Archivale

Zeitzeugengespräch mit Ferdinand Karpf, Jahrgang 1930, geführt von Matthias Klotz

Enthält:
0.30 Das Elternhaus stand in der Emilienstraße 32, die früher eine Sackgasse war, heute ist sie durchgebaut bis in die Clemensstraße, früher begann sie mit der Hausnummer 30
1.05 Die Wohnfläche betrug 6 x 8 Meter, 48 umbaute Quadratmeter. Die Mansarde
war nicht ausgebaut, sie wurde erst später von den Eltern ausgebaut
1.35 Das Haus wurde von der Gagfa gebaut, kostete 25.000 RM. Es ging über die
Angestelltenversicherung
2.30 Ferdinand Karpf zog 1954 aus. Die Eltern zogen mit einer der Töchter in den
Bessenbacher Weg.
3.00 Beim Bau der Häuser war es wie im Strietwald: Es war schon bekannt, wer die
Eigentümer waren, aber gebaut hat es die Gagfa nach einem einheitlichen Stil
3.50 Mit der Währungsreform 1948 haben die Eltern erst die letzte Rate bezahlt
4.00 Hugo Karpf wurde 1933 zunächst einmal arbeitslos, er durfte nur als Hilfsarbeiter arbeiten, die Tilgung für das Haus war auf den Mindestsatz heruntergeschraubt
4.30 Früher hatte man eine Hypothek auf das Haus, die auf 30 Jahre ausgelegt ist,
heute sind es weniger
5.05 Das Familienleben war relativ unbelastet. Die Kinder haben fast problemlos
gelebt
5.30 Für Ferdinand Karpf waren die Kinderjahre interessant, actionähnlich mit
besonderen Aktionen. Als Schulbuben haben sie genauso die Juden
verspottet wie die Großen auch. Das hat man daheim aber nicht verraten,
damit man keine Schelte kriegt. Die Kinder wussten, dass die Eltern da anders
gedacht haben
6.15 Hätte Hitler gesiegt - die Jugend wäre so in den Hitlerjargon hineingewachsen, dass sie das gar nicht hätten trennen können
6.35 Ferdinand Karpf kam durch ein Ereignis beim Jungvolk zu seiner Anti-Hitler-Einstellung: Beim Antreten des Jungvolks kam sein Cousin Heribert Karpf zu spät und wurde so von dem Bannführer geschwänzt (= getrietzt): Er hat ihn hinlegen lassen, aufstehen lassen, und beim 4., 5. Mal ist er einfach aufgestanden und ist heimgegangen. Der Fähnleinführer hat sich bemüht, ihn zurückzuholen, aber es gelang ihm nicht. Das war für Ferdinand Karpf der Wendepunkt, er hat sich gesagt: "Etwas stimmt an dem Laden nicht". Ferdinand Karpf war da 12, 13 Jahre alt. Heribert war Jahrgang 1929
10.20 Die Wandlung des Bannführers: Er hat Heribert Karpf nie mehr angegangen,
er hat ihn nie mehr schikaniert, weil er selber etwas in Bedrängnis kam.
Ferdinand Karpf weiß nicht, ob das von den Eltern reklamiert worden ist
oder wie es zu dieser Wandlung kam
7.50 Ferdinand und Heribert Karpf, Cousins, wohnten nicht weit auseinander. Sie kannten sich, als wenn sie Geschwister wären. Beim Heribert war es immer so, er hat was erfunden, bei ihm wurde geraucht, Zigaretten wurde aus Heu gedreht, für solche Sachen war Heribert immer zugänglich
8.20 Wenn Heribert von seinem Vater einen Auftrag bekommen hatte und hatte
ihn nicht ordnungsgemäß ausgeführt, hat er Prügel bekommen
8.50 In der Schule wurde kontrolliert, ob sie antreten waren. Man musste antreten,
das war eine Anordnung der Schulleitung - "mein Vater hat mich nicht
gelassen, denn der Vater hatte einen Acker, da wurde Getreide und Kartoffeln
angepflanzt". Der Hilfsarbeiterlohn reichte nicht, bei sechs Kindern
9.55 Weil Ferdinand Karpf nicht beim Antreten war, musste der Vater zum
"Banngericht" und musste sich dort rechtfertigen, warum er den Kindern nicht
erlaubt hat, antreten zu gehen
11.05 Beim Jungvolk war jede Woche ein Appell zum Antreten, zwei Stunden lang
11.25 Ferdinand Karpf war beim Fähnlein Schill, da gab es einen gewissen "Back",
der war früher Fähnleinführer und ist dann vom Feld in den Urlaub gekommen.
11.40 Er hat erzählt, dass wenn es heißt: "Nach rechts oder links müssen die Köpfe fliegen - dann müssen die Köpfe fliegen, dann muss der Kopf sich drehen, dass der Rotz am nächsten Baum hängt!" Das hat dazu beigetragen, dass Ferdinand Karpf sich gedacht hat: "Ist das eine Redensart? Ist das ein Stil? Was ist das?"
12.15 Die Gesinnung der Familie war in der Verwandtschaft bekannt, dass den Eltern geschrieben wurde, der Vater solle doch seine Gesinnung umstellen, der Hitler wäre nicht ganz so schlimm und der Vater solle sich auf den Hitler einstellen
12.45 Es waren alles Ortschaften, die sozial schwach waren. Die Siedlung ist ja ein
Beispiel dafür. So hat Hitler hat die unteren Volksschichten für sich gewonnen.
Er hat bis 1936 Wohnungen gebaut, dann ist es eingestellt worden.
