Onleihe und virtueller Museumsbummel. Das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe im 21. Jahrhundert - Ein Beitrag von Ellen Euler und Thomas Dreier
Die erste Publikation der Deutschen Digitalen Bibliothek „Der Vergangenheit eine Zukunft – Kulturelles Erbe in der digitalen Welt“ erschien im März 2015. Mit Beiträgen unterschiedlicher Fachautoren thematisiert der von Paul Klimpel und Ellen Euler herausgegebene Sammelband Aufgaben und Rahmenbedingungen, denen sich Gedächtnisinstitutionen wie Museen, Bibliotheken oder Archive bei der Digitalisierung des kulturellen Erbes stellen.
Sukzessive veröffentlicht die Deutsche Digitale Bibliothek die einzelnen Beiträge ihrer Publikation auf der Webseite, wo sie gelesen, kopiert und heruntergeladen werden können – alle Inhalte sind mit der Creative Commons Lizenz CC BY 4.0 International lizenziert.
Die bereits veröffentlichten Beiträge können in unserem Pressebereich unter Hintergrundinformationen aufgerufen werden.
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Onleihe und virtueller Museumsbummel. Das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe im 21. Jahrhundert
Einleitung - Kulturelle Teilhabe als Menschenrecht
Kulturelle Teilhabe im Sinne der Möglichkeit, am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen und sich an den Künsten zu erfreuen sowie am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben, ist ein Menschenrecht im Sinne der UN-Menschenrechtscharta.[1] Dieses Menschenrecht auf Teilhabe am kulturellen Leben umfasst das Recht, sein eigenes kulturelles Erbe erleben, erlernen und erfahren zu dürfen. Nach Assmann ist dies die Voraussetzung für die „Entwicklung aller Formen von Identität“, also der kollektiven wie auch der Ich-Identität, die immer im Zusammenhang von Kultur und Gesellschaft erfolgt.[2] Orientierung in der realen Welt und Reflexion des eigenen Daseins setzen einen verlässlichen und authentischen Zugang zu Kultur und Wissen voraus. Zum Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe gehört auch, das kulturelle Leben anderer erfahren zu können. Zur Teilhabe am sozialen, kulturellen Leben zählt für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte daher die Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt, für den ein gesetzlicher, diskriminierungsfreier Zugang bestehen muss.[3] Dies ist auch Voraussetzung für Innovation, denn Neues baut bekanntlich auf Altem auf.
Mit keinem Medium lässt sich kulturelle Teilhabe besser verwirklichen als über das Internet. Es ermöglicht jedermann zu jeder Zeit von jedem beliebigen Ort aus den Zugang zu Kultur und Wissen.[4] Im 21. Jahrhundert gehört es zum Bildungsauftrag der öffentlichen Einrichtungen, Kultur und Wissen auch online zur Verfügung zu stellen. Via Internet können diejenigen angesprochen werden, die Museen, Bibliotheken, Archive und andere Kultureinrichtungen eher selten oder gar nicht besuchen. Dies ist die totale Demokratisierung des Wissens.[5] Zugleich setzen Demokratieprozesse die Demokratisierung des Zugangs voraus: Nur der informierte Bürger kann am demokratischen Willensbildungsprozess mitwirken. Bedeutsam ist das insbesondere für die internetaffinen Kinder und Jugendlichen von heute. Für sie ist das, was im Internet nicht verfügbar ist, oft nicht existent, zumindest aber wird es aus ihrer Sicht nicht als relevant wahrgenommen. Man mag diese Abkehr vom gedruckten Buch und dem physischen kulturellen Objekt bedauern. Als unumkehrbarem Trend ist ihm jedoch Rechnung zu tragen. Da das Internet ein globales Medium ist, ist darüber hinaus der Zugang zu Kultur über das Internet ein Beitrag zur Völkerverständigung. Denn die Erkenntnis des anderen kann ein Spiegel sein, in dem man sich selbst wahrnimmt. Dadurch wächst die Fähigkeit, kulturelle Andersartigkeit anzuerkennen und die mit der Globalisierung einhergehenden Zwänge zu humanisieren.
