Akte
Schreiben von L. Naumann, eines Lehrers, aus Osnabrück an Oswald Stallmann
Enthält u.a.: "Schon lange hatte ich erwartet, daß Sie etwas von sich hören lassen würden. Endlich habe ich erreicht Ihre Anschrift zu bekommen, u. nun sofort Nachricht, denn ich weiß aus Erfahrung, wie ein Soldat draußen nach Nachricht aus der Heimat hungert. Also ich bin Ihr Nachfolger geworden[.] Auf höhern Befehl, ohne vorher gefragt zu werden, bin ich plötzlich von der Stüve- zur Kreuzschule versetzt worden. Ich stehe jetzt täglich unter "Wasser" u. die Stüveschule nennt mich jetzt spöttisch den U-Boot-Kommandanten. Laß sie! Ich bin entschädigt. Ich habe keinen schlechten Tausch gemacht, wenigstens innerlich nicht. Darüber in den nächsten Tagen. Hoffentlich höre ich bald von Ihnen. Mit herzl. Grüßen", 11. Okt. 1939; "Entschuldigen Sie, daß ich meinen Brief mit Fachsimpeleien anfange. Ostern hatte ich von Ihnen, wie Sie sich erinnern, ein schlechtes Erbe angetreten. Ich nenne nur die Namen: Kefrig, Leimbrock, Ennen, Helmut Meyer, u.s.w. Wie bin ich jetzt aber entschädigt worden! Wenn nicht Kriegszeiten, also unnormale Zeiten wären, könnte ich glauben, ich wäre in den Himmel gekommen. Ihre, jetzt meine Ilse Mamenga, Gerda Bühling, Marietta Biermann, Inge Heuer, Inge Blacke, Marie Weghorst, Hilde Langemeyer, also fast alle 40 könnte ich aufzählen, dazu noch 3 liebe Flüchtlingskinder aus dem Saargebiet, sie alle sind mir ans Herz gewachsen. Wenn sie nach der Pause in mustergültiger Ordnung aufmarschieren, so sagen die Kollegen: "Das ist Ihre Klasse." Ich kann ihnen aber immer nur versichern: "Das ist Stallmanns Ordnung!" Vielleicht habe ich diese schon etwas gelockert. Mit Rücksicht auf meine bisherige Klasse kann man das wohl verstehen. In der Schule ist es sonst sehr ungemütlich. Der ganze untere Flur, sowohl auf unserer Seite wie auch auf der Seite der Stüveschule ist mit einem Rettungstrupp gegen Fliegergefahr, Teno [!] & R[otes] Kr[euz], belegt, nicht einmal ein Lehrerzimmer haben wir. In den Pausen müssen wir uns auf den zugigen Fluren aufhalten. Unser Herr "W." zeigt sich mir gegenüber von der liebenswürdigsten Seite, er behandelt mich als Gast. Nach Methode der ehemaligen Seminarlehrer, das ist er gewesen, muß jeder Seminarist 5 Minuten vor Beginn des Unterrichts in der Klasse sein. Seit 43 Jahren bin ich das aber nicht mehr gewohnt, u. deshalb warte ich draußen den Glockenschlag ab. Davon versucht er manchmal, unsere Klassen liegen nebeneinander, mich abzuhalten, indem er mir lang u. breit versichert, daß der geplagteste Mensch auf der ganzen Welt der Rektor ist. Das erzählt er mir so ausführlich, daß ich mehrere Male den Griff meiner Klassentür wieder loslassen muß. Von ganz oben haben wir vielleicht mehr zu leiden. Jeder Lehrer muß von 20. Nov. ab 32 Wochenstunden geben. Ich habe schon 2 Nachmittage. Einige unterrichten, will es an Klassenräumen fehlt, von 11 - 4 Uhr, um die Mittagszeit auch auszunutzen. Von dem Tage an wird es aber noch schlimmer werden. Nur nachts dürfen wir nicht unterrichten, weil Geld für Verdunkelung der Schulen nicht ausgegeben werden darf. Nun aber entschuldigen Sie, daß ich bisher nur von mir gesprochen habe, Ihnen mein Leid geklagt habe. Aus Erfahrung weiß ich, daß ich trotzdem nicht mit Ihnen tauschen möchte. Sie haben sich jedenfalls schon wieder an das rauhe Soldatenleben gewöhnt, vielleicht schon etwas häuslich eingerichtet. Wir aber haben noch unser schönes Bett, u. manchmal trifft man sich mit Freunden und Nachbarn beim "Dämmerschoppen", um die letzten Ereignisse zu besprechen. Heute haben wir seit Ende August zum ersten Male wieder gekegelt, u. deshalb ist dieser Brief in Eile geschrieben, um noch vor Mitternacht das Bett zu erreichen. Ihren Mädels habe ich die Grüße ausgerichtet, u. sie haben mir versprochen, Ihnen fleißig zu schreiben. Hoffentlich halten sie ihr Versprechen!", 10. Nov. 1939; "Um 12 Uhr kamen Marietta Biermann u. Inge Heuer mit einer Karte von Ihnen, die sie zu Hause vorgefunden