13.20 Die Strietwälder waren alle Anhänger des Nationalsozialismus. Martin Hennig
ist als Bürgermeister der Strietwaldsiedlung gefeiert worden
13.35 1934/35 ist Ferdinand Karpf von Hennig einmal angegangen worden: Wenn er
sich nicht umstellen würde und ruhig wäre, würde er ihn anzeigen (siehe auch
19.55)
13.45 Martin Hennig war nach dem Krieg wieder "Bürgermeister vom Strietwald"
13.50 Die Strietwälder haben ihre Gesinnung miteinander getragen und verteidigt
14.00 Jeder Siedler hatte etwa 1000 Quadratmeter, es war so ausgerichtet, dass
die Siedler sich Schweine, Ziegen oder Schafe halten konnten, zur Selbst-
versorgung
14.35 Die Strietwald-Siedlung hatte keine Kanalisation, keine Wasserspülung,
es gab überall Plumpsklos
14.50 "Hitler wusste schon, was er wo wie machen kann"
15.00 Hitler hat gezielt die Massen manipuliert, er verstand es, mit den Massen
umzugehen
15.20 Ferdinand Karpf ist überrascht, dass das [der Nationalsozialismus] nie ein
besonderes Thema war
15.30 Die Kinder wussten: Was daheim geredet wird, wird nicht nach draußen
getragen
15.35 Die Kinder wussten, dass der Vater schwarz hört: Er hat sich im Speicher
eine Ecke gesucht, wo er Radio hören konnte und saß oben in Decken
eingehüllt, dass auch nichts nach draußen dringt
16.00 Hugo Karpf war von Beruf Zuschneider und durfte zunächst nicht in seinem
Beruf arbeiten, obwohl er den Beruf dafür erbracht hat, aber den Lohn durfte
er nicht erhalten
16.30 Ganz allgemein war der Lebensstandard sehr primitiv. Die Familie ist nicht außergewöhnlich aufgefallen. Besonders im Krieg war die Armut war groß
17.10 Hugo Karpf hat die Öffentlichkeit, die ihn beobachten könnte, gemieden
17.25 Die Familie wohnte in der Obernauer Kolonie und gehörte zur Muttergottes-
Pfarrkirche. Die Eltern sind aber bei den Kapuzinern in die Kirche gegangen,
weil sie in der Muttergottespfarrei zu bekannt waren
17.40 Er hat befürchtet, dass der Pfarrer durch oberflächliche Äußerungen etwas
verraten könnte und er dadurch in Schwierigkeiten kommen könnte
17.55 1933/34 verunglückte Hugo Karpf mit dem Motorrad und hatte einen
Beckenbruch. Er lag mit Gips im Haus und sie wollten ihn verhaften. Da
musste erst durch einen Arzt belegt werden, dass er nicht haftfähig ist!
18.30 Es muss noch vor dem Verbot der Gewerkschaften 1935 gewesen sein,
denn er hatte oben an der Ecke bei "Schostek" sein Gewerkschafts-Büro. Er
ist über den Rossmarkt heimgefahren und in der Ohmbachsgasse ist ihm
jemand in die Quere gefahren. Hugo Karpf flog vom Motorrad und zog sich
einen Beckenbruch zu
19.25 Hugo Karpf ist wegen politischer Unzuverlässigkeit verhaftet worden
19.35 Karpf war 1932/33 noch im Reichstag. Er hatte für eine Versammlung ein
Plakat entworfen und dafür sollte er verhaftet werden
19.55 Martin Hennig hat zu ihm gesagt, wenn er nicht ruhig wäre, würde er ihn
Anzeigen (siehe auch 13.35)
20.05 Hugo Karpf setzte sich vor allem für die Heimarbeiter ein und hatte sich
bemüht, mit den Heimarbeitern auch politisch sich ein bisschen auszu-
tauschen
20.20 Ebersbach und Leidersbach waren sehr katholische Ortschaften, die
auch zu begeistern waren, etwas vorsichtig mit Hitler umzugehen
20.35 Es gab mehrere Hausdurchsuchungen
20.55 Bei einer Hausdurchsuchung hatten sie einen Ordner aufgeschlagen, wo
Hugo Karpfs Gehaltsabrechnungen drin waren. Beamter: "Was ist denn
das für Zeug?" - Die Mutter: "Ja, das sind die Bonzen-Gehälter!" Die
Gehälter waren bei der Gewerkschaft allgemein nicht so hoch
21.25 Ferdinand Karpf ist in der Cornelienstraße eingeschult worden, das war
eine Barackenschule, in der Dinglerstraße gleich links
22.20 Das 2. Schuljahr war Karpf im Schönborner Hof, ab dem 3. Schuljahr in der
Luitpoldschule, dann kam er in die Oberrealschule, die dann ausgebombt
worden ist
22.40 Ferdinand Karpf war kein akribisch eifriger Schüler in dem Sinne
22.50 Für Sachen, wofür er sich interessiert hat, konnte er gerne und viel schaffen,
aber für Sachen, die ihn nicht interessiert haben, haben ihn nicht begeistert
23.00 Nachdem die Oberrealschule bombardiert wurde, ist sie ausquartiert worden
23.15 Mit dem April 1945 hätte sein Jahrgang das Schuljahr beendet. Im September
/ Oktober 1944 hieß es: Wer nicht weiterstudieren will, geht zum Arbeitsamt
und sucht sich eine Arbeit. "Es werden Leute gebraucht"
24.10 Da sich der Krieg schon hinten und vorne abgezeichnet hat, haben überall
Arbeitskräfte gefehlt
24.30 Zu dieser Zeit ging Karpf von der Schule weg ans Arbeitsamt. Er wollte
Groß- und Einzelhändler werden, diese wurden damals gesucht
24.45 Ursprünglich wollte Karpf Rundfunkmechaniker werden, aber die wurden
nicht gebraucht, also wurde er Groß- und Einzelhändler
25.35 Der Kriegsausbruch 1939 hatte in der Familie keine große Rolle gespielt
25.50 Irgendwann hat der Vater gesagt: "Au, jetzt wird's gefährlich!"
25.55 Das ganze Volk war begeistert, wie die Soldaten in den Krieg zogen
26.20 Den Krieg haben die Kinder interessiert beobachtet, in der Emilienstraße
hatte man freie Sicht nach Frankfurt. Wenn in Frankfurt Bomben fielen,
da hatte man hier die Blitze und die Geräusche gehört!