Die Sicherung der Teilhabe am kulturellen Leben wirkt aber auch im Hinblick und zugunsten der kulturell schöpferisch Tätigen. Jeder schöpferisch Tätige hat einen Anspruch auf Schutz seiner Beiträge, insbesondere auf den Schutz seiner literarischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Werke. Zum Menschenrecht auf Teilnahme am kulturellen Leben zählt daher auch der Schutz der Leistungen des Einzelnen durch ein effektives Patent– und Urheberrecht.[6]
Problemstellung
Der Schutz, den Urheber beziehungsweise Rechteinhaber (Verwerter) durch das Urheberrecht erfahren, und die Kontrolle, die sie mithilfe des Urheberrechts über die Nutzung ihrer schöpferischer Werke ausüben können, kollidiert allerdings mit den Zugangsinteressen der Allgemeinheit. Der Traum vom uneingeschränkten und allumfassenden Zugang zu Wissen und Kultur ist alt, aber trotz digitaler und vernetzter Medien und rasant wachsender Speicherkapazitäten im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert noch lange nicht realisiert. Rechtsfragen stellen Gedächtnisinstitutionen, die ihre Bestände digitalisieren oder die ihre digitalen Bestände über das Internet zugänglich machen wollen, vor nicht ganz einfach zu überwindende Hürden.[7] Momentan wird in der Praxis wohl mehr Geld für Rechtsgutachten als für die Digitalisierung und Zugänglichmachung ausgegeben.
Die Frage, ob und wie Gedächtnisinstitutionen insbesondere Wissenschaftseinrichtungen im 21. Jahrhundert nach geltendem Recht ihrem institutionellem Bildungsauftrag nachkommen können, ist vielfach diskutiert worden.[8] Es wurden Vorschläge unterbreitet, wie sich der in Deutschland geltende urheberrechtliche Rahmen adäquat anpassen lassen könnte, damit Gedächtnisinstitutionen und hier insbesondere Bibliotheken den Anforderungen der Wissenschaft besser gerecht werden können.[9] Auch für die klassischen Aufgabengebiete der Gedächtnisinstitutionen gab es eine Reihe von Regelungsvorschlägen.[10]
Noch nicht ausreichend diskutiert ist bislang die kulturelle Katastrophe, die mit der zunehmenden Substitution körperlicher kultureller Angebote durch unkörperliche, digitale kulturelle Angebote einhergeht.[11] Lawrence Lessig, US-amerikanischer Jura-Professor an der Harvard Law School und einer der bedeutendsten Verfassungsrechtler und Urheberrechtsexperten, hat hierzu resümiert:[12] „Wir sind gerade dabei jeden Zugriff auf unsere Kultur zu einem Fall rechtlicher Reglementierung zu machen – zugunsten von Anwälten und Lizenzen, aber mit Sicherheit zu Lasten auch ziemlich populärer Werke. Mit anderen Worten: Wir sind dabei einen katastrophalen kulturellen Fehler zu begehen.“
Dieser Fehler resultiert aus der Tatsache, dass anders als bei körperlichen kulturellen Angeboten, bei denen sich aus den Angeboten selbst heraus zahllose kulturelle Freiheiten ergeben, diese bei den unkörperlichen Angeboten stark eingeschränkt oder gänzlich in die Verfügungsgewalt der Urheber bzw. Rechteinhaber (Verwerter) gestellt sind. In realen Räumen hat der Zugang zu Kultur ein stabiles Gleichgewicht zwischen Kulturrezeptions- und Konsumweisen hervorgebracht, die urheberrechtlich nicht reguliert werden, und solchen, die praktischer- und sinnvollerweise vom Urheberrecht reguliert werden. Um erneut Lawrence Lessig zu zitieren: „Unsere frühere Welt der realen Räume war eine Welt, in die das Urheberrecht nur selten eindrang, und wenn dies geschah, so war ihr Verhältnis zu den Zielen des Urheberrechts ziemlich klar und verständlich.“
Die durch die digitalen und vernetzten Medien hervorgebrachten Nutzungsmöglichkeiten sind jedoch mit einer Vielzahl technischer Reproduktions- und Übertragungstechniken verbunden, was dazu führt, dass fast jede Handlung urheberrechtlich relevant ist und nur mit Zustimmung der dadurch nahezu allmächtig gewordenen Rechteinhaber vorgenommen werden darf. Verstärkt wird diese Kontrollmöglichkeit durch technische Schutzmechanismen. Je besser diese funktionieren, desto umfassender ist die Verfügungsgewalt der Rechteinhaber und deren Kontrolle der Möglichkeiten des Kulturzugangs und der Teilhabe.
