Bestand
1022 / Prof. Dr. Ulrich Horstmann (Bestand)
Bestandsbeschreibung: Werkmanuskripte,
Korrespondenzen, Sammlungen (v. a. "Presse-Echo", Belegexemplare
Veröffentlichungen)
Form und Inhalt: Vorwort:
Der literarische Vorlass des Schriftstellers und
Hochschullehrers für Englische und Amerikanische Literatur Ulrich Horstmann
wurde aufgrund eines Depositalvertrages vom 17./21. August 2007 in das
Westfälische Literaturarchiv im LWL-Archivamt für Westfalen übernommen. Der
Vorlass umfasst 376 Verzeichnungseinheiten mit Unterlagen von 1964 bis 2012.
Der Bestand ist benutzbar im Lesesaal des LWL-Archivamtes und zu bestellen
bzw. zu zitieren als: Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt für
Westfalen (WLA), Bestand 1022/Nr. [...].
1.
Biographische Anmerkungen
Ulrich Horstmann wurde am
31. Mai 1949 im ostwestfälischen Bünde geboren. Ab dem Sommersemester 1968
studierte er Anglistik, Philosophie, Pädagogik und Geschichte an der
Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promovierte 1974 mit einer
Arbeit über Edgar Allan Poe ("Ansätze zu einer technomorphen Theorie der
Dichtung bei Edgar Allan Poe." Bern und Frankfurt/Main: Peter Lang, 1975).
Bereits seit 1973 verwaltete er eine wissenschaftliche Assistentenstelle am
Englischen Seminar der Universität Münster; während seiner Assistentenzeit
erhielt er 1977 ein "Research Fellowship" an der Universität von Pretoria in
Südafrika. Nach seiner Habilitation (Habilitationsschrift: "Ästhetizismus
und Dekadenz. Zum Paradigmakonflikt in der englischen Literaturtheorie des
späten 19. Jahrhunderts." München: Wilhelm Fink, 1983) war er bis 1987
Hochschullehrer am Englischen Seminar in Münster und ist seit 1991 Professor
für Neuere Englische und Amerikanische Literatur an der
Justus-Liebig-Universität Gießen, mit Gastprofessuren an der Universität von
Wisconsin/USA in Madison (1993) und Milwaukee (1996 und 1999). Seit 1992
lebt Ulrich Horstmann in Marburg an der Lahn.
Schon
während seiner Gymnasialzeit schrieb er Prosa- und Lyriktexte und sandte die
Manuskripte an renommierte Verlage und Redaktionen von Zeitschriften (vgl.
1022/Nr. 265, 266, 268). Einen für sein Literaturverständnis wichtigen
Aufsatz veröffentlichte er 1975 ("Science Fiction - Vom Eskapismus zur
anthropofugalen Literatur"), in dem er die These vertrat, qualifizierte
Science Fiction sei der Vorläufer einer neuen, von ihm "anthropofugal"
genannten Literatur, die Entsprechungen habe in der modernen bildenden Kunst
und der strukturalistischen Philosophie. 1976 erschien eine erste
selbständige Veröffentlichung, mit der er seine eigenen Jugendschriften als
literarischen Nachlass eines (fiktiven) jungen Selbstmörders herausgab
(Klaus Steintal [Pseud.]: "Er starb aus freiem Entschluß. Ein Briefwechsel
mit Nekropolis." Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Horstmann.
Obertshausen: Greno). Zusammen mit Jürgen Gross gab er 1976/77 die
Literaturzeitschrift "Aqua Regia" heraus, deren Texte nach einem im ersten
Heft abgedruckten Aufruf Theodor Weißenborns "wie Salzsäure" ätzen sollten.
Einbezogen sind auch Bildseiten von Egbert von der Mehr und Timm Ulrichs,
die beide am damaligen Institut für Kunsterzieher in Münster tätig waren.