26.45 Am Himmel hatte man die Rötung gesehen
27.00 Vom Schlafzimmer aus beobachteten die Kinder die Angriffe auf Frankfurt
27.15 Hugo Karpf ist 1939 zur Wehrmacht eingezogen worden. Er hat für sich
notiert, dass es eigenartig ist, zur Musterung von Pferden eingezogen zu
werden, "da ist die Gesinnung nicht so schlimm, die kann man nicht
bekehren"
27.50 Hugo Karpf war bei der Wehrmachtsmusterung, sie war dem Wehr-
bezirkskommando Aschaffenburg untergeordnet. Nach einem Jahr brauchten
sie keine Pferde mehr oder wurden keine Musterungen mehr durchgeführt,
dann wurde er ins Wehrbezirkskommando versetzt
28.35 Nachdem er Schreibmaschine und Steno konnte, ist er gleich zum "Ober-
kommandierenden" gekommen. Das müsste der ehemalige Schulleiter der
Landwirtschaftsschule in Damm gewesen sein, 29.55: Er hieß "Stadler"
29.05 Er hat Hugo Karpfs Gesinnung "ertastet" und hat ihn 1942 - als immer
schärfer nach Hitler-Gegnern gesucht worden ist - nach Dieburg versetzt
29.35 Hugo Karpf führte die Pferdemusterung für den Umkreis von Aschaffenburg
(Aschaffenburg, bis nach Miltenberg) durch
30.25 Hugo Karpf war dann nur noch am Samstag und Sonntag daheim in
Aschaffenburg
30.55 (Hugo Karpf war praktisch auf einem Abseits-Posten:) So einen guten
Gedankenaustausch hatte man damals noch nicht
31.15 Hugo Karpf musste in Dieburg die Musterung organisieren, die Wehrtüchtig-
keit feststellen, Personen den Waffengattungen zuteilen
31.30 Es war so ein bisschen die Heeresverwaltung der örtlichen Bevölkerung
31.50 Je näher 1944 die Front ins Land kam, umso mehr sind die Bedrängten auch
zurückversetzt worden in sichere Gebiete
32.15 Wie die Amerikaner schon am Rhein waren, ist das Wehrbezirkskommando
von Dieburg nach Kleinheubach versetzt worden, in den Löwenstein'schen
Park, da sind sie geblieben, bis die Amis in Darmstadt waren
32.45 Wie die Amis in Darmstadt waren, haben sie ihre Wägen bepackt und sind
Zug um Zug nach Tuntenhausen gezogen, in Tuntenhausen haben sie sich
gegenseitig entlassen
33.20 Ferdinand Karpf hatte einen Lehrer Zöller oder Zöllinger, ein prägender
Lehrer war für ihn der Lehrer Thiem
34.05 Von den Lehrern hat's politisch keine Stellungnahmen gegeben, politisch
waren die Schuljahre keine Lehrjahre
34.20 Ferdinand Karpf erinnert sich noch an den Einsturz der Kuppel der Synagoge.
Es war in der Schulzeit, etwa 10 - 11 Uhr, es hat einen Riesen-Explosions-
Krach gegeben, wo man nicht wusste, wo kommt jetzt dieser Donnerschlag
her? Nach der Schule sind die Schüler dann rüber (von der Luitpoldschule,
genau hinter den gegenüber liegenden Häusern, gerade 50 Meter entfernt)
35.20 Jeder, der irgendwie in Aschaffenburg gewohnt hat, war dort und hat das
gesehen
35.35 Der Donnerschlag war derart weit zu hören, dass es schon überraschend
war
36.00 Natürlich mussten die Juden ihren Stern tragen, aber F. Karpf kann nicht
sagen, dass die Aschaffenburger besonders judenfeindlich gewesen
wären
36.15 Vom Namen her hat Karpf ein paar Juden gekannt, aber nicht persönlich.
Er weiß, dass sein Vater mit einem Levi persönlich Kontakt hatte. Die Eltern
waren von den kommoden Zahlungsbedingungen begeistert (dass es so
günstig war)
37.10 Die ganzen gravierenden (= großen) Geschäfte waren alles Judengeschäfte:
Kaufhaus Winkelmann, Kaufhaus Schostek, Kaufhaus Mathias Löwenthal,
er glaubt, in der Frohsinnstraße waren größtenteils Judengeschäfte
37.55 Für die Zeit vor 1933 kann er nichts sagen, aber in seiner Kindheit waren die
Juden Bürger wie jeder andere. "Da sind die evangelischen Christen mehr
aufgefallen wie die Juden!"
38.25 Im Unterricht waren katholische und evangelische Schüler zusammen, die
Evangelischen gingen aber in einen Extra-Religionsunterricht, "das waren
andere Menschen!"
38.45 Karpf hat lange geglaubt, dass man bei den evangelischen Christen den
Glauben an den Gesichtern ablesen könne, sie hatten so blasse Gesichter!
39.20 Ich habe den Bruder von Heribert Karpf, Hugo Karpf (1931-2022) gut
gekannt, weil er im Arbeitskreis zur Familienforschung und von 2002 - 2017
in der Vorstandschaft des Geschichts- und Kunstvereins war; der jüngere
Bruder Bruno Karpf hat auch schon im Stadt- und Stiftsarchiv geforscht
39.45 Bruno - er wohnt in Mainaschaff, Maria und Renata, drei Geschwister sind
jetzt noch da
39.55 Ferdinand Karpf kann sich noch gut an den ersten Fliegeralarm erinnern:
Über die Seibert-Werke kam das Geräusch, als wenn ein schwerer Güterzug
käme. Es war ein richtiges Rumpeln, fast ein donnerähnliches Geräusch.
