Bestand
Brandenburgischer Herbergsverband (Bestand)
Der Verband diente der Vermehrung und dem
Erfahrungsaustausch unter den Herbergen zur Heimat.
Vorwort: Geschichte und Organisation
des Verbandes
1854 hatte der Bonner Verein für Innere
Mission auf Initiative des Rechtsprofessor Perthes hin die erste „Neue
Herberge zur Heimat“ gegründet. Sie sollte, in christlichem Geist geführt,
wandernden Handwerksgesellen offenstehen, und zwar unabhängig von deren
Landsmannschaft, Gewerbe, Konfession und Bereitschaft zur Teilnahme an
Hausandachten; einfache und preiswerte Mahlzeiten und
Übernachtungsmöglichkeiten unter Verzicht auf Alkoholausschank sollten eine
Alternative bilden zu den „Greueln des Herbergslebens“ (Clemens Perthes, Das
Herbergswesen der Handwerksgesellen, S. 44).
Diese
Gedanken gewannen zu Beginn der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts neue
Aktualität. Inzwischen hatte sich allerdings sie soziale Zusammensetzung der
Wandernden verändert. Das Fortschreiten der kapitalistisch bestimmten
Arbeitsteilung übte auf das Handwerk einen zersetzenden Einfluss aus: aus
geschäftstüchtigen Meistern wurden Fabrikanten und Händler, aus Gesellen
Zu-, Vor- und Stückarbeiter. Die Krise der Gründerzeit und ihr folgende
konjunkturelle Rückschläge hatten auch und gerade unter den
Industriearbeitern zu massenhafter Arbeitslosigkeit geführt. Sie stellten
jetzt – vor allem wenn sie als Zugewanderte keinen Anspruch auf
Armenunterstützung hatten – zusammen mit anderen Wanderarmen und
arbeitslosen Handwerksgesellen die Klientel der Herbergen (Friedrich von
Bodelschwingh, Die Wanderarmen und die Arbeitslosen, S. 2 ff., vgl. auch:
Gerhard Goeters, Clemens Theodor Perthes, S. 27).
Den
145 christlichen Herbergen standen 1883 „200.000 und vielleicht noch mehr“
Wanderer gegenüber, wie Bodelschwingh in der Einleitung zu der von ihm 1883
neu herausgegebenen Perthes-Schrift feststellte. Er war sich wie kaum ein
anderer der Unzulänglichkeit der Hilfsmaßnahmen der Inneren Mission und der
staatlichen Gesetzgebung bewusst. Während der CA und Johannes Wichern vom
Rauhen Haus die Herbergen auch weiterhin nur „zahlenden wandernden
Handwerksgesellen“ öffnen wollten, da sie einen Abschreckungseffekt der
Wanderarmen auf jene befürchteten und die Heranziehung der Herbergsväter zu
geplanten polizeilichen Überwachungsmaßnahmen als unzuträglich empfanden,
forderte Bodelschwingh, der den Widerspruch zwischen sozial erzwungener und
polizeilich verfolgter Bettelei als Herausforderung an die Innere Mission
verstand, in den neu eingerichteten Naturalverpflegungsstationen „Unterkunft
und Verpflegung nur gegen Arbeitsleistung zu gewähren“ und sie „zu Herbergen
zur Heimat im Sinne von Perthes auszugestalten und die bestehenden Herbergen
mit Stationen zu verbinden“ (Gerhardt/Adam, Friedrich von Bodelschwingh. Bd.
2/II, S.274 und S. 283. Die planlos angelegten Naturalverpflegungsstationen
gingen zwar 1885 infolge der finanziellen Überforderung der
Kreisverwaltungen und der abweisenden Haltung des preußischen Landtags ein,
Bodelschwingh konnte aber später in diesem ein Gesetz über die
Wanderarbeitsstätten – die Verpflegung, seiner Forderung entsprechend, nur
gegen Arbeitsleistung gewährten – initiierten und durchbringen.).
Der Wiedergewöhnung der Obdachlosen an ein geregeltes
Arbeitsleben sollten schließlich neben den vorübergehenden Hilfen auch die
ständigen Einrichtungen der Arbeiterkolonien dienen, auf die arbeitswillige
Wanderarme in den Verpflegung nur gegen Arbeitsleistung abgebenden Stationen
aufmerksam gemacht wurden. Die erste Arbeiterkolonie wurde 1882 von
Bodelschwingh in Wilhelmsdorf in der Senne bei Bielefeld gegründet; schon
1883 folgte in Brandenburg die Kolonie Friedrichswille bei Reppen.
Vor dem hier angedeuteten Hintergrund beschloss am
25.11.1885 eine vom PAfIM eingeladene vorbereitende Konferenz von Vorständen
und Hausvätern der Herbergen zur Heimat sowie Vorstehern von
Naturalverpflegungsstationen die Gründung eines Herbergsverbandes für die
Provinz Brandenburg; dieser konstituierte sich förmlich am 23.11.1886
anlässlich der 4. Generalversammlung des PAfIM (ADW, BHV 3).
Der Verband nannte sich zunächst „Verband der christlichen
Herbergen zur Heimat in der Provinz Brandenburg“ (Statut vom 23.11.1886,
ADW, BHV 21), später „Brandenburgischer Herbergsverband“ (Statut vom
29.10.1900, ADW, BHV 2).
Das Herbergswesen hatte
seine größte Ausdehnung zwischen den Gründerjahren und dem 1. Weltkrieg. Für
Brandenburg charakteristisch wurde dabei die enge Zusammenarbeit zwischen
den freien evangelischen Einrichtungen und Verbänden und den staatlichen
Behörden, die 1911 zu einem Vertrag zwischen dem Landesdirektor und dem BHV
über den Betrieb der Wanderarbeitsstätten führte und sich auch in der
behördlichen Anerkennung der von den Herbergen zur Heimat betriebenen
Arbeitsnachweise als gemeinnütziger ausdrückte (vgl. Bericht über die
Tätigkeit des BHV 1911-1914, in: ADW, BHV 69).
Bedingt durch Krieg und Inflation, mussten später viele Herbergen
schließen. Der BHV gründete zwar noch einige Herbergen, musste diese aber –
besonders nach der nationalsozialistischen Machtübernahme – zunehmend
anderen Zwecken zuführen.
Die Geschäftsführung des
BHV lag von der Gründung bis 1913 nebenamtlich bei den Vereinsgeistlichen
des PAfIM (1886-1895 Friedrich Wilhelm Reiche, 1895-1901 Martin Hennig,
1901-1913 Paul Troschke). Diese Personalunion wurde 1913 unterbrochen, als
Troschke zur Provinzialverwaltung wechselte, das Schriftführeramt des BHV
aber behielt. Seit 1928 ist die Geschäftsführung des Verbandes dann wieder
durch den Vereinsgeistlichen des PAfIM (Theodor Wenzel) wahrgenommen worden.
Aus diesem Grunde befanden sich die Akten des BHV in der Geschäftsstelle des
PAfIM und wurden vom Archiv des Diakonischen Werkes der EKD 1970 und 1977
zusammen mit dessen Akten übernommen.
Ordnung und
Umfang der Akten
Die Akten des BHV wurden teils als
Sach-, teils (v.a. vor der Übernahme der Geschäftsführung durch Wenzel) als
Korrespondenzakten geführt. Eine – chronologischen Gesichtspunkten folgende
– Ordnung der Akten ist nur für die Zeitspanne bis 1913 erkennbar, so dass
der gesamte Aktenbestand neu geordnet werden musste. Er wurde unterteilt in
den Verband betreffende und die einzelnen Herbergen betreffende
Hauptgruppen, wobei in letzterem Fall zusätzlich unterschieden wurde
zwischen dem Verband nur als Mitglieder angehörigen Herbergen und solchen,
die vom BHV gegründet worden waren und seiner direkten Verwaltung
unterstanden (vgl. § 1 Abs. 2 Buchst. d der Satzung von 1935).
Aus dem Zeitraum zwischen 1913-1928 sind nur relativ wenige
Akten vorhanden, ebenso aus der Zeit nach 1945, in der es Herbergen mit der
ursprünglichen Zweckbestimmung nicht mehr gab, die Akten sich daher im
wesentlichen auf die Verwaltung der verbliebenen Eigengründungen
beschränkte, die entweder vom BHV selbst oder von den staatlichen Behörden
in der SBZ/DDR anderer Nutzung zugeführt worden waren.
Außer den in diesem Bestand zusammengefassten Akten befinden sich noch
weitere mit den Betreffen Herbergswesen, Naturalverpflegungsstationen und
Arbeiterkolonie Friedrichswille unter der Rubrik Wanderfürsorge beim Bestand
„Provinzial-Ausschuss für Innere Mission in der Provinz Brandenburg“ (ADW,
BP 1905-1907, 1909, 2456, 2459).
38 Akteneinheiten
(v.a. die Wirtschaftsführung der Herbergen betreffend, u.a. Einnahme- und
Ausgabebelege, Monatsabrechnungen, Kassenführung, Bankverkehr) wurden
kassiert.
Die Akten wurden 1984/1985 von Frau Hanna
Kröger geordnet und verzeichnet.
Im August 2006
wurden die Akten von Frau Claudia Kögler in das Archivdatenbanksystem AUGIAS
eingegeben.
Berlin, 29. August 2006
Literatur
Der Brandenburgische Herbergs-Verband
1886-1911: Eine Denkschrift aus Anlass des fünfundzwanzigjährigen Bestehens
den Freunden des christlichen Herbergswesens / dargereicht vom
Verbands-Vorstand. – Berlin, 1911.
Bodelschwingh, F.
v.: Die Wanderarmen und die Arbeitslosen / Friedrich von Bodelschwingh. –
Bielefeld: Deutscher Verein Arbeiterheim, 1895. – 14. S.
Braune, P.: 75 Jahre Herbergen zur Heimat / Paul Braune. – Lobetal:
Deutscher Herbergsverein, 1929. – 78 S.
Gerhardt,
M.
und Adam, A.: Friedrich von Bodelschwingh : ein Lebensbild aus
der deutschen Kirchengeschichte / von Martin Gerhardt . - Bielefeld-Bethel :
von Bodelschwinghsche Anst. – Teil: Bd. 2, Das Werk / fortgef. von Alfred
Adam, 1958. – 800 S.
Goeters, G.: Clemens Theodor
Perthes 1809-1867 / Gerhard Goerters. – Münster: Evang. Perthes Werk, 1984.
– 30 S.
Mörchen, K.: Wandernde Arbeitslose.
Sonderdruck aus Schriften des Verbandes deutscher Arbeitsnachweise Nr. 5. –
Berlin: Verband deutscher Arbeitsnachweise, 1905. – 33 S.
Perthes, C.: Das Herbergswesen der Wandergesellen / Clemens Perthes. –
2. Aufl. hrsg. mit einem Vorwort von Pastor Fr. v. Bodelschwingh. Gotha:
Perthes, 1883. – VI, 86 S.
Wenzel, Th.: Fünfzig Jahre
Provinzial-Ausschuss für Innere Mission in der Provinz Brandenburg 1882-1932
/ Theodor Wenzel. – Berlin, 1932. – 79 S.
Ders.: 50
Jahre Brandenburgischer Herbergsverband. In: Die Vorsorge. Mitteilungen der
Evangelischen Versicherungs-Zentrale. – Berlin-Dahlem, 10. Jg. Nr. 3 (Juli
1937).
Abkürzungen
ADW Archiv
des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland
BHV Brandenburgischer Herbergs-Verband
CA Central-Ausschuss
für Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DHV Deutscher
Herbergs-Verband
Ev. Evangelisch
EWD Evangelischer
Wohlfahrtsdienst für die Mark Brandenburg
FAD Freiwilliger
Arbeitsdienst
HJ Hitler-Jugend
HzH Herbergen zur
Heimat
Kageso Kreditgemeinschaft gemeinnütziger
Selbsthilfeorganisationen Deutschlands GmbH
NS
Nationalsozialistisch
o.D. ohne Datum
PAfIM
Provinzial-Ausschuss für Innere Mission in der Provinz Brandenburg
SBZ Sowjetische Besatzungszone
u.a. unter anderem
v.a. vor allem
- Bestandssignatur
-
BHV
- Kontext
-
Archiv für Diakonie und Entwicklung (Archivtektonik) >> Sonstige Verbände und Rechtsträger
- Bestandslaufzeit
-
1886-1958
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22.04.2025, 11:01 MESZ
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Objekttyp
- Bestand
Entstanden
- 1886-1958