Onleihe - Die Übertragung eines Erfolgsmodells in die digitale Welt?
Was ist damit gemeint? Am besten lässt sich das durch zwei Beispiele verdeutlichen: Über Bibliotheken gibt es einen – von Benutzungsgebühren abgesehen – kostenlosen Zugang zu verlegten Schriftwerken.[13] Haben Bibliotheken ein Buch erworben und in ihren Bestand übernommen, können sie dieses verleihen und auch sonst haben sie alle Freiheiten mit dem körperlichen Werkstück, das sie erworben haben und das damit ihnen gehört, nach Gutdünken zu verfahren.[14] Nun könnte man annehmen, dass Bibliotheken ihr Werkstück auch digitalisieren und (bestandsakzessorisch) im Internet entleihen können. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Bibliotheken können diesen Service meist schon deswegen nicht anbieten, weil ihre Medienbudgets für die Digitalisierung und die verbundenen Infrastrukturleistungen meist keine hinreichenden Mittel vorsehen. Dieses Manko ließe sich bei politischem Willen beheben. Schwerer wiegt jedoch, dass digitalen Angeboten von Bibliotheken rechtliche Gründe entgegenstehen. Dies liegt daran, dass sich das sachenrechtliche Eigentum nicht auf die Rechte am immateriellen geistigen Inhalt des einzelnen Werkexemplars erstreckt. Dieses ist durch das Recht der unkörperlichen Wiedergabe in die alleinige Verfügungsgewalt der Rechteinhaber gestellt. Es wird durch internationales Recht und europäische Regelungen vorgegeben, die dem nationalen Gesetzgeber nur einen sehr eingeschränkten Spielraum für die Ausgestaltung des nationalen Urheberrechts belassen.[15]
Vor der Digitalisierung und Online-Zurverfügungstellung müssen daher die Urheber und die sogenannten Leistungsschutzberechtigten (Tonträger- und Filmhersteller, ausübende Künstler, Sendeunternehmen u.a.) um Erlaubnis gefragt werden. Da dies im Einzelfall nicht praktikabel ist und die Rechte zudem in den meisten Fällen an die Verwerter der körperlichen Werkstücke (etwa Verlage) abgetreten wurden, sind die Bibliotheken angehalten, entweder direkt mit den Verwertern oder mit deren Kontingente wahrnehmenden Dritten – insbesondere den Verwertungsgesellschaften – Kooperationen zu schließen,[16] um ihren Nutzern digitale Angebote zur Verfügung stellen zu können.