Die Luftmine ging in der Parallelstraße zur Herrleinstraße an einem Eckhaus runter. Das muss einen Baufirmenbesitzer Scheuermann getroffen haben
41.40 Aschaffenburg kam erst 1943/44 stärker unter Beschuss, am schlimmsten hat
es ja Damm getroffen, am 21. November 1944
42.00 Es gab jeweils einen Voralarm und einen Hauptalarm
42.10 Wenn sie zu Hause waren, sind sie bei einem Fliegerangriff in den eigenen
Keller gegangen. Die Kellerfenster wurden etwas abgeblendet, damit der
Luftdruck nicht reinkann
42.40 Karpf hat 1944 den Bombenangriff auf die Dalbergstraße erlebt. Er hat bei
Giegerich (Trockenbrodt) gelernt
43.15 Während des Tages sind die Leute durch die Gasse gegangen und wenn
Alarm war, ist alles gerannt
43.40 (Auf die Frage, ob es nach einem abendlichen Fliegeralarm am nächsten Tag schulfrei gab:) Der Schulbetrieb ist überhaupt nicht auf die Fliegerangriffe eingestellt worden
43.50 Wenn jemand gefehlt hat, hat meistens der Nachbar gewusst, wo er ist.
Ansonsten ist der Schulunterricht täglich weitergegangen
44.00 Für Ferdinand Karpf war die Zäsur die Bombardierung der Oberrealschule,
danach war der Schulbetrieb ein anderer, wie auch bei allen Schulen
44.25 Wenn man in der Stadt unterwegs war und es war Fliegeralarm, dann hat
man gesucht, wo der nächste Luftschutzkeller war
44.45 Ende 1943 ist die Bombardierung intensiver geworden, man hat mehrfach
versucht, die Seibert-Werke zu treffen und hat sie nicht gefunden
44.05 Man hat versucht, die Bahn zu stören, hat sie aber nicht gravierend
geschädigt
45.20 Für die Buben war der Fliegeralarm nicht so schlimm, "dass du vor Angst in den Keller gekrochen bist". "Du bist draußen gewesen, bis du gemerkt hast: Es passiert was".
45.45 Beim Fliegerangriff auf Schweinfurt sind die Flieger geschwaderweise über
Aschaffenburg geflogen, "Wie wenn Sie Vogelschwärme da oben sehen
würden!", es waren nicht hundert, sondern hunderte von Fliegern
46.30 Sie haben Schweinfurt sehr beschädigt
46.40 Der Angriff war nachmittags, Ferdinand Karpf stand auf der Gasse: Man
hat keine Flak gehört, kein Geschoss, sie sind spurlos darüber geflogen
47.05 Dass Damm so schwer getroffen wurde, liegt daran, dass der Bahnhof
getroffen werden sollte, aber der Wind hat die Christbäume nach Damm
geweht, so wurden die Bomben über Damm abgeworfen
47.25 Wenn ein Fliegeralarm mal eine Stunde gedauert hat, war es viel! Meistens
dauerte es eine halbe bis eine ganze Stunde
47.55 Die Flugzeuge mussten irgendwann wieder umkehren, die Leistungsfähigkeit
für die Strecke war nicht so hoch
48.05 Die Eltern haben die ganze Familie 1942 nach Kleinwallstadt ausquartiert (=
evakuiert), sie sind zu einer Tante gezogen, siehe auch 51.00
48.35 Bei der Fa. Giegerich Nachfolger (Trockenbrodt) wurde der Großhandel
nach Klingenberg verlegt, der Einzelhandel war an der Ecke Riesengasse /
Herstallstraße, der Besitzer heißt heute noch Wüst. Das Modegeschäft war
Geschlossen, hier wurde ein Lebensmittelhandel eröffnet
49.15 Die Fliegerangriffe wurden zu Kriegsende immer häufiger
50.05 Es wurde versucht, vor allem die Metall-/Rüstungsbetriebe zu treffen
50.15 Woher hatten die Alliierten die genauen Lagepläne? Das hat mitunter kein
Aschaffenburger Bürger gewusst, dass da Kriegsgeräte hergestellt werden -
die Amis wussten das
50.40 Spionage gab es damals schon
51.15 Der älteste Bruder ist 1943 in Kiew gefallen, der zweite in Frankreich
"gefangen"
51.50 Ferdinand Karpf hatte den Auftrag, für den Chef, der auch in Kleinwallstadt
wohnte, Waren zu holen. So fuhr Karpf mit dem Fahrrad nach Klingenberg,
vormittags hörte er Schussgeräusche aus dem Mümlingtal bzw. aus dem
Odenwald, auf dem Rückweg ist er öfters vom Rad gesprungen, weil er
die Geräusche einer Granate gehört hat
53.20 Schulanfang und Schulende waren damals noch im April
53.40 Den Lehrvertrag hat Karpf schon unterschrieben, er durfte zunächst aber
nur als Hilfsarbeiter arbeiten
53.55 Zunächst ist Karpf mit dem Fahrrad nach Klingenberg gefahren, als er in
Aschaffenburg im Einzelhandel arbeitete, ist er mit dem Zug nach Aschaffen-
burg gefahren
54.15 Karpf hat den Zug mehrmals morgens im Wettlauf erreicht
54.30 Der Zug war so voll, dass er bei der Ankunft in Aschaffenburg noch keine
Luft hatte zum atmen, so hatte er sich verausgabt
54.45 Hugo Karpf musste mit dem Fahrrad immer bis nach Dieburg fahren
55.35 Das eigentliche Kriegsende hat die Familie in Kleinwallstadt erlebt, die Tante
hatte ihr Anwesen direkt unterhalb der Schleuse
56.00 Ferdinand Karpf hat die Amis am gegenüberliegenden Mainufer (bei Großwallstadt) beobachtet, die dort schon patrouillierten, 56.30 Karpf hat öfters aus der Dachluke herausgeschaut. Als er wieder einmal einen Ziegel rausgeschoben hat, ist gleich ein Schuss gefallen. Da war F. Karpf schnell im Keller!
56.10 In Kleinwallstadt waren ungarische Soldaten, die mitgekämpft haben
57.00 Die Amis waren schon in Großwallstadt, die Fähre konnten sie soweit
einsehen, es war taghell erleuchtet!
57.25 Man hat sich aber abends um 9, 10, 11 Uhr nicht mehr fortgetraut. Am
Abend und am anderen Tag waren die Amis in Kleinwallstadt, sie hatten
übernacht eine Ponton-Brücke gebaut und sind mit Panzern über den Main
nach Kleinwallstadt
57.50 Nachts hat man fast kein Geräusch gehört! Irgendwas ist, da bewegt sich
was, man sieht aber im wesentlichen nur das Licht
58.00 Die Amis haben jedes Anwesen durchsucht. Als sie bei der Tante reinkamen,
haben sie die Tür von der Küche aufgestoßen, die Tür ist hinten auf die Diele
aufgelaufen, sie hat geschwankt. Der Ami hat den Gewehrkolben genommen,
hat damit die Tür durchgeschlagen, weil er vermutet hatte, dass jemand
dahinter steht
59.00 F. Karpfs Bruder hat vom Jungvolk eine lederne schwarze Gürteltasche
bekommen, sie hing an der Scheunenwand, die hat der Ami mit dem Gewehr
runtergeschmissen und mit dem Gewehr und den Füßen aufgemacht, "Was ist
da drin?" Sie haben alles akribisch durchsucht
59.25 In den Annalen von Deutschland steht, dass die Feinde uns überrollt haben.
Ferdinand Karpf hat die Amerikaner nicht als Feinde empfangen! Es waren
Befreier!
59.55 Als sie wieder zurück nach Aschaffenburg konnten, mussten sie die Sperr-
zeiten beachten: Wenn man da nicht im Haus war, musste man draußen
bleiben
1.00.05 Die Familie ist 5 Minuten nach 5 Uhr von Kleinwallstadt gekommen,
an der Fa. Dalheimer (früher Weberei Däfler, später Automuseum)
1.00.40 Die Familie kam mit ihrem Handwagen: "Halt!" - wir durften nicht rein
1.01.00 Gegenüber vom Däfler über die Bahn war der DJK-Sportplatz, sie
erhielten dort von den Amis ein Quartier, sie besorgten Decken, Dosen-
Spiritus zum Hände Wärmen, Kekse, 1.01.20: Sie mussten im Freien
übernachten, die Amis waren auch behilflich beim Liegestellen-Machen,
aber sie haben niemanden reingelassen, obwohl die Emilienstraße
maximal 500, 600 Meter entfernt war, die Amis waren aber "nicht
unhöflich"
1.01.40 Durch die Situation, dass der Vater im Wirtschaftsrat war, hat Ferdinand
Karpf schon früh den Führerschein gemacht, sein Vater hatte nur einen
Motorrad-Führerschein, er wollte damals keinen Autoführerschein
machen
1.03.15 Die Familie ist erst nach Ostern zurückgezogen, Kleinwallstadt war ja
schon ein paar Tage früher eingenommen worden, Aschaffenburg hat
sich noch lange verteidigt, da ist viel erst kaputt gemacht worden
1.03.45 Karpf hat bis 1948 bei der Fa. Giegerich gearbeitet, dann ist er zur
Konkurrenz gegangen
1.04.00 Die Amis haben verfügt, dass es einen Mindestlohn von 100 RM, sein
Chef hat zu ihm gesagt, 80 Mark könnte er ihm bezahlen, aber keine
100 Mark, 1.04.35: Dann ging Karpf in einen Süßwaren-Großhandel
in der Kleberstraße: Bachmann & Weber
1.04.40 Es gab das Lokal "12 Apostel", und nebendran war diese Firma
1.05.00 Die Wohnung des Chefs war in der Erthalstraße, später war auch der
Verkaufsladen dort
1.05.20 Die Amis förderten Personen, die politische Aufgaben übernahmen
1.05.55 Die Amis haben Hugo Karpf noch kurzzeitig in Haft genommen, weil er
irgendwo eine Versammlung einberufen hatte
1.06.15 Die Amis gingen davon aus "Die besten Demokraten sind die Kommu-
nisten!"
1.06.35 Deutsche Generäle haben versucht, mit den Amis den Kommunismus
zu besiegen - die Amis haben sich mit Generälen beraten, ob sie
weiterhin kriegerisch gegen den Bolschewismus vorgehen, das ist nicht
zustande gekommen
1.07.00 Die Kommunisten waren die ersten, die die Amis [für öffentliche Ämter]
genehmigt hatten
1.07.10 Sie haben Kommunisten und Sozialdemokraten genommen. Alles, was
ins Konservative ging, da waren die Amis vorsichtig
1.07.30 Wir in der amerikanisch besetzten Zone kennen die Negativ-Folgen in
der französischen, britischen und russischen Zonen überhaupt nicht
1.07.40 Hugo Karpf war 1947 im Wirtschaftsrat und sollte in Essen Kohlen-
minen beurteilen, die man noch abbauen kann, weil die Minen unter
einem Meter unter Hitler nicht mehr abgebaut wurden, damit waren
keine guten Reserven mehr da
1.08.25 Daher wurde der Wirtschaftsrat eingeladen, um zu klären, ob diese
Flöze unter 60 cm abgebaut werden sollen
1.09.00 Hugo Karpf hatte im Wirtschaftsrat die Zuteilung von einem Auto
bekommen und meldete seinen 17jährigen Sohn Ferdinand zum
Führerschein an, dafür brauchte er eine Erlaubnis
1.09.50 Ferdinand Karpf hat den billigsten Führerschein, er hat nur 100 RM
Mark gekostet. Dann kam die D-Mark, dann waren es nur noch 10 DM!
1.10.15 F. Karpf hat den Führerschein bei Ingenieur Strobel gemacht, er war
mit der Autofirma Fischer in Kooperation, er muss in der Österreicher
Kolonie gewohnt haben
1.10.40 Strobel selbst hatte auch kein Auto, also musste Ferdinand Karpf immer
sein Auto mitbringen! Er hatte auch keinen Sprit, der war noch
rationiert. Hugo Karpf hatte Benzin-Gutscheine
1.11.05 Trotzdem haben sie kein Benzin bekommen, weil der freie Markt so eng
war, dass es nicht genug gegeben hat - man konnte ihn dann aber
schwarz kaufen: Die Amis haben ihren Sprit an den Wissel(?) in der
Würzburger Straße verkauft, die haben ihn dann wieder weiterverkauft
1.11.35 Ferdinand Karpf kann nicht sagen, wieviel Stunden er hatte, es lief
alles so privat ab, Karpf war der einzige Schüler und der einzige, der
ein Auto hatte
1.12.00 Strobel hatte in Uettingen Verwandtschaft, Hugo Karpf stammte aus
Wüstenzell. Er hatte mit den Eltern ausgemacht: Wir fahren alle vier
(Vater, Mutter, Ferdinand, Strobel) nach Wüstenzell, Strobel fährt von
W. nach Uettingen, und wieder zurück
1.12.35 (Frage nach der Prüfung: Wie lief sie ab?): Karpf hat eigentlich von
Strobel den Führerschein bekommen, er hat von den Fahrübungen
her beurteilt: "Der kann fahren", das war im Mai 1948
1.13.05 Karpf wurde öfters von der Polizei angehalten, einmal hat ihn ein
Polizist in der Alexandrastraße angehalten mit den Worten: "Dich habe
ich schon lange auf dem Reff! Du hast nicht gehalten!" Und da musste
er einen Obulus abliefern
1.14.00 Damals sind viel schwarze Geschäfte gemacht worden, viele Hand-
wagen sind in der Gegend herumgefahren worden, wo man nicht
gewusst hat, was drauf ist
1.14.15 (Frage nach den Zielen mit dem Auto:) Zum einen ging es um Partei-
arbeit: Ferdinand hat seinen Vater zu Veranstaltungen in der Umge-
bung gefahren
1.14.35 Er hat ihn auch nach Bonn gefahren, wenn ein Zug nicht passend war
oder wenn er im Zug verschlafen hatte, hat er ihn in Gemünden oder
in Lohr abgeholt
1.15.00 Hugo Karpf ist oft kurz nach dem Zielbahnhof aufgewacht, als der Zug
den Bahnhof verlassen hatte, dann hat er gemerkt, dass er zu spät ist,
dann musste Ferdinand ihn von dort abholen
1.15.10 Hugo Karpf ist normalerweise immer morgens um 5 Uhr nach Bonn
gefahren. Eines Tages lag Ferdinand Karpf krank im Bett und sein
Vater hatte den 5-Uhr-Zug versäumt. Er musste um 8 oder 8.30 Uhr
in Bonn sein und Ferdinand musste fahren! Da hat Ferdinand eine
Hose über den Schlafanzug angezogen, den Schlüssel eingesteckt und
ist losgefahren
1.15.50 Man musste immer noch bis zum "Wandersmann" fahren, dort begann
erst die Autobahn
1.16.05 Dann gings über den "Auto-Engel": Zwischen Frankfurt und Mainz gab
es eine Schnellstraße. Die heutige Straße war damals schon eine relativ schnelle Straße. Dort gab es mitten auf der Straße eine Tankstelle, der Verkehr ging um die Tankstelle rum
1.16.25 Sie kamen in Frankfurt am Eisernen Steg (= Mainbrücke) an und fuhren am Ufer entlang, links hoch, hält sie ein Polizist an: "Von der Friedensbrücke darf man hier nicht hinauffahren. Das ist neuerdings Einbahnstraße!" - von der Friedensbrücke durfte man nicht runter-
fahren, aber nicht hinauf - "Entschuldigung!" Hugo Karpf hatte damals ein Schild: "Abgeordneter des Deutschen Bundestags", der Polizist schaute auf die Scheibe: "Oh, sind Sie im Dienst?" - "Ja, ich muss nach Bonn!" - der Polizist hat salutiert und "Gute Fahrt" gewünscht. Solche Sachen gäb's heute nicht mehr. Sie kamen noch rechtzeitig nach Bonn.
1.17.45 In 2 ½ Stunden waren sie in Bonn. Ein Dankeschön vom Vater gab's
leider nicht, das war selbstverständlich.
1.18.25 Die weiteste Strecke, die Ferdinand Karpf mit seinem Vater gefahren
hat, war Verona! Italien hatte einen internationalen Gewerkschaftstag
in Verona, das war 1950.
1.19.10 In materiellen Dingen war Hugo Karpf schlecht organisiert. Er ist oft
fortgefahren, ohne Geld dabei zu haben. Einmal waren sie in Österreich
und er ist mit dem Zug heimgefahren und hat Geld geholt! Damals gab
es noch keine Scheckkarte oder ähnliches. "Es war ein guter Politiker,
aber so lebenspraktisch war er nicht."
1.20.15 Hugo Karpf war ein unheimlich belesener Mensch. Er hat jede Minute
genutzt, um zu lesen. Anspruchsvoll musste es sein.