hatten, freudestrahlend zu mir in die Schule gelaufen.", 12. Nov. 1939; "Von einem, der es wissen wollte, habe ich gehört, daß alle Lehrer, sofern sie nicht Offiziere sind, reklamiert werden sollen und in den nächsten Wochen in den Schuldienst zurückkehren werden. Sollte das wirklich der Fall sein, so gebe ich Ihnen Ihre Mädels vielleicht schon mit Beginn des neuen Jahres in Ihre Hände zurück. Unsere neue Stundenerhöhung ist gekommen. Ich bin davon verschont geblieben. Trotzdem gibt es allerlei Mehrarbeit [wegen Krankheitsfällen im Lehrerkollegium] […], sodaß ich mir manchmal als "Fliegender Holländer" vorkomme: von einer Klasse in die andere. Das tut mir aber gut, dabei vergeht mein Ischias, unter dem ich bei diesem Regenwetter kein Wunder, seit einiger Zeit mal wieder leide. […] Ihre Mädels lassen vielmals grüßen!", 2. Dez. 1939; "Vor u. während der Weihnachtstage sahen die Straßen, trotz des schlechten Wetters, sehr bunt aus. Hauptsächlich waren es Soldaten. Urlauber, Einquartierte in u. um Osnabrück belebten die Straßen. - Am 2. Weihnachtstage habe ich mein Pensionsalter erreicht, aber an eine Pensionierung zu Ostern wird wohl nicht zu denken sein.", 28. Dez. 1939; Schließung aller Osnabrücker Schulen wegen "Kohlenmangel" bis zum 22. Jan. 1940: "Bei den Kindern herrschte selbstverständlich Feststimmung. Ich dagegen habe die Nachricht mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen. Man kommt sich so überflüssig vor. Theater, Varietevorstellungen, Konzerte u. Tanz dürfen nicht ausfallen. Allerdings würden dadurch viele Leute brotlos werden, u. deshalb ist es vielleicht besser so. […] Am 10. d. Mts kam auch die Nachricht, daß die Erreichung des pensionsfähigen Alters der vorgesetzten Behörde nicht mehr gemeldet zu werden braucht. Mit anderen Worten, die Altersgrenze ist also vorläufig aufgehoben. Mir soll's recht sein. Ich fühle mich augenblicklich noch zu jung, um mich schon zur Ruhe zu setzen.", bei -20°C, 13. Jan. 1940; "Seit Montag, 4.3. sind wir wieder im alten Gleise. Die Kohlennot ist zwar noch nicht ganz behoben, die Canäle sind noch zugefroren, das Wetter ist aber etwas milder geworden, so daß alle Schulen wieder geheizt werden können. Es war auch die höchste Zeit! In den beiden ersten Tagen mußte ich meine Mädels doch etwas heftiger anfassen.", 7. März 1940; Belichtung eines Negativfilms mit Aufnahmen der Schulklasse ist schief gegangen, 26. März 1940; "Leider habe ich Ostern ihre netten Mädels verloren. Frl. Unverfehrt hat das schöne Erbe angetreten. […] Ich habe keinen guten Tausch gemacht, 3. Jahrgang Jungen, u. zwar ist die Klasse so voll, über 60, daß sie in den ersten Tage zu 3 in einer Bank sitzen mußten. Glücklicherweise konnte ich aber nur so viel Bänke stellen, daß ich nur 52 behalten konnte. Die überschießenden gingen zur Lutherschule. 4 Fachstunden habe ich in der 6. gemischten Klasse der Marienschule, die in der Lutherschule ist. Wegen meiner übrigen Fachstunden, Singen in der Grunschule, muß ich jetzt meinen schönen Mittwoch-Nachmittag opfern, denn in der vorigen Woche kam Bescheid vom Schulrat, daß jeder Gesanglehrer der Grundschule einen Gesangskursus bei Herrn Tiemann mitzumachen hat. Sie sehen also, welche ernste Kriegsarbeit wir zu leisten haben.", 19. Apr. 1940
- Reference number
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Stadt Minden WN 27 Nachlass Oswald Stallmann, Nr. 27
- Context
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Nachlass Oswald Stallmann
- Holding
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Stadt Minden WN 27 Nachlass Oswald Stallmann Nachlass Oswald Stallmann
- Date of creation
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1939 - 1940
- Other object pages
- Delivered via
- Last update
-
05.11.2025, 4:05 PM CET
Data provider
Kommunalarchiv Minden - Archiv der Stadt Minden und des Kreises Minden-Lübbecke. If you have any questions about the object, please contact the data provider.
Object type
- Akten
Time of origin
- 1939 - 1940