Dies ist für die Onleihe, also den Verleih von E-Books und E-Zeitschriften, zwingend. Das Urheberrecht enthält zugunsten von Bibliotheken zwar eine Ausnahme (eine sogenannte Schrankenregelung) vom Grundsatz der absoluten Verfügungsgewalt der Rechteinhaber. Diese gilt jedoch nur für elektronische Leseplätze in den eigenen Räumen der Bibliothek, und dort auch nur, soweit dem keine vertraglichen Regelungen entgegenstehen, das heißt, soweit Verlage oder sonstige Drittverwerter keine Vertragsangebote zur Verfügung stellen.[17] Genau das ist aber bei den populären Werken durchaus der Fall, sodass die genannte Ausnahmebestimmung in der Praxis einen nur eingeschränkten Anwendungsbereich hat.
Dass aus dem Eigentum an der Sache noch kein urheberrechtliches Nutzungsrecht folgt, war freilich schon immer so. Noch nie aber ergab sich daraus ein ernsthaftes Zugangsproblem. Zu einer den Zugang beschränkenden Regelung entwickelte sich das Urheberrecht erst, seitdem die Bedeutung des Zugangs über das Internet im 21. Jahrhundert, dem Zeitalter der digitalen und vernetzten Medien, in den Vordergrund getreten ist. Die Zahl der Internetnutzer steigt täglich. Der Anteil der Internetnutzer (ab zehn Jahren), die jeden Tag oder fast jeden Tag online waren, lag in Deutschland im Jahr 2013 bei 80 Prozent.[18]
Das führt zu der Frage, ob es nicht einen Grundanspruch auf kulturellen Zugang über das Internet geben müsste, der im Rahmen der Daseinsvorsorge zu erfüllen wäre. Sofern sich ein solcher Anspruch begründen lässt,[19] wäre im nächsten Schritt zu klären, wer diese Angebote finanzieren soll.[20] Keinesfalls kann die Finanzierung allein zu Lasten der Urheber oder der Werkverwerter (Verlage, Film- und Tonträgerproduzenten) gehen. Sie sind grundsätzlich an den Einnahmen zu beteiligen, die mit ihren Werken erwirtschaftet werden. Werden für die Nutzung keine Kosten erhoben, so ist ihnen gleichwohl eine dem Nutzungswert entsprechende angemessene Vergütung zu zahlen. Etwas anderes gilt nur dort und insoweit, als der Gesetzgeber im Rahmen einer Schrankenbestimmung nicht nur eine Ausnahme vom Zustimmungserfordernis festlegt, sondern zugleich bestimmt, dass für eine bestimmte Nutzung auch keine Vergütung zu zahlen ist (so etwa beim Zitatrecht). Als vermittelnden Weg kennt das Gesetz das Modell einer Schrankenbestimmung, bei der der Nutzer zwar nicht die Zustimmung des Rechtsinhabers einholen muss, er den Rechteinhabern jedoch über Verwertungsgesellschaften eine pauschale Vergütung zahlen muss. Eine solche Regelung kennt das deutsche Urheberechtsgesetz hinsichtlich der Ausleihe geschützter Werke in analoger Form,[21] nicht hingegen für die Onleihe solcher Werke, die – wie E-Books – schon vom Rechteinhaber in digitaler Form geliefert worden sind.
Insoweit bleibt es bei der Notwendigkeit von Vertragsverhandlungen zwischen den Bibliotheken und den Rechteinhabern. Solche Verträge sind bislang etwa für die Abbildung von Buchumschlägen und Covern von Non-Books (CDs, DVDs, Online-Ressourcen etc.) in den Online-Katalogen von Bibliotheken in die Hände der Verhandlungspartner gelegt.[22] Vertragliche Lösungen haben zwar den Vorteil, dass Nutzungsbedingungen und Preis nicht vom Gesetzgeber diktiert, sondern – wie momentan hinsichtlich der Onleihe – von den Beteiligten ausgehandelt werden können. Vertragliche Lösungen haben aber auch Nachteile. So bedarf es meist mühsamer und zeitraubender Verhandlungen, bei denen die Rechteinhaber letztlich am längeren Hebel sitzen, da sie bestimmen können, welche Werke sie zu welchem Preis zur Onleihe freigeben wollen und welche nicht. Darüber hinaus haben Verträge eine nur begrenzte Laufzeit, nach deren Ablauf neu zu verhandeln ist.[23]
Virtueller Museumsbummel - Abbildungsfreiheit oder Bildstörung im Internet?
