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Goethes "Faust". Zweiter Teil

Goethes "Faust". Zweiter Teil

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Location
Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar#Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar
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149
Notes
Der Besprechung der Aufführung in "Die Schaubühne" (später: Die Weltbühne), 4. Jg. (1908), Bd. 1, Nr. 21 (v. 21.05.1908), S. 542 ist zu entnehmen, dass es zu der Neubearbeitung des Faust durch Karl Weiser gekommen sei, weil sich Felix Weingartner mit "Absicht", "eine Faustmusik zu schreiben" in einem Brief an den Intendanten Vignau mit der Bitte um eine "pietätvolle Einrichtung des Werkes" gewendet und den "Regisseur Weiser als Bearbeiter" vorgeschlagen habe.
Die Schaubühne (später: Die Weltbühne), 4. Jg. (1908), Bd. 1, Nr. 21 (v. 21.05.1908), S. 539-542, Kommentar v. Herman Scheidemantel: „Man kann es verstehen, wenn die Leitung des weimarer Hoftheaters alle Gelegenheiten wahrnimmt, die gepriesenen Vorzüge und technischen Errungenschaften des neuen Hauses voll spielen zu lassen. Weisers Bearbeitung […] ist ohne Frage von Anfang an auf diese besondere Absicht zugeschnitten worden. Und man hätte an dieser Neugestaltung des Mysteriums, auch was solche besondere Absicht angeht, der Welt mancherlei zeigen können. Der ‚Faust‘ stellt gerade in technischer Beziehung manche schwere Aufgabe, weshalb man über die Bühneneinrichtung dazu kaum jemals zur Ruhe kommen wird. Doch der gute Wille allein tuts nicht, wo die Kräfte fehlen. Das gilt für die weimarer Osteraufführungen sowohl, was die technische Behandlung der neuen Einrichtung angeht, als auch ganz besonders in bezug auf die darstellerischen Leistungen. Mag man über Weisers Bearbeitung des Mysteriums im einzelnen denken, wie man will – den einen Vorzug hat sie ohne Frage: Sie gibt durchweg den ungeschminkten Goethe; all die bekannten Verballhornungen aus den verschiedensten Rücksichten sind mit ihr überwunden. Gerade das verleiht dieser Bearbeitung Charakter. Die Zerlegung des Werkes in vier Vorstellungen hat sich wohl auch bewährt. Bei dieser Teilung in je eine Nachmittags- und eine Abendvorstellung mit einer dreistündigen Pause war die Aufführung an keinem der beiden Tage so etwas wie eine Anstrengung für den Zuschauer. Man kam ohne Frage eher zu einem wirklichen Genuß, als bei der gewohnten etwas lang hingezogenen Bearbeitung Devrients, mit der ebenfalls auf zwei Tage berechneten Zweiteilung. Auch in der Hinsicht war also die Aufführung eine Tat, auf die das weimarer Hoftheater einigermaßen stolz sein darf. Doch es ist schon bei den verschiedensten Anlässen […] durch auswärtige Kritik betont worden, daß man im weimarer Hoftheater trotz den glücklichsten Anläufen nur selten über Durchschnittsleistungen hinauskommt, weil eben die Leitung bei allem ihrem Beginnen auf halbem Wege stehen zu bleiben pflegt. Die Frage des technischen Personals […] ist kaum den Anforderungen des neuen Hauses entsprechend gelöst, und diese Unzulänglichkeiten machen sich naturgemäß bei einem Werke wie ‚Faust‘ besonders geltend. […] Was unter solchen Umständen zu erwarten ist, kam bei den Faustaufführungen zu Ostern so recht an den Tag. Aber auf die Erkenntnis dieses Mangels sind die maßgebenden Persönlichkeiten wohl nicht so leicht zu bringen. Hat es doch schon am Tage nach der Eröffnung des neuen Hauses bei Vorführung des Bühnenapparats vor einem geladenen Publikum der Vertreter der ausführenden münchner Firma angesichts der Unordnung in der neuen Einrichtung ausgesprochen, daß das vorhandene technische Personal den Ansprüchen der modernen Maschinerie offenbar nicht gewachsen ist. Was hilft dann am Ende aller Aufwand an Bühnendekorationen! Die neue Einrichtung zu Faust soll mehr als 100000 Mark verschlungen haben. Solcher Aufwand mußte denn doch auf jeden Fall ins rechte Licht gerückt werden. Aber gerade daran fehlte es nur zu oft bedenklich, so daß man auf der Bühne zuweilen überhaupt nichts sah, von den sinnlosen Beleuchtungseffekten unter Anwendung ganz unsinniger Lichtquellen erst gar nicht zu reden. […] Man beliebt aber hier nun einmal, auf halbem Wege stehen zu bleiben. Das gilt vor allem auch, was die Darstellung des Mysteriums und das Schauspielpersonal angeht. Wo in einem Ensemble der ‚erste