Die Rezeption seiner nachfolgend veröffentlichten literarischen Arbeiten
wurde nachhaltig geprägt bzw. vorstrukturiert durch die 1983 erschienene
Streitschrift: "Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht"
(Wien, Berlin: Medusa). Mit diesem Essay, in dem er aus "anthropofugaler"
Sicht die Geschichte der Menschheit als einen Entwicklungsgang des
Organischen zurück in unbelebte Materie interpretierte, wurde er einer
breiteren Öffentlichkeit bekannt und zu medial wirksamen Talkshows und
Symposien eingeladen (vgl. 1022/Nr. 350). Die Publizität des Traktats ist
auch im Kontext der durch den NATO-Doppelbeschluss (1979) induzierten
Aufrüstungsdebatte zu sehen, in der die von Horstmann verkündete
"Menschenleere der Nachgeschichte" eine verstörende Wirkung entfaltete. 1988
wurde Ulrich Horstmann von Günter Kunert für den renommierten Kleist-Preis
vorgeschlagen. In seiner Preisrede (1022/Nr. 355) verweist er auf die
Uneigentlichkeit des von ihm propagierten anthropofugalen Denkens: In
Anlehnung an Voltaire ("Micromégas", 1752) verkleinert er die Menschen zu
Elefantenwürmern und kann so aus "orbitaler" Perspektive Menschheit und
Menschheitsgeschichte vorurteilsloser betrachten. Horstmanns anthropofugaler
Blick ist dabei nicht militant, vielmehr melancholisch gestimmt. In vielen
Essays und Glossen arbeitet er die enge Beziehung zwischen apokalyptischem
Denken und melancholischem Temperament heraus. Einer seiner Gewährsmänner
ist Arthur Schopenhauer, der den Optimismus verwarf, weil dieser das
Schicksal der Menschen verhöhne.
Neben dem "Untier"
sind für das frühe Werk kennzeichnend seine "Nachgedichte. Minaturen aus der
Menschenleere" (Essen: Homann & Wehr, 1980; Göttingen: Herodot, 1985),
die aus der Sicht des Selbstmörders Klaus Steintal verfasst sind und letzte
Spuren menschlicher Zivilisation nach einem bereits vollzogenen Genozid
festhalten; sie postulieren eine Schönheit des Nicht-Menschlichen. In
"Steintals Vandalenpark" (Siegen: Machwerk, 1981) ist die Nachgeschichte der
Apokalypse der Bezugsrahmen einer Erzählung, die ebenfalls den (fiktiven)
Doppelgänger Klaus Steintal zum Protagonisten hat. Im Roman "Das Glück von
OmB'assa" (Suhrkamp, 1985) wird der drohende Anbruch der Apokalypse aus den
Unzulänglichkeiten des Menschenlebens abgeleitet und dadurch in seiner
Radikalität abgemildert; die Zustandsbeschreibung eines Innenraumes als
post-apokalytisches Stillleben ist Teil einer Gesellschaftssatire und
Science-Fiction-Komödie. Auch die Theaterstücke und Hörspiele, die ab 1977
entstanden, waren gattungsbedingt nicht auf eine Ästhetik der Menschenleere
zu konzentrieren; sie sind intentional bestimmt von der Dumpfheit
menschlichen Handelns.
Neben dem Kleist-Preis wurde
Ulrich Horstmann 1988 auch eine bedeutende wissenschaftlcihe Auszeichnung
zugesprochen, er erhielt ein Heisenberg-Stipendium für einen
Forschungsaufenthalt an der Georgetown University in Washington, D.C.