Ähnlich schwierig ist die Sachlage bei Museen, die zeitgenössische Kunst oder andere urheberrechtlich noch geschützte Werke ausstellen. Selbst wenn diese Museen die ausgestellten Werke sachenrechtlich als Eigentum erworben haben, fehlt ihnen weithin die Befugnis, die ihnen gehörenden Werke zu digitalisieren und öffentlich zugänglich zu machen. Die unkörperlichen Befugnisse verbleiben bei den Urhebern (bzw. Rechteinhabern), sodass diese vor der öffentlichen Zugänglichmachung über das Internet gefragt werden müssen.[24] Ihre Werke ungefragt öffentlich zugänglich machen können Museen erst ab dem Zeitpunkt, in dem Urheber- und Leistungsschutzrechte abgelaufen sind[25] und sofern die bei der Digitalisierung entstehenden Rechte bei der Institution liegen.[26] Virtuelle Rundgänge durch Museen, bei denen noch urheberrechtlich geschützte ausgestellte Werke zu sehen sind, bedürfen daher der gründlichen Klärung und vorherigen Einholung aller Rechte an den gezeigten Werken.[27]
Eine gesetzliche Ausnahme besteht nur für die Verwendung einzelner öffentlich ausgestellter Werke für die Bewerbung der Ausstellung.[28] Dagegen sind nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) Abbildungen in einer ausstellungsbegleitenden Online-Dokumentation nach dem Ende der Ausstellung wieder zu löschen. Den Museen ist es daher ohne Zustimmung der Rechteinhaber verwehrt, ein Online-Archiv mit den Originaldokumentationen ihrer Ausstellungen aufzubauen.[29] Die Rechteklärung ist selbst dann nötig, wenn der Museumsbestand durch bildliche Katalognachweise online dokumentiert und zugänglich gemacht werden soll.[30] Welche Qualität die Digitalisierung und Zugänglichmachung hat und welcher Zweck damit verfolgt wird, ist dabei unerheblich. Das verwundert umso mehr, als nach der Rechtsprechung des BGH das Zeigen von Vorschaubildern in den Ergebnislisten von Suchmaschinen (sogenannte Thumbnails) zwar urheberrechtlich relevant ist, jedoch keiner Zustimmung bedarf, weil im Einstellen von Bildern ins Netz ohne Kundgabe eines gegenteiligen Willens durch eine robot.txt eine Einwilligung in das Auffinden und Indexieren von Suchmaschinen liege.[31] Dass die auf fremden Erschließungsleistungen aufbauenden Nutzungen durch kommerzielle, werbefinanzierte Suchmaschinenbetreiber privilegiert werden und sie über die Werbung Millionen verdienen können, ohne sich an den Kosten zu beteiligen, die etwa Museen für die Digitalisierung von Bildern aufwenden, wohingegen die Museen nicht einmal ihre eigenen Dokumentationen online stellen dürfen, ist aus Sicht der Museen in der Tat nur schwer nachzuvollziehen. Die Abbildungsfreiheit des einen ist hier die Bildstörung des anderen.[32]
Lösungsansätze
Damit auch im 21. Jahrhundert die Teilnahme und Teilhabe am kulturellen Leben durch hinreichende kulturelle Freiheiten gesichert ist, sind Erfahrungstraditionen und neue Möglichkeiten miteinander in Einklang zu bringen. Wir befinden uns in einer Übergangsphase und müssen uns fragen, welches Menschenbild wir nicht allein unter ökonomischen Prämissen, sondern vor allem in kultureller Hinsicht künftigen Generationen vermitteln wollen.