Charakterdarsteller‘, der ‚erste Held‘ und der ‚Heldenvater‘ sich um die Rolle des Mohren Othello streiten, und keiner sich findet, der die Ehrgeizig-Eifersüchtigen eines Bessern belehrt, so daß dieses Stück überhaupt nicht herausgebracht werden kann, da ist der Geist zu großem Schaffen nicht lebendig. […] Was half es da, daß Weiser sich in der Rolle des Mephistopheles neben der Regieführung eine Arbeit zutraute, die bei seinen Jahren und in Anbetracht des darstellerisch wirklich Erreichten zur Bewunderung zwingt. Was will es weiter besagen, wenn das Gretchen von Elisabeth Schneider eine Leistung war, die neben der Weisers ebenbürtig glänzte. Das Gros der Darsteller trieb, an diesen Taten gemessen, zum Teil nur wenig mehr als Kulissenreißerei. Und am bedauerlichsten fiel darunter der Faust des Herrn Karl Grube aus, zumal man hinter der Titelrolle […] mindestens einen Darsteller sucht, der dieser Rolle geistig gewachsen ist. In der Hinsicht gab die Leistung Grubes nur zuviel zu deuten, davon ganz zu schweigen, daß dieses Schauspielers Art und Persönlichkeit sich lediglich im Salon restlos und anerkennenswert auszugeben vermag. Die Kritik über die Darstellung ist also eigentlich schon mit Feststellung der Tatsache, daß ein geborener ‚Bonvivant‘ den Faust zu spielen berufen ward, am Ende. […] Und wo obendrein die Feierstimmung […] außer durch die mäßige Darstellung im ganzen auch noch durch oft nervenpeinigende, den Sinn kreuzende, wenn nicht gar den Sinn entstellende Betonungen und durch schwülstige Deklamation gestört wurde, mußte schon der ständige Widerspruch des aufmerksamen Geistes den mit der Einladung versprochenen Genuß recht schwer machen. Kein Wunder also, daß man froh war, wenn einmal Faust nicht auf der Bühne erschien. In den Massenszenen, überhaupt im Leben der Bühnenbilder vermißte man meistens das überzeugende Etwas, das die Illusion weckt. Die daraus resultierende Unsicherheit, unter den Agierenden wie in der szenischen Leitung, störte beispielsweise die Bilder, in denen das Stimmungselement vorherrschen muß […], ganz bedauerlich. Die Inszenierung Weisers zeigte hier und da neue Gedanken und ingeniöse Einfälle, die dem bisherigen Szenenaufbau gegenüber einen Fortschritt bedeuten. Die Theaterszene mit Paris und Helena, zum Beispiel, kann in der von Weiser gewählten Form des Aufbaues wohl als beste mögliche Lösung dieses Problems angesprochen werden.“ Die Schaubühne (später: Die Weltbühne), 4. Jg. (1908), Bd. 1, Nr. 21 (v. 21.05.1908), S. 542f., Kommentar v. Georg Caspari: „Weingartner hat vierundzwanzig Nummern für den ersten und einundzwanzig für den zweiten Teil komponiert. Man muß bei seiner Musik unterscheiden zwischen wirklich musikalischen Sätzen – wie dem Gesang der Engel im Vorspiel, den Osterspaziergangsgesängen, der Domszene im ersten Teil; der Ariel-Szene, Märschen, Lemurengesängen, Chor der himmlischen Herrscharen im zweiten Teil – und andern nur zur Illustration, zur Unterstreichung des Geisterhaften dienenden Tongebilden – wie dem Erscheinen des Erdgeistes, einem Teil der Hexenküche im ersten Teil; der Homunculus- und der Euphorion-Szene im zweiten Teil. Wo es sich um diese tonmalerische Musik handelt, hat Weingartner entschieden eine glückliche Hand gehabt, wenn man einmal von einigen Geschmacklosigkeiten absieht, wie dem Grunzen und Bellen der Bässe vor den Worten: „Knurre nicht, Pudel!“ So war das an den Klang geschliffener Gläser gemahnende Klingen und Singen, das die Worte des Homunculus begleitete, von sicherer Wirkung. Ebenso bekommt der Erdgeist durch den mächtigen tiefen Orgelton etwas merkwürdig Uebergewaltiges, zumal da in Weimar ein Sänger, Herr Gmür, mit seiner sonoren Stimme den Eindruck noch verstärkte. Nach den bescheiden instrumentierten Faustmusiken von Lassen, Lindpaintner und andern handelte es sich für Weingartner darum, unser modernes Orchester und die durch Berlioz, Liszt und Strauß gewonnenen orchestralen Wirkungen in den Dienst der Dichtung zu stellen. Nur ging er darin zu weit, und man kann sich mit dem entsetzlichen Miauen der Hexenküche wirklich wenig befreunden. Ich glaube auch nicht, daß andre Bühnen zur Weingartnerschen Faustkomposition greifen werden, schon aus dem Grunde nicht, weil die Schwierigkeit der Aufführung zu groß scheint. Trotz zahllosen Proben, die sich vierzehn Tage lang oft bis ein Uhr nachts hingezogen haben, kamen die