Außer mit eigenen literarischen Veröffentlichungen - für
die er 1995 in den deutschen P.E.N. gewählt wurde - ist Ulrich Horstmann mit
Übersetzungen und Editionen hervorgetreten. Bereits um 1975 war eine
Rohübersetzung von Ted Hughes' Gedichtband "Crow" entstanden (1022/Nr. 258);
vorgesehen war schon damals eine Veröffentlichung u.a. in der von Karl
Krolow redigierten Reihe "Das neueste Gedicht" im Bläschke Verlag Darmstadt
(vgl. die Korrespondenzen 1022/Nr. 277, 278). Nachfolgend blieb die moderne
englische und amerikanische Lyrik ein Schwerpunkt seines Interesses. 1995
erschien im Mattes Verlag, Heidelberg, eine zweisprachige Lyrik-Ausgabe Ted
Hughes in der von Horst Meller und Joachim Utz herausgegebenen Reihe
"Dichtung der Englischsprachigen Welt". Im Zusammenhang mit der Übersetzung
von Gedichten Philip Larkins erhielt Horstmann 1999 ein Reisestipendium des
Deutschen Übersetzerfonds, um an der Universität Hull Larkins Nachlass
einsehen zu können. Nach schwierigen Bemühungen um die Autorenrechte
erschien die Larkin-Übersetzung 2002 zunächst im Selbstverlag; 2007 eine
jeweils von kurzen Übersetzungskommentaren begleitete "hybride" Ausgabe
("Das Larkin-Projekt. Probeläufe einer hybriden Gedicht-Lektüre." Aachen:
Shaker Media). Dem amerikanischen Lyriker Robinson Jeffers widmete Horstmann
"Meditationen", in denen sich Kritik an der herkömmlichen Philologie und
Abspieglung des eigenen Schreibens in der Interpretation durchdringen
("Jeffers-Meditationen oder Die Poesie als Abwendungskunst." Heidelberg:
Mattes, 1998). Vielbeachtet war seine Neuübersetzung von Robert Burtons
"Anatomie der Melancholie" (Zürich und München: Artemis, 1988), die einige
Jahre später neu aufgelegt wurde (Frankfurt/Main: Eichborn, 2003) und die
Horstmann ergänzte durch ein Melancholie-Lesebuch "Die stillen Brüter"
(Hamburg: Junius, 1992).
Bei den literarischen
Veröffentlichungen der letzten Jahre ist das Sendungsbewußtsein des Autors
merklich zurückgenommen; die Perspektive gibt nicht mehr der anthropofugale
Weltenraum sondern die melancholisch gestimmte Innerlichkeit, deren
natürlich Verbündete die Kunst ist (vgl. 1022/Nr. 234). Dies kann auch ein
literarisches Verstummen begründen, dessen unterschiedlichste Motive und
Strategien der Literaturwissenschaftler Ulrich Horstmann in einer Studie
"Die Aufgabe der Literatur oder Wie Schriftsteller lernten, das Verstummen
zu überleben" (Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009) untersucht.
Das Stichwort dazu kam von George Steiner, der in seinem Aufsatz "Silence
and the Poet" (1966) das selbstverordnete Schweigen der artikuliertesten
Dichter und Schriftsteller als ein Phänomen der Moderne deutete.
2. Zum Bestand: Hinweise zur Bearbeitung und inhaltliche
Schwerpunkte
Der Vorlass Ulrich Horstmann wurde in
Lieferungen von 2007 bis 2012 übernommen und war grob vorgeordnet: 1. Die
Manuskripte waren jeweils als Werkeinheiten abgelegt, meistens auch datiert,
Handschriften in einzelnen Mappen aufbewahrt, Typoskripte in Klemmbindern
zusammengeführt. Als Konvolut überliefert waren Arbeitsmaterialien - frühe
Entwürfe zu Prosa- und Lyriktexten - und als Arbeitshefte (Kladden)
Aufzeichnungen zum literarischen Werk mit Eintragungen zu Aphorismen. 2. Die
Korrespondenz von 1974 bis 2007 war für jedes Jahr aphabetisch nach
Briefpartnern geordnet. 3. Als Sammlungen kamen hinzu: Belegexemplare
selbständiger Veröffentlichungen, Belege unselbständiger Veröffentlichungen
(Buchbesprechungen und Essays/Aufsätze), Mitschnitte von Hörfunk- und
Fernsehproduktionen, Rezeptionszeugnisse ("Presse-Echo") von 1977 bis 2007
in chronologischer Ordnung.
Der
Bestandsklassifikation wurden die Unterlagen zum Werk vorangestellt (01.)
und in 10 Untergruppen gegliedert. Die Zuordnung zu 01.06. (Essays und
Glossen) und 01.08. (wissenschaftlich-theoretische Beiträge) orientierte
sich im Zweifel am Textanlass bzw. Ort der Publikation, etwa in einer
akademischen Festschrift (1022/Nr. 234) oder in einem Sammelband mit
Interpretationen (1022/Nr. 229). Die zahlreichen Buchbesprechungen (01.07.)
sind jeweils einzeln verzeichnet; hier wäre auch eine Zusammenfassung nach
Jahren denkbar gewesen.