Einen visuellen Eindruck von den Sammlungsbeständen im Internet zur Verfügung zu stellen, gehört für die Museen im digitalen und vernetzten Zeitalter zum kulturellen Auftrag.[33] Dazu müssen die finanziellen Voraussetzungen für die Digitalisierung des Bestandes und dessen Online-Präsentation geschaffen werden. Das bedeutet, dass finanzielle Mittel nicht nur einmalig für die technische und rechtliche Aufbereitung bereitgestellt werden müssen, sondern auch für die laufenden Kosten der Online-Präsentation. Da Zuwendungen nach der Bundeshaushaltsordnung als Projektmittel mit vorgesehenem Projektabschluss vorgesehen sind, müssen für die dauerhafte Zugänglichmachung von geschütztem Bildmaterial die jährlichen Etats der Einrichtungen entsprechend aufgestockt werden, sollen diese vor dem Hintergrund des geltenden rechtlichen Rahmens in die Lage versetzt werden, ihrem Auftrag über das Internet nachzukommen. Nur so kann die öffentliche Hand gegenüber privatwirtschaftlichen Aktivitäten wieder die Oberhand gewinnen.[34] Dazu bedarf es der Unterstützung seitens der Politik. Partnerschaften mit der Privatwirtschaft wie im Fall der Bayrischen Staatsbibliothek[35] sind dagegen einmalig und lassen sich für Digitalisierungsprojekte in die Breite nicht übertragen. Sie sind auch kein gangbarer Weg, wenn es vorrangig um Qualität und weniger um eine Massendigitalisierung geht.
Die politische Unterstützung sollte sich nicht in finanziellen Zuwendungen erschöpfen, sondern darüber hinaus im Verbund mit den europäischen Nachbarländern auf eine Änderung der europäischen Vorgaben und die Verwirklichung eines kulturellen Imperativs im Urheberrecht hinwirken.[36] Das oberste Ziel des Urheberrechts besteht in der Förderung neuer Schöpfungsprozesse auf der Grundlage bestehenden Materials, nicht darin einen möglichst umfangreichen Schutz für einen einflussreichen Industriezweig zu gewähren oder mächtigen Nutzergruppen weitreichende Gebrauchsprivilegien einzuräumen. Wie aber lässt sich das im analogen Bereich weithin funktionierende und ausgewogene Gleichgewicht zwischen kulturellen Freiheiten der Allgemeinheit auf der einen und dem Recht auf Schutz der Leistungen des Einzelnen und der Verlage und Produzenten auf der anderen Seite durch ein effektives Urheberrecht in den digitalen virtuellen Raum übertragen?
Dazu wurde in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eine Vielzahl allgemeiner Lösungsansätze diskutiert. Ein Vorschlag zielt auf eine gesetzliche Einschränkung von Ausschließlichkeitsrechten und eine Erweiterung gesetzlicher Vergütungsansprüche.[37] Ein anderer plädiert für die Aufwertung von Schrankenbestimmungen zu Rechten schöpferisch sich betätigender Nutzer, verbunden mit der Integrierung in ein allgemeines, flexibles Gebrauchsrecht des schöpfenden Urhebers nach dem Vorbild der US-amerikanischen Fair-Use-Bestimmungen.[38] Vorgeschlagen wurde auch, die urheberrechtlichen Schutzanforderungen heraufzusetzen, um kreative Freiräume zu erhalten. Demselben Ziel dient ein weites Verständnis der urheberrechtlich „freien Benutzung“.[39] Halten sich diese Vorschläge teils noch im Rahmen geltenden internationalen Rechts, erforderte der radikalere Vorschlag, den Schutz nach Ablauf einer kurzen Anfangsfrist von einer Registrierung abhängig zu machen,[40] sicherlich einer Änderung des internationalen Rechtsrahmens. Damit würde dann zwar der Tatsache Rechnung getragen, dass nur ein kleiner Teil geschützter Werke tatsächlich kommerziell verwertbar ist.[41] Der Preis dafür wäre jedoch die Errichtung einer umfassenden bürokratischen Registrierungsstruktur.