durchkomponierten Sätze fast alle, soweit Chor mitzuwirken hatte, so unrein und unfertig heraus, daß man sich ein abschließendes Urteil über diesen Teil der Musik kaum wird erlauben können. Daß das nach bayreuther Art tiefliegende mit Schalldecken versehene Orchester, das unter Raabes Leitung ausgezeichnet gespielt hat, infolge der großen Entfernung von den Sängern die Reinheit der Intonation erschwert, sei nur nebenbei erwähnt. Verfehlt war es entschieden, den ‚Prolog im Himmel‘ durchzukomponieren. Und wenn Weingartner mit Engelszungen redete – welche Musik wäre wohl imstande, die Wirkung der Verse: „Die Sonne tönt nach alter Weise“ irgendwie zu vertiefen?! Weiterhin ist die Komposition der Walpurgisnacht im ersten Teil von erschreckender Banalität, und die langatmige Musik zur Einschläferung Fausts durch Mephisto konnte den Eindruck der Wandeldekoration und der Ballettbewegungen der ‚Kleinen von den Meinen‘ nicht erhöhen. Ueberhaupt fehlt der Weingartnerschen Musik das Zwingende: man hat selten das Gefühl, daß der endgültige Ausdruck, die vollendete Vertonung dieser oder jener Stelle erreicht sei. Weder das Lied des Schäfers unter der Linde noch des Lynkeus Gesang, weder die Chöre von Helenas Begleiterinnen noch der Gesang der Nereїden zeugen von bedeutsamer tondichterischer Kraft. Am ärmlichsten und empfindungsärmsten wirkte die Musik am Schluß des zweiten Teils. Auch hier sind, wie im Vorspiel, die Goethischen Verse so reich, daß keine Vertonung etwas hinzuzufügen imstande wäre, und daß wenige Harfen- und Orgelklänge genügen, um uns Himmelsglanz und Engelsatmosphäre empfinden zu lassen. Dem Chorus Mysticus endlich steht die Erinnerung an den dritten Satz der Lisztschen Faustsymphonie hindernd im Wege. Wenn ich an die ganze Aufführung zurückdenke, so bleibt eigentlich nur eine Szene, die an Wucht durch Weingartners Versuch einer Faustmusik noch gewonnen hat: Die Domszene. Wie hier, nach kräftigem Orgelfugato, der Choral anschwoll und Gretchen zusammenbrach unter der Last ihrer Gewissensangst und der Gewalt des Orgelbrauses, das ihre Worte – sonst die des bösen Geistes – piano unterstrich, um dann wieder im forte einzusetzen: das hat noch keine mir bekannte Faustaufführung so hinreißend wiederzugeben vermocht.“ NZfM/Musikalisches Wochenblatt (Nr. 19/20, 16.5.1908), S. 415f.: „GOETHES „FAUST“. Neue Weimarer Einrichtung von Karl Weiser. Musik von FELIX WEINGARTNER. Erste Aufführung an den Osterfeiertagen. Genau hundert Jahre nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe des „Faust“, erster Teil, - im April 1808 – ist der grosse Gedanke, das Lebenswerk Goethes, die gigantische Tragödie „Faust“, in einer dem Geiste des Dichterfürsten ganz entsprechenden Weise auf die Bühne zu bringen [...] zur Tat geworden, die nicht wenig dazu beitragen wird, den Ruf Weimars als Musenstadt von neuem zu befestigen. [...] Die Ausführung des Ganzen stand auf beträchtlicher Höhe. [...] Herr Hofkapellmeister PETER RAABE hatte sich den Vorschriften des Komponisten ganz untergeordnet und war bemüht, alle Schönheiten der Partitur in unauffälliger Weise in die Erscheinung treten zu lassen, wobei er in der Ostermusik sogar ein wenig zu viel Zurückhaltung übte. Das Orchester klang prachtvoll, während es der Chor gelegentlich an Akkuratesse in Bezug auf Intonation und Ensemble etwas fehlen liess. [...] Für die Ausstattung war in einer fast zu verschwenderischen Weise gesorgt worden, und die Dekoration von Professor BRÜCKNER-Coburg waren von wirklich berückender Pracht. Die choreographischen Leistungen konnten nur wenig befriedigen. Das Haus war an beiden Tagen ausverkauft. Hatte schon der erste Teil der Tragödie einen lauten Beifall ausgelöst, so zeigte sich das Publikum am Schlusse des zweiten Teiles vollends enthusiasmiert und rief die Herren WEISER, WEINGARTNER und GRUBE unzählige Male vor die Rampe. Der Grossherzog und der Prinz August von Sachsen-Weimar wohnten ebenfalls der Aufführung bei.“ [Max Puttmann]

Creator
Contributor
Weiser, Karl
Raabe, Peter
Weiser, Karl
Gudewill, Dora
Weingartner, Felix
Published
1908-04-20

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21.04.2023, 10:51 AM CEST

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  • Theaterzettel ; Text

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  • 1908-04-20

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