Forschungsbericht | Research report

Hat Kasachstan ein "Russisches Problem"? Revision eines Katastrophenbildes

'Die Republik Kasachstan wurde vom Beginn ihrer Unabhängigkeit im Dezember 1991 an als potentielle Konfliktregion wahrgenommen, in der ethnische Zusammenstöße zwischen dem neuen Staatsvolk der Kasachen und der zahlenmäßig fast ebenso großen Gruppe der Russen zu befürchten waren. Entsprechend aufmerksam und kritisch sind die Vorgänge in dem zentralasiatischen Land und die Nationalitätenpolitik seiner Regierung beobachtet worden. In nunmehr sechs Jahren seiner Eigenstaatlichkeit hat es in Kasachstan bei sich verschlechternden ökonomischen Verhältnissen wider Erwarten keine nationalen Zusammenstöße gegeben. Die Regierung Kasachstans wird aber von westlichen und Moskauer Medien immer wieder kritisiert, weil in ihrem Land seit der Unabhängigkeit die Russen gesetzlich, politisch und sozial benachteiligt und verfolgt würden. Die Emigration der Russen wird als Beleg dafür angeführt. Die genauere Betrachtung der nationalitätenpolitischen Verhältnisse zeigt aber, daß diese Wahrnehmung den Kern der tatsächlichen inneren Probleme des Landes nicht trifft. Sie liegen weniger in einer gegen die Russen gerichteten, gezielten Kasachisierungspolitik, als in einem Demokratiedefizit. Die herrschende Elite hat das angebliche Nationalitätenproblem des Landes benutzt, um mit autoritären Maßnahmen die eigene Herrschaft abzusichern. Diese Politik ist aber nicht, wie Regierungskreise in Almaty behaupten, die Erklärung für die bisherige relative Ruhe zwischen den Nationalitäten des Landes. Im Gegenteil führte ungeschicktes und autoritäres Vorgehen der Regierung zu mangelnder Akzeptanz gesetzlicher Maßnahmen, zu Benachteiligungsgefühlen der russischen Bevölkerung und zur Eskalation in der Auseinandersetzung mit regierungskritischen, nationalistischen Gruppierungen. Tatsächlich waren und sind die zwischennationalen Verhältnisse in Kasachstan nicht so angespannt, wie von kasachstanischen Regierungskreisen, aber auch von Moskauer und westlichen Medien und Wissenschaftlern behauptet wird. Zum einen beruht das darauf, daß in Kasachstan die Kasachisierung in Aufstiegs- und Führungspositionen bereits vor 1991 weit fortgeschritten war. 1991 war für die nichtkasachische Bevölkerung in dieser Hinsicht kein entscheidender Wendepunkt. Die Kasachen drangen, dank der Politik D. Kunaevs bereits seit Ende der siebziger Jahre, immer stärker in Führungspositionen vor. Dieser Trend verstärkte sich nach 1991 zwar, wurde von den Betroffenen aber nicht als totale, sondern nur als graduelle Veränderung erlebt. Vor allem aber trägt die Gesellschaft Kasachstans die Züge einer 'plural society', das heißt, daß die bisher so stark beachtete nationale Spaltung nur eine von vielen weiteren ist. Auch die Kasachen sind keine monolithische Gruppe, sondern historisch, regional und sozial gespalten, was eine einheitliche kasachische Politik und Interessenvertretung unmöglich macht. Ganz im Gegenteil fallen die Interessen der heute regierenden kasachischen Elite in vielen Punkten mit denen der russischen Stadtbevölkerung zusammen, während ihnen die der kasachischen Marginalen entgegengesetzt sind. Die soziale und nicht die nationale Spaltung der Gesellschaft (Stadt - Land, arm - reich) nimmt zur Zeit zu und wird in Zukunft das entscheidende Konfliktpotential des Landes darstellen, ohne daß grundsätzliche Lösungsvorstellungen auf Regierungsebene erkennbar wären. Auf der zwischenstaatlichen Ebene im Verhältnis zwischen der Russischen Föderation und der Republik Kasachstan stellt das Problem der Russen in Kasachstan ein wesentlich geringeres Konfliktpotential dar, als ursprünglich angenommen. Die realpolitischen Interessen beider Regierungen im Umgang mit dieser Bevölkerungsgruppe fallen weitgehend zusammen: der jetzige Status quo soll erhalten bleiben, Emigrantenströme oder Grenzveränderungen liegen weder im kasachstanischen noch im russischen Interesse.' (Autorenreferat)

Hat Kasachstan ein "Russisches Problem"? Revision eines Katastrophenbildes

Urheber*in: Eschment, Beate

Rechte vorbehalten - Freier Zugang

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Weitere Titel
Does Kazakhstan have a "Russian problem"? Revision of a disaster scenario
Umfang
Seite(n): 128
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Status: Veröffentlichungsversion; nicht begutachtet

Erschienen in
Sonderveröffentlichung / BIOst (Feb. 1998)

Thema
Staatsformen und Regierungssysteme
Soziologie, Anthropologie
Staat, staatliche Organisationsformen
Soziologie von Gesamtgesellschaften
Bevölkerungsentwicklung
Zentralasien
sozialer Konflikt
Demokratie
Russland
ethnischer Konflikt
Auswanderung
Sprache
Sprachenpolitik
postsozialistisches Land
Benachteiligung
bilaterale Beziehungen
Russe
Kasachstan
Entwicklungsland
nationale Identität
soziale Ungleichheit
UdSSR-Nachfolgestaat
politischer Konflikt
Stadt-Land-Beziehung
ethnische Beziehungen
deskriptive Studie

Ereignis
Geistige Schöpfung
(wer)
Eschment, Beate
Ereignis
Veröffentlichung
(wer)
Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien
(wo)
Deutschland, Köln
(wann)
1998

URN
urn:nbn:de:0168-ssoar-44360
Rechteinformation
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Bibliothek Köln
Letzte Aktualisierung
21.06.2024, 16:26 MESZ

Datenpartner

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Objekttyp

  • Forschungsbericht

Beteiligte

  • Eschment, Beate
  • Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien

Entstanden

  • 1998

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