Aus der Sicht der Museen sind solche grundlegenden Umgestaltungen des geltenden Urheberrechts jedoch gar nicht unbedingt erforderlich. So würde es für den virtuellen Museumsbesuch ausreichen, zum einen die Dokumentationsschranke des § 58 Abs. 2 UrhG auf die Online-Bestandsdokumentation auszuweiten.[42] Die Anpassung ist schon vor dem Hintergrund eines Minimums an Zugang notwendig, soll Kultur nicht nur textlich erschlossen, sondern darüber hinaus auch ein erster visueller Eindruck vermittelt werden.[43] Zum anderen könnte die Katalogbildschranke des § 58 Abs. 1 UrhG, die bislang nur Print-Kataloge erfasst,[44] ebenfalls auf Online-Kataloge erweitert werden. Allerdings sollte sie dann mit einer Vergütungsregelung gekoppelt werden. Solange das nicht geschehen ist, bleibt nichts anderes übrig als die Rechte in oft mühsamen Einzelverhandlungen zu erwerben.[45] Etwas erleichtert wird die Situation nur soweit Bildrechte von der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst wahrgenommen werden.
Hinsichtlich der vom internationalen Bibliotheksverband EBLIDA geforderten Zulässigkeit der Onleihe[46] ließe sich daran denken, die vom EuGH in seiner „UsedSoft“- Entscheidung[47] unter bestimmten Umständen zunächst für online-übermittelte Computerprogramme vorgesehene Erschöpfung des Verbreitungsrechts auch auf andere Werke zu übertragen.[48] Die Erschöpfung würde bedeuten, dass einmal zu Eigentum erworbene elektronische Datensätze urheberrechtlich geschützter Werke frei weiter übertragen und zumindest ebenso wie gedruckte Bücher ohne weitere Zustimmung der Urheber verliehen werden könnten. Soweit die Erschöpfung reicht, könnte sie auch auf vertraglichem Wege nicht wirksam ausgeschlossen werden. Die deutschen Gerichte stehen einer solchen Übertragung bislang jedoch kritisch gegenüber; die Literatur ist gespalten. Entscheidend könnte aber ein anderer Gedanke sein. Wenn die Anbieter von E-Books diese nämlich schon beim Verkauf mit technischen Schutzmechanismen versehen, die ein unerlaubtes Kopieren verhindern, dann spricht letztlich nichts dagegen, dass diese Bücher auch verliehen werden dürfen. Denn dann zieht das Hauptargument gegen ein Verleihen von Werken in digitaler Form nicht mehr, demzufolge ein einmal verliehener Datensatz ohne Bezahlung beliebig oft kopiert werden kann. Die Erschöpfung für E-Books wird jedoch da nicht greifen, wo Verlage dazu übergehen, die Angebote auf dem eigenen Server zu belassen. Die Bibliotheken erwerben hier weder die Dateien noch (urheberrechtliche) Nutzungsrechte, sondern nur den Zugriff auf den Anbieter-Server.[49] Das erspart den Bibliotheken eine eigene Repository-Infrastruktur aufzubauen, macht sie allerdings abhängig von der Preispolitik der Verlage und stellt ihre Bewahrungsfunktion als kulturellen Speicher in Frage. Bibliotheken müssen für die dargestellte Lösung digitale Werke „kaufen“ können und über eine Repository-Infrastruktur verfügen. Beides kostet. Neben einer digitalen „First Sale Doctrine“ ist daher ein „institutionelles Upgrading“ erforderlich.[50]
Ob einfach oder nicht: Es muss jedenfalls etwas geschehen, damit Bibliotheken und Museen ihre traditionellen Aufgaben auch in Zeiten von Digitalisierung und Vernetzung ordnungsgemäß wahrnehmen können.