Bei den Korrespondenzen (02.)
wurde die vorgegebene Ordnung - chronologisch und alphabetisch nach
Briefpartnern - beibehalten; Betreffe erschließen den Inhalt der
Korrespondenzen.
Eine kleine Bestandsgruppe
Lebensdokumente (03.) enthält Überlieferungen aus Studium und
Assistentenzeit (1022/Nr. 373-375).
Auch bei den
Sammlungen (04.) wurde die Vorordnung weitgehend übernommen. Die
Belegexemplare selbständiger Veröffentlichungen sind als eine
Sammlungseinheit verzeichnet (1022/Mr. 349), nicht den jeweiligen
Werkmanuskripten zugeordnet. Entsprechend wurde bei den Belegen
unselbständiger Publikationen verfahren (1022/Nr. 355); nur die
Zeitungsabdrucke von Buchbesprechungen liegen den einzeln verzeichneten
Manuskripten in 01.07. bei. Die Rezeptionszeugnisse wurden wie vorgegeben
chronologisch erfasst (1022/Nr. 351-354). Unter den Mitschnitten sind drei
Hörspielproduktionen in 01.03. verzeichnet (1022/Nr. 30, 32, 34).
Überlieferungsschwerpunkt im Vorlass sind die Unterlagen
zum Werk, denen sich die Korrespondenzen und Sammlungen zuordnen. Die
Werkgruppen insgesamt charakterisieren den "gattungsstreunenden
Schriftstellerwissenschaftler" (U. Horstmann), der sowohl als Autor und
Literaturtheoretiker wie auch als Übersetzer, Herausgeber und
Editionsphilologe weithin Beachtung gefunden hat. Neben einer von
Poesiekonzepten geleiteten Forschung steht eine gedanklich stark
durchdrungende und mit Elementen unterschriedlichster Wissensgebiete
versetzte Literatur, die Allianzen auch bei Künstlern findet, etwa im Werk
des Wiener Malers Wolfgang Sinwel, dessen Flug- und Satellitenbilder mit
Horstmanns Denken in anthropofugaler Perspektive korrespondieren. Für seine
Schreibintention bestimmend ist ein ästhetisch-melancholisches
Ordnungsraster, das Horstmann am nachdrücklichsten in dem Aufsatz "Die Kunst
des Großen Umsonst. Melancholie als ästhetische Produktivkraft" dargestellt
hat (1022/Nr. 234). Aphoristisch verkürzt notierte er zu seinem Gesamtwerk:
"Alles bin ich immer nur teilweise gewesen: ein halber Philosoph, ein halber
Literat, ein halber Philologe. Also konnte ich auch den anderen
Hundertfünfzigprozentigen immer nur zu einem Drittel in die Hände fallen
("Infernodrom. Programm-Mitschnitte aus dreizehn Jahren." Paderborn: Igel
Verlag Literatur, 1994, S. 48).
3.
Literaturhinweise
Verwiesen sei auf den Eintrag zu
Ulrich Horstmann in der Datenbank "Lexikon Westfälischer Autorinnen und
Autoren" (www.lwl.org/literaturkommission/alex/index.php) auf der Grundlage
und in Fortführung des vierbändigen "Westfälischen Autorenlexikons
1750-1950" (Paderborn: Schöningh Verlag, 1993-2002). Eine Bibliographie
enthält ferner die Studie von Rajan Autze und Frank Müller:
"Steintal-Geschichten. Auskünfte zu Ulrich Horstmann" (Oldenburg: Igel
Verlag Wissenschaft, 2000), ein Kommentarband zu dem vielschichtigen, ebenso
komplexen wie heterogenen Gesamtwerk. Auf der von Frank Müller redigierten
Website zu Ulrich Horstmann (www.untier.de) sind auch die jüngsten
Veröffentlichungen von und über ihn nachgewiesen; die Website bietet zudem
Auszüge aus Texten sowie Bild-, Audio- und Videodateien.
Zitierweise: Westfälisches Literaturarchiv, Best. 1022/lfd.
Nr.
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1022
- Context
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Westfälisches Literaturarchiv (Archivtektonik) >> Schriftsteller
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1962-2016
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22.08.2024, 3:15 PM CEST
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- 1962-2016