschädigt, ein homicidium (= einen Mord) beabsichtigt, viel weniger ins Werk gesetzt, sondern ein solches auch auf seines Geists Zumuten unterlassen hat, also von Rechts wegen auf den Tod weder angeklagt noch zum Tod verurteilt werden kann.
Obwohl die erwähnte abnegatio (= Verleugnung, Absage), praesertim reiterata (= zumal in der Wiederholung), das schrecklichste Laster auf der Welt ist, kann man es doch bei einem so jungen Töchterlein, welches besorglich (= wie zu befürchten ist) sein foedus cum Deo (= seinen Bund mit Gott) noch nie recht verstanden hat, nicht für todeswürdig ansehen (Hinweis auf Schrift des Joh. Harprecht).
Man ist auch bei den Theologen und Juristen nicht einig, ob alle Apostasia a Deo (= Abfall von Gott) - si illa fuerit simplex, sine attentatis scilicet homicidiis (= an sich, natürlich ohne Mordversuche) - von der weltlichen Obrigkeit mit dem Tode bestraft werden kann, weil dafür in der heiligen Schrift kein directum et satis clarum mandatum (= kein direkter und hinreichend klarer Auftrag) zu finden ist. Obwohl man die Stelle 2. Mose Kap. 22 - "Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen" - entgegensetzen will, so ist doch bekannt, dass sowohl in diesem als auch etlichen anderen mosaischen Gesetzen im Hebräischen solche Wörter gebraucht werden, in deren Interpretation die Gelehrten nicht einer Meinung sind, was eigentlich für ein peccatum darunter zu verstehen sei ... Dass aber die Apostasia gemeint sei, wird nach Meinung der Gelehrten gar schwerlich sich daraus erweisen lassen. So ist auch sonst eine allgemeine Rechtsregel, dass in dubio semper mitior pars rigori praeferenda sit (= im Zweifelsfall immer die Milde der Strenge vorzuziehen sei) ...
Zudem wenn man jeden Abfall von Gott mit dem Tod strafen sollte, so würde gewiss solche Todesstraf nicht allein bei der Apostasia in der Hexerei ihr Verbleiben haben, sondern viel weiter ausgedehnt werden müssen. Das zu prakticieren haben jedoch christliche Obrigkeiten bisher nicht mit Unrecht Bedenken getragen und tragen es noch.
So sind auch solche schreckliche Apostasiae und Abnegationes Dei (= Verleugnungen Gottes) bei diesen elenden Leuten nicht einerlei (= von einer Art). Deswegen sind sie auch nicht mit gleicher Straf zu belegen. Denn wie Urgichten zu erkennen gegeben haben, müssen sich etliche dahin verbinden (= dazu verpflichten), Gottes und aller Kreaturen abgesagte Feinde zu sein und denselben nach äusserstem Vermögen Schaden zuzufügen. Etliche aber haben auf ihre Seligkeit unbedächtlich verzichtet und sind ein solches Votum (= Gelübde), Schaden zu tun, nicht eingegangen. So ist auch ein Unterschied zwischen denen, die sich Schaden zu tun verbunden und solches auch bereits getan haben, und denen, die sich zwar bereits dazu verpflichtet, aber noch kein solches Factum begangen haben. Desgleichen ist ein merklicher Unterschied zwischen denen, welche sich auf Erinnerung (= Mahnung) ihr Votum leid sein lassen, nicht Schaden getan, auch niemand Schaden zu tun zugesagt haben, und denen, welche auf alles bewegliche Zusprechen dennoch von keiner Rescission (= Aufhebung) des Gelübdes hören wollen, sondern auf ihrer teuflischen Bosheit verharren, über welche die weltliche Obrigkeit das ius gladii (= Recht des Schwertes) mit Recht auszuüben hat ...