Buch S. 22.
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Zu den Autoren
Prof. Dr. Thomas Dreier, M.C.J., ist Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsfragen der Informationsgesellschaft; Leiter des Instituts für Informations- und Wirtschaftsrecht am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Honorarprofessor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Universität Freiburg im Breisgau. Er studierte Rechtswissenschaften und Kunstgeschichte in Bonn, Genf, München und New York und ist Vorsitzender des Fachausschusses Urheberrecht der Deutschen Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) und Vizepräsident der Association internationale littéraire et artistique (ALAI). Dreier ist Autor von zahlreichen Aufsätzen zu rechtlichen Aspekten von Digitalisierung, Vernetzung und Gedächtniskultur sowie Mitherausgeber von Dreier, T./Schulze, G.: Urheberrechtsgesetz, Kommentar 4. Aufl. München 2013 und Dreier, T./Euler, E.: Kulturelles Gedächtnis im 21. Jahrhundert, Karlsruhe 2005.
Dr. Ellen Euler, LL.M., ist Stellvertreterin des Geschäftsführers der Deutschen Digitalen Bibliothek sowie Leiterin des Thinktanks „Kulturelles Erbe Digital“. Sie studierte Jura und Philosophie in Halle, Münster, Hannover, Siena und Bologna. Bereits 2003 organisierte sie ein internationales Symposium zum Kulturellen Gedächtnis im 21. Jahrhundert, das Prof. Assmann eröffnete. In zahlreichen Publikationen und Vorträgen befasst sie sich seither damit, wie der Rechtsrahmen beschaffen sein muss, damit Archive, Bibliotheken und Museen ihren jeweiligen institutionellen Aufgaben auch im digitalen und vernetzten Zeitalter adäquat nachkommen können (u.a. Beiträge zu rechtlichen Aspekten von Web-Harvesting, digitaler Langzeitarchivierung und bildlichem Katalognachweis, sowie zum digitalen Pflichtexemplarrecht).
Links und Downloads:
Ellen Euler und Thomas Dreier: Onleihe und virtueller Museumsbummel. Das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe im 21. Jahrhundert (PDF)
Erläuterung der Lizenz: CC BY 4.0 International
Namensnennung: Ellen Euler und Thomas Dreier: "Onleihe und virtueller Museumsbummel. Das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe im 21. Jahrhundert", in: Der Vergangenheit eine Zukunft - Kulturelles Erbe in der digitalen Welt, eine Publikation der Deutschen Digitalen Bibliothek, hrsgg. von Paul Klimpel und Ellen Euler, iRights Media: Berlin 2015, Seite 192 - 206. CC BY 4.0 International
Die Bilderstrecke der Publikation: Die Bilder der Digitalisierung - "Der Vergangenheit eine Zukunft - Kulturelles Erbe in der digitalen Welt"
Gespräch mit den Herausgebern Ellen Euler und Paul Klimpel zum Erscheinen der Publikation: "Der Vergangenheit eine Zukunft - Kulturelles Erbe in der digitalen Welt": Die erste Publikation der Deutschen Digitalen Bibliothek
Präsentation der Publikation auf der Leipziger Buchmesse: Die erste Publikation, viele Gespräche und ein besonderer Jutebeutel: Die Leipziger Buchmesse
Die Publikation ist als Buch und als E-Book erhältlich, zusätzlich sind jedoch alle Inhalte mit der Creative Commons Lizenz CC BY 4.0 International lizenziert und können somit bei Namensnennung nachgenutzt und weiterverwendet werden. Bereits jetzt ist das Buch auf der Verlagsseite im E-Reader vollständig einsehbar.
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Index- und Startseitenbild: Ausschnitt aus "Magazin, Deutsche Nationalbibliothek, Leipzig", Fotograf: Jürgen Keiper (CC BY 4.0 International)