1.20.30 Hugo Karpf war von 1949 bis 1957 im Bundestag, zwei Perioden
1.21.15 Ferdinand Karpfs älterer Bruder hat dann auch den Führerschein
gemacht und hatte auch den Vater gefahren
1.21.25 Ferdinand Karpf musste sich immer vom Betrieb befreien lassen, er
hatte ja seine Arbeitsstelle gehabt bei Bachmann & Weber ("Guuzje")
1.21.45 Ferdinand Karpf hat 1954 geheiratet
1.22.00 Er war 13 Jahre alt, wie sein Bruder gefallen ist und er hat sich immer gefragt, warum musste sein Bruder ausgerechnet an seinem Geburtstag sterben? Ihm ist es oft passiert, dass er in einer Diskussion die Position von jemandem eingenommen hat, um ihn zu verteidigen, ohne der Meinung zu sein! Er hat immer in der Verteidigung geholfen
1.22.55 Ferdinand Karpf fragt sich, wer in seinem Kopf "manipuliert", dass er
solche Sachen macht?
1.23.10 Das Kennenlernen seiner Frau: Er war bei seinem Arbeitgeber und
sollte an einem Samstagmittag noch eine Fahrt erledigen. Der Chef:
"Karpf, Du musst heute Nachmittag in den Kahlgrund, ess' was, damit
Du heute Mittag in den Kahlgrund fahren kannst!" - "Ich fahr' heut nicht
mehr in den Kahlgrund!" Er war an der Theke, es war Kundschaft da.
"Ja, Du fährst heute Mittag in den Kahlgrund!" Das Thema hat sich
hochgesteigert. "Meinst Du denn, Du wärst ein kleiner König?"
1.24.10 Ich wollte absolut nicht, aber mein Cousin Hugo Karpf hat so lange
gesteuert, geh' mit dem Hugo in die Turnhalle zum Tanzen. Auf dem
Balkon kommt ihm eine Maske entgegen, klatscht ihm auf die Schulter
und sagt: "Na, kleiner König, wie?" - Wer ist denn das? Wer weiß denn
das?" Es war eine Sache, die er allenfalls daheim in der Familie erzählt
hat. Woher weiß sie das?
1.25.10 Ferdinand Karpf hat versucht, ihre Identität nach der Demaskierung
festzustellen: "Bist Du die Kathrina?" - Sie hat nur den Kopf geschüttelt
beim nächsten Mal hat F. Karpf gefragt: "Darf ich Sie nach Hause
begleiten?" Aber um 11 Uhr war sie verschwunden. Beim 3. Mal hat es
dann funktioniert, das sind für Karpf so Sachen, wo er sich fragt: "Wer
lenkt da?"
1.26.25 Ferdinand Karpf hat sich, angesichts der Erfahrungen mit seinem Vater,
geschworen: "Ich mach' keine Politik!" Er wollte unbedingt der Familie
gehören. Der Vater war maximal mal ein paar Tage da, wenn Urlaub
war, aber sonst - Versammlungen, Wochenendversammlungen, bei
jeder Fahnenweihe war der Vater da - als Bundestagsabgeordneter
muss man zu einer Fahnenweihe gehen, da musste er ihn hinfahren,
der Vater hatte immer Vorrang!
1.27.25 In der Familie gab es einen Diskurs mit seinem Bruder Hermann, der
Kaufmann lernen sollte, nach 14 Tagen bei der Lehrfirma durchs
Fenster abgehauen ist, hat die Lehre abgebrochen. Dann hat ihn die
Mutter Schreiner lernen lassen - die Mutter hat ihm eine Lehrstelle
besorgt - das hatte auch nicht funktioniert, dann hat die Mutter den
Vater gebeten, "Guck mal, ob Du eine gescheite Arbeitsstelle für ihn
bekommst!" - "Hermann, ich hab' mich mit dem Dr. Geißler von den
Zellstoffwerken unterhalten, Du kannst bei denen auf dem Holzplatz
anfangen, aber Du kannst Dich hocharbeiten bis zum Werkführer!" - "Nein! Da geh' ich nicht hin! Das ist mir zu nass, zu dreckig, zu schwer, da geh' ich nicht hin!" Der Vater war an der Decke geklebt! - Ferdinand: "Wenn der Hermann nicht hingeht, ich geh' hin!"
1.28.55 Hugo Karpf zu seinem Sohn Ferdinand: "Du hast Gehalt! Du hast sechs
Wochen Kündigungsschutz! Dein Gehalt stimmt! Da gehst Du als Hilfs-
arbeiter da rüber!?"
1.29.30 Ferdinand Karpf hat wirklich dort angefangen, die erste Arbeit war
"Schiffsholz ausladen!" Die Firma bekam viel Schiffsholz von Schweden
Das Holz war meistens nass, 2 Meter lang, mit einer Hacke hat man es
hochgehoben und auf den Stoß geworfen
1.30.00 Die Arbeit wurde im Akkord gearbeitet. Wenn er keine guten Kollegen
gehabt hätte… man musste vier Lkw abladen, der 5. Lkw war Pause -
er hätte vom 4. auf den 6. gemusst, weil er nicht fertig geworden ist
1.30.25 Am 3. Tag kommt die Nachricht: "Herr Karpf, Sie sollen morgen früh
zum Dr. Geißler!" - anderer Arbeiter: "Der Kerl ist erst drei Tage da und
muss schon zum Chef, was hast Du denn ausgefressen?" - also kam
er zum Chef: "Herr Karpf, Sie können Schreibmaschine, 10-Finger?" -
"Ja!" - "Sind Sie in der Lage, ins Büro zu gehen? Wir brauchen eine
Schwangerschaftsvertretung!" - am 4. Tag war Karpf im Büro und hat
Listen geschrieben, das war 1954
1.31.35 Das erste Vierteljahr bekam Karpf den Durchschnittslohn vom Akkord,
ab dem 1. Januar [1955] ist er als Angestellter übernommen worden
in der Industrie hat er schon damals fast das Doppelte verdient von
dem, was er im Handel verdient hätte
1.32.20 Kollegen haben ihn gedrängt, für den Betriebsrat zu kandidieren, er hat
dann kandidiert, ist aber durchgefallen, dann kam der gewählte
Kandidat auf ihn zu: "Herr Karpf, ich gratuliere Ihnen, Sie sind
Betriebsrat! Ich nehm'das nicht an, weil ich das Vertrauen nicht mehr
habe!" - acht Tage später kam er, "Ich nehm's doch an", hat aber nach
einem halben Jahr ganz aufgehört
1.33.25 Karpf war bereits acht Jahre im Betrieb, als er Betriebsrat [in der Zellstoff] geworden ist und war über 30 Jahre Betriebsrat
1.33.50 Im Betriebsrats-Vorstand der Aschaffenburger Zellstoffwerke (siehe 1.34.10) war auch den früheren Werkleiter von Stockstadt Dr. Patt, er wollte das Werk Aschaffenburg absolut schließen, das Werk hatte gerade noch 500 Mitarbeiter, die Hälfte davon war pensionsreif
1.34.40 Es kam der Beschluss, dass das Werk Aschaffenburg 1983 - 1985 stillgelegt wird, zu den-und- den Konditionen, Karpf sagte: "Mit mir nicht!"
1.35.00 Karpf holte den Vorstandsvorsitzenden dazu: "Herr Karpf, das ist Ihr
Nachteil nicht!" - "Es geht nicht um mich, es geht um die Leute!"
1.35.30 Dr. Patt, Verfechter der Werksleitung, war schon seit einigen Monaten
gesundheitlich angeschlagen, dennoch versuchte ich ihn zu überreden,
den Vorstandsvorsitz zu übernehmen, denn sein Fachwissen und
Qualität waren außergewöhnlich gut und anerkannt. Dr. Patt lehnte es
ab, Betriebsratsvorsitzender zu werden, er hat aber trotzdem weiterge-
weitergearbeitet. Es kam ein neuer Kopf. Nun stand für mich die Frage, wer von uns beiden wird dennoch gewinnen? Es kam überraschend anders: Dr. Patt hat entgegen ärztlichem - und Familienrat trotzdem weitergearbeitet. Nach dem Frühstück mit einem Team im Hotel "Post" ist er auf sein Zimmer gegangen und nicht wiedergekommen. Er lag tot in seinem Zimmer
1.36.10 Der Tod von Dr. Patt hat Aschaffenburg die Papierfabrik geschenkt.
Karpf unterhielt sich mit dem nachfolgenden Vorstandsvorsitzenden.
Dabei trug er vor, dass das Werk Aschaffenburg das Werk Stockstadt
finanziert hat, es wäre schon 1970 bankrott gewesen, wenn Aschaffen-
burg nicht Grundstücke verkauft hätte
1.36.45 Die ganze Inselstraße, das ganze Areal war "aschzell" , Karpf hat darauf gedrungen, dass neue Maschinen geliefert werden
1.37.00 1989 kam eine Aufsichtsratseinladung: "Bau einer neuen Papiermaschine in Aschaffenburg", 1990/91 ist sie angelaufen
1.37.30 Karpf wollte nie in die Politik, aber er sagt heute: "Ich hätte eigentlich
Politiker werden sollen!"
1.37.55 Frage: "Was war die Scherbeninsel?" - Es war die frühere Schutthalde
an der Eckertsmühle (zwischen Obernauer Straße und Bahn, die
Straße zum Hofgut Völker in Unterschweinheim)
1.39.50 An der Eckertsmühle hat Ferdinand Karpf einmal eine Gans "totge-
schmissen": Hinter der Eckertsmühle hat Karpf als Kinder immer
gespielt und der Eckertsmüller hat dort seine Gänse weiden lassen.
Darunter war ein sehr böser Gänserich, der die Kinder "angequäxt" hat,
dass ihn die Kinder mit Steinen beworfen haben. Keiner hat ihn
getroffen. Karpf nimmt einen Stein und trifft ihn am Kopf!
1.40.20 Unter der Bahn geht der Herbigsbach (= Hensbach) durch, dort war
früher ein Luftschutzkeller, der zum Bunker umgebaut wurde, da sind
die Buben durch, weil die Gans tot war, sie sind rosenkranzbetend zur
Obernauer Kapelle gelaufen
1.40.40 Als sie zurückkamen, haben Nachbarn erzählt: "Stellt Euch vor, da
unten an der Eckertsmühle haben Hefner-Altenecker die Gans
totgeschmissen!" Das war das erste Wunder!
1.41.00 Wo der Sportplatz "Südring" ist, das war die Scherbeninsel. Da war eine
Schutthalde und Baracken, es waren 2 - 3 Reihen reine Holzbaracken,
sehr dürftig, maximal 3 - 5 cm starke Wände, eingeschossig und ohne
Keller
1.41.40 Dort haben arme Leute gewohnt. Das war ein großer Erfolg der Stadtverwaltung, dass sie diese Asozialen "zersiedelt" haben. Sie sind heute, abgesehen vom Mitscherlichweg - so zerstreut, dass es keinen Pulk geben kann
1.42.05 Bis wann bestanden diese Baracken? - Karpf schätzt, bis Ende der
1940er / Anfang der 1950er Jahre.
1.42.40 Karpf weiß, um 1960 standen dort immer noch Zigeunerwägen, über Jahre!
1.43.05 Karpf hätte an dem Bild von seinem Vater Hugo Karpf auf der
Ausstellung "Trotz alledem" Interesse

Archivaliensignatur
SSAA, DPE 91
Sonstige Erschließungsangaben
Name: Karpf Ferdinand

Kontext
Dokumentation persönlicher Erinnerungen (Zeitzeugengespräche)
Bestand
DPE Dokumentation persönlicher Erinnerungen (Zeitzeugengespräche)

Laufzeit
16. Mai 2022

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Letzte Aktualisierung
27.03.2025, 11:33 MEZ

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Objekttyp

  • Archivale

Entstanden

  • 16. Mai 2022

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