Holzschnitt
Mann und Frau am Strand bei aufgehendem Mond
Ernst Ludwig Kirchner zählt wohl zu den radikalsten und treibenden Kräften der Künstlergemeinschaft „Brücke“, in der er seine künstlerische Karriere begann. Später avancierte er zu einem der bedeutendsten Vertreter des deutschen Expressionismus insgesamt. Seine Motive suchte Kirchner sowohl in der hektischen Großstadt Berlin, in Dresden als auch auf der Insel Fehmarn oder im schweizerischen Davos, das ihm 1917 nach einer psychischen Krise zu einer neuen Heimat wurde. - Der Holzschnitt „Mