Archivbestand
Prof. Dr. Ulrich Horstmann (Bestand)
Bestandsbeschreibung: Werkmanuskripte,
Korrespondenzen, Sammlungen (v. a. "Presse-Echo", Belegexemplare
Veröffentlichungen)
Form und Inhalt: Der literarische
Vorlass des Schriftstellers und Hochschullehrers für Englische und
Amerikanische Literatur Ulrich Horstmann wurde aufgrund eines
Depositalvertrages vom 17./21. August 2007 in das Westfälische
Literaturarchiv im LWL-Archivamt für Westfalen übernommen. Der Vorlass
umfasst 412 Verzeichnungseinheiten mit Unterlagen von 1964 bis 2020. Der
Bestand ist benutzbar im Lesesaal des LWL-Archivamtes und zu bestellen bzw.
zu zitieren als: Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt für
Westfalen (WLA), Bestand 1022/Nr. [...].
1. Biographische
Anmerkungen
Ulrich Horstmann wurde am 31. Mai 1949 im
ostwestfälischen Bünde geboren. Ab dem Sommersemester 1968 studierte er
Anglistik, Philosophie, Pädagogik und Geschichte an der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster und promovierte 1974 mit einer Arbeit über
Edgar Allan Poe ("Ansätze zu einer technomorphen Theorie der Dichtung bei
Edgar Allan Poe." Bern und Frankfurt/Main: Peter Lang, 1975). Bereits seit
1973 verwaltete er eine wissenschaftliche Assistentenstelle am Englischen
Seminar der Universität Münster; während seiner Assistentenzeit erhielt er
1977 ein "Research Fellowship" an der Universität von Pretoria in Südafrika.
Nach seiner Habilitation (Habilitationsschrift: "Ästhetizismus und Dekadenz.
Zum Paradigmakonflikt in der englischen Literaturtheorie des späten 19.
Jahrhunderts." München: Wilhelm Fink, 1983) war er bis 1987 Hochschullehrer
am Englischen Seminar in Münster und ab 1991 bis zu seiner Emeritierung 2014
Professor für Neuere Englische und Amerikanische Literatur an der
Justus-Liebig-Universität Gießen, mit Gastprofessuren an der Universität von
Wisconsin/USA in Madison (1993) und Milwaukee (1996 und 1999). Seit 1992
lebt Ulrich Horstmann in Marburg an der Lahn.
Schon während
seiner Gymnasialzeit schrieb er Prosa- und Lyriktexte und sandte die
Manuskripte an renommierte Verlage und Redaktionen von Zeitschriften (vgl.
1022/Nr. 265, 266, 268). Einen für sein Literaturverständnis wichtigen
Aufsatz veröffentlichte er 1975 ("Science Fiction - Vom Eskapismus zur
anthropofugalen Literatur"), in dem er die These vertrat, qualifizierte
Science Fiction sei der Vorläufer einer neuen, von ihm "anthropofugal"
genannten Literatur, die Entsprechungen habe in der modernen bildenden Kunst
und der strukturalistischen Philosophie. 1976 erschien eine erste
selbständige Veröffentlichung, mit der er seine eigenen Jugendschriften als
literarischen Nachlass eines (fiktiven) jungen Selbstmörders herausgab
(Klaus Steintal [Pseud.]: "Er starb aus freiem Entschluß. Ein Briefwechsel
mit Nekropolis." Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Horstmann.
Obertshausen: Greno). Zusammen mit Jürgen Gross gab er 1976/77 die
Literaturzeitschrift "Aqua Regia" heraus, deren Texte nach einem im ersten
Heft abgedruckten Aufruf Theodor Weißenborns "wie Salzsäure" ätzen sollten.
Einbezogen sind auch Bildseiten von Egbert von der Mehr und Timm Ulrichs,
die beide am damaligen Institut für Kunsterzieher in Münster tätig waren.
Die Rezeption seiner nachfolgend veröffentlichten literarischen Arbeiten
wurde nachhaltig geprägt bzw. vorstrukturiert durch die 1983 erschienene
Streitschrift: "Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht"
(Wien, Berlin: Medusa). Mit diesem Essay, in dem er aus "anthropofugaler"
Sicht die Geschichte der Menschheit als einen Entwicklungsgang des
Organischen zurück in unbelebte Materie interpretierte, wurde er einer
breiteren Öffentlichkeit bekannt und zu medial wirksamen Talkshows und
Symposien eingeladen (vgl. 1022/Nr. 350). Die Publizität des Traktats ist
auch im Kontext der durch den NATO-Doppelbeschluss (1979) induzierten
Aufrüstungsdebatte zu sehen, in der die von Horstmann verkündete
"Menschenleere der Nachgeschichte" eine verstörende Wirkung entfaltete. 1988
wurde Ulrich Horstmann von Günter Kunert für den renommierten Kleist-Preis
vorgeschlagen. In seiner Preisrede (1022/Nr. 355) verweist er auf die
Uneigentlichkeit des von ihm propagierten anthropofugalen Denkens: In
Anlehnung an Voltaire ("Micromégas", 1752) verkleinert er die Menschen zu
Elefantenwürmern und kann so aus "orbitaler" Perspektive Menschheit und
Menschheitsgeschichte vorurteilsloser betrachten. Horstmanns anthropofugaler
Blick ist dabei nicht militant, vielmehr melancholisch gestimmt. In vielen
Essays und Glossen arbeitet er die enge Beziehung zwischen apokalyptischem
Denken und melancholischem Temperament heraus. Einer seiner Gewährsmänner
ist Arthur Schopenhauer, der den Optimismus verwarf, weil dieser das
Schicksal der Menschen verhöhne.
Neben dem "Untier" sind für das
frühe Werk kennzeichnend seine "Nachgedichte. Minaturen aus der
Menschenleere" (Essen: Homann & Wehr, 1980; Göttingen: Herodot, 1985),
die aus der Sicht des Selbstmörders Klaus Steintal verfasst sind und letzte
Spuren menschlicher Zivilisation nach einem bereits vollzogenen Genozid
festhalten; sie postulieren eine Schönheit des Nicht-Menschlichen. In
"Steintals Vandalenpark" (Siegen: Machwerk, 1981) ist die Nachgeschichte der
Apokalypse der Bezugsrahmen einer Erzählung, die ebenfalls den (fiktiven)
Doppelgänger Klaus Steintal zum Protagonisten hat. Im Roman "Das Glück von
OmB'assa" (Suhrkamp, 1985) wird der drohende Anbruch der Apokalypse aus den
Unzulänglichkeiten des Menschenlebens abgeleitet und dadurch in seiner
Radikalität abgemildert; die Zustandsbeschreibung eines Innenraumes als
post-apokalytisches Stillleben ist Teil einer Gesellschaftssatire und
Science-Fiction-Komödie. Auch die Theaterstücke und Hörspiele, die ab 1977
entstanden, waren gattungsbedingt nicht auf eine Ästhetik der Menschenleere
zu konzentrieren; sie sind intentional bestimmt von der Dumpfheit
menschlichen Handelns.
Neben dem Kleist-Preis wurde Ulrich
Horstmann 1988 auch eine bedeutende wissenschaftlcihe Auszeichnung
zugesprochen, er erhielt ein Heisenberg-Stipendium für einen
Forschungsaufenthalt an der Georgetown University in Washington, D.C.
Außer mit eigenen literarischen Veröffentlichungen - für die er 1995 in
den deutschen P.E.N. gewählt wurde - ist Ulrich Horstmann mit Übersetzungen
und Editionen hervorgetreten. Bereits um 1975 war eine Rohübersetzung von
Ted Hughes' Gedichtband "Crow" entstanden (1022/Nr. 258); vorgesehen war
schon damals eine Veröffentlichung u.a. in der von Karl Krolow redigierten
Reihe "Das neueste Gedicht" im Bläschke Verlag Darmstadt (vgl. die
Korrespondenzen 1022/Nr. 277, 278). Nachfolgend blieb die moderne englische
und amerikanische Lyrik ein Schwerpunkt seines Interesses. 1995 erschien im
Mattes Verlag, Heidelberg, eine zweisprachige Lyrik-Ausgabe Ted Hughes in
der von Horst Meller und Joachim Utz herausgegebenen Reihe "Dichtung der
Englischsprachigen Welt". Im Zusammenhang mit der Übersetzung von Gedichten
Philip Larkins erhielt Horstmann 1999 ein Reisestipendium des Deutschen
Übersetzerfonds, um an der Universität Hull Larkins Nachlass einsehen zu
können. Nach schwierigen Bemühungen um die Autorenrechte erschien die
Larkin-Übersetzung 2002 zunächst im Selbstverlag; 2007 eine jeweils von
kurzen Übersetzungskommentaren begleitete "hybride" Ausgabe ("Das
Larkin-Projekt. Probeläufe einer hybriden Gedicht-Lektüre." Aachen: Shaker
Media). Dem amerikanischen Lyriker Robinson Jeffers widmete Horstmann
"Meditationen", in denen sich Kritik an der herkömmlichen Philologie und
Abspieglung des eigenen Schreibens in der Interpretation durchdringen
("Jeffers-Meditationen oder Die Poesie als Abwendungskunst." Heidelberg:
Mattes, 1998). Vielbeachtet war seine Neuübersetzung von Robert Burtons
"Anatomie der Melancholie" (Zürich und München: Artemis, 1988), die einige
Jahre später neu aufgelegt wurde (Frankfurt/Main: Eichborn, 2003) und die
Horstmann ergänzte durch ein Melancholie-Lesebuch "Die stillen Brüter"
(Hamburg: Junius, 1992).
Bei den literarischen Veröffentlichungen
der letzten Jahre ist das Sendungsbewußtsein des Autors merklich
zurückgenommen; die Perspektive gibt nicht mehr der anthropofugale
Weltenraum sondern die melancholisch gestimmte Innerlichkeit, deren
natürlich Verbündete die Kunst ist (vgl. 1022/Nr. 234). Dies kann auch ein
literarisches Verstummen begründen, dessen unterschiedlichste Motive und
Strategien der Literaturwissenschaftler Ulrich Horstmann in einer Studie
"Die Aufgabe der Literatur oder Wie Schriftsteller lernten, das Verstummen
zu überleben" (Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009) untersucht.
Das Stichwort dazu kam von George Steiner, der in seinem Aufsatz "Silence
and the Poet" (1966) das selbstverordnete Schweigen der artikuliertesten
Dichter und Schriftsteller als ein Phänomen der Moderne deutete.
2. Zum Bestand: Hinweise zur Bearbeitung und inhaltliche
Schwerpunkte
Der Vorlass Ulrich Horstmann wurde in Lieferungen
von 2007 bis 2018 übernommen und war grob vorgeordnet: 1. Die Manuskripte
waren jeweils als Werkeinheiten abgelegt, meistens auch datiert,
Handschriften in einzelnen Mappen aufbewahrt, Typoskripte in Klemmbindern
zusammengeführt. Als Konvolut überliefert waren Arbeitsmaterialien - frühe
Entwürfe zu Prosa- und Lyriktexten - und als Arbeitshefte (Kladden)
Aufzeichnungen zum literarischen Werk mit Eintragungen zu Aphorismen. 2. Die
Korrespondenz von 1974 bis 2011 war alphabetisch nach Briefpartnern
geordnet. 3. Als Sammlungen kamen hinzu: Belegexemplare selbständiger
Veröffentlichungen, Belege unselbständiger Veröffentlichungen
(Buchbesprechungen und Essays/Aufsätze), Mitschnitte von Hörfunk- und
Fernsehproduktionen, Rezeptionszeugnisse ("Presse-Echo") von 1977 bis 2018
in chronologischer Ordnung.
Der Bestandsklassifikation wurden die
Unterlagen zum Werk vorangestellt (01.) und in 11 Untergruppen gegliedert.
Die Zuordnung zu 01.06. (Essays und Glossen) und 01.08.
(wissenschaftlich-theoretische Beiträge) orientierte sich im Zweifel am
Textanlass bzw. Ort der Publikation, etwa in einer akademischen Festschrift
(1022/Nr. 234) oder in einem Sammelband mit Interpretationen (1022/Nr. 229).
Die zahlreichen Buchbesprechungen (01.07.) sind jeweils einzeln verzeichnet;
hier wäre auch eine Zusammenfassung nach Jahren denkbar gewesen.
Bei den Korrespondenzen (02.) wurde die vorgegebene Ordnung -
chronologisch und alphabetisch nach Briefpartnern - beibehalten; Betreffe
erschließen den Inhalt der Korrespondenzen.
Eine kleine
Bestandsgruppe Lebensdokumente (03.) enthält Überlieferungen aus Schule,
Studium und Assistentenzeit (1022/Nr. 373-375, 381).
Auch bei den
Sammlungen (04.) wurde die Vorordnung weitgehend übernommen. Die
Belegexemplare selbständiger Veröffentlichungen sind als eine
Sammlungseinheit verzeichnet (1022/Mr. 349), nicht den jeweiligen
Werkmanuskripten zugeordnet. Entsprechend wurde bei den Belegen
unselbständiger Publikationen verfahren; nur die Zeitungsabdrucke von
Buchbesprechungen liegen den einzeln verzeichneten Manuskripten in 01.07.
bei. Die Rezeptionszeugnisse wurden wie vorgegeben chronologisch erfasst
(1022/Nr. 351-354, 391). Unter den Mitschnitten sind drei
Hörspielproduktionen in 01.03. verzeichnet (1022/Nr. 30, 32, 34).
Überlieferungsschwerpunkt im Vorlass sind die Unterlagen zum Werk,
denen sich die Korrespondenzen und Sammlungen zuordnen. Die Werkgruppen
insgesamt charakterisieren den "gattungsstreunenden
Schriftstellerwissenschaftler" (U. Horstmann), der sowohl als Autor und
Literaturtheoretiker wie auch als Übersetzer, Herausgeber und
Editionsphilologe weithin Beachtung gefunden hat. Neben einer von
Poesiekonzepten geleiteten Forschung steht eine gedanklich stark
durchdrungende und mit Elementen unterschriedlichster Wissensgebiete
versetzte Literatur, die Allianzen auch bei Künstlern findet, etwa im Werk
des Wiener Malers Wolfgang Sinwel, dessen Flug- und Satellitenbilder mit
Horstmanns Denken in anthropofugaler Perspektive korrespondieren. Für seine
Schreibintention bestimmend ist ein ästhetisch-melancholisches
Ordnungsraster, das Horstmann am nachdrücklichsten in dem Aufsatz "Die Kunst
des Großen Umsonst. Melancholie als ästhetische Produktivkraft" dargestellt
hat (1022/Nr. 234). Aphoristisch verkürzt notierte er zu seinem Gesamtwerk:
"Alles bin ich immer nur teilweise gewesen: ein halber Philosoph, ein halber
Literat, ein halber Philologe. Also konnte ich auch den anderen
Hundertfünfzigprozentigen immer nur zu einem Drittel in die Hände fallen
("Infernodrom. Programm-Mitschnitte aus dreizehn Jahren." Paderborn: Igel
Verlag Literatur, 1994, S. 48).
3. Literaturhinweise
Verwiesen sei auf den Eintrag zu Ulrich Horstmann in der Datenbank
"Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren"
(www.lwl.org/literaturkommission/alex/index.php) auf der Grundlage und in
Fortführung des vierbändigen "Westfälischen Autorenlexikons 1750-1950"
(Paderborn: Schöningh Verlag, 1993-2002). Eine Bibliographie enthält ferner
die Studie von Rajan Autze und Frank Müller: "Steintal-Geschichten.
Auskünfte zu Ulrich Horstmann" (Oldenburg: Igel Verlag Wissenschaft, 2000),
ein Kommentarband zu dem vielschichtigen, ebenso komplexen wie heterogenen
Gesamtwerk. Auf der von Frank Müller redigierten Website zu Ulrich Horstmann
(www.untier.de) sind auch die jüngsten Veröffentlichungen von und über ihn
nachgewiesen; die Website bietet zudem Auszüge aus Texten sowie Bild-,
Audio- und Videodateien.
Zitierweise: Westfälisches
Literaturarchiv, Best. 1022/lfd. Nr.
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1022
- Context
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Westfälisches Literaturarchiv (Archivtektonik) >> Schriftsteller
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1964-2022
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05.11.2025, 1:59 PM CET
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- 1964-2022