Bei diesem elenden und erbärmlichen (= bemitleidenswerten) Töchterlein findet sich keine solche Verbindung (= Verpflichtung), Menschen oder Vieh zu beschädigen und ist auch davon kein Faktum vorhanden. So sehen wir auch nicht aus ihrer Antwort auf die peinliche Klag, dass des Töchterleins Abnegatio (= Verleugnung Gottes) so contumax (= störrisch) und refractaria (= widerspenstig) sein sollte, dass sie todeswürdig erscheinen könnte, indem wir vernehmen, dass Margaretha Gott und die Obrigkeit um Verzeihung und dass ihr doch durch christliche Mittel geholfen werden möchte, ganz eifrig gebeten hat. Dass sie aber erklärt, auf jeden Fall zu sterben willig zu sein nur um dieser Pein entledigt zu werden, ist leicht zu glauben, nachdem sie in dem geringen Alter von nur 8 Jahren von ihrer Base verführt, seither vom bösen Geist übel geplagt worden und in beständiger Qual und Todesgefahr gesteckt ist. Sie ist daher unter die Personen zu rechnen, die aus Lebensüberdruss zu sterben eilen, welche man aber nicht alsbald auf ihr Begehren tötet, sondern mit besserer Information ihnen zu Hilf kommen und sie aus Gottes Wort aufzurichten schuldig ist. (Es folgen lateinische Zitate aus Godelmann und Harpprecht).
Was dann den eingestandenen concubitum cum Daemone (= Beischlaf mit dem bösen Geist) betrifft, so weiss man wohl, quod ille concubitus realis esse non possit, sed pure et mere deceptorius sit (= dass jener Beischlaf in Wirklichkeit nicht stattfinden kann, sondern eine reine Täuschung ist), weil ein Geist keinen Leib hat und also auch opera corporis (= körperliche Handlungen) nicht verrichten kann, sondern es nur teuflische Täuschungen sind. Der Teufel kann mit anderen Mitteln die titillationes carnis (= sinnlichen Reizungen) erregen, aber einen solchen congressum (= Geschlechtsverkehr) nicht verrichten.
Die Unterzeichneten haben mit den Herren ein sehr bedauerliches (= bedauerndes) Mitleiden und möchten wünschen, dass sie dieser schweren Last entbunden würden. Weil sie jedoch die Todesstraf nicht für richtig finden können und nach ihrer Meinung zu bewerkstelligen ist, das Töchterlein an Leib und Seele wiederzugewinnen, so erachten sie, dass die gemachte Anstalt (= getroffene Massregel) im Spital in der Weise fortzusetzen sein werde, dass das Töchterlein im Spital keinmal allein gelassen, sondern einer gottseligen Person untergeben, zu fleissigem Beten, Kirchengehen und strengem Arbeiten - quandoquidem vita solitaria circa hosce homines periculosissima est et otium pulvinar Satanae dicitur (= weil einsiedlerisches Leben bei diesen Menschen höchst gefährlich und Müssiggang Polstersitz des Satans genannt wird) - dauernd angehalten und Pfarrern, Seelsorgern und Predigern befohlen wird, das Mägdlein fleissig zu unterrichten in der Gottesfurcht und wie es dem Satan zu widerstehen hat. Dabei wird das öffentliche, gemeinsame Gebet in der Kirche für das Mägdlein nicht wenig Frucht schaffen. Es sollten auch die geistlichen Personen, welche die Margaretha täglich besuchen werden, ihr anfangs aus der heiligen Schrift ernstliche Buss predigen und ihr berichten (= erklären), wie heftig sie den allmächtigen Vater und die ganze heilige Dreifaltigkeit durch die Hexerei erzürnt und beleidigt hat, was für unaussprechliche grosse Strafen der ewigen Verdammnis darauf gesetzt sind. Nachher werden die Geistlichen nach ihrer Discretion (= ihrem Ermessen) und Erzeigung der Margaretha dieser wieder Trost und die evangelische Predigt gebührlich vorzuhalten wissen.

Archivaliensignatur
A 2 f (Hexenprozesse) Nr. A 2 f (Hexenprozesse) Nr. 7775
Umfang
7 S.
Formalbeschreibung
Beschreibstoff: Pap.
Sonstige Erschließungsangaben
Zeugen / Siegler / Unterschriften: Decanus und andere Doctores der Juristen-Fakultät der Universität Tübingen

Siegel (Erhaltung): auf der Rückseite Papiersiegel

Genetisches Stadium: Or.

Kontext
Reichsstädtische Urkunden und Akten (Bde. 23-25) >> Bd. 23 Hexenprozesse
Bestand
A 2 f (Hexenprozesse) Reichsstädtische Urkunden und Akten (Bde. 23-25)

Laufzeit
1637 Dezember 3

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Letzte Aktualisierung
20.03.2025, 11:14 MEZ

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  • Archivale

Entstanden

  • 1637 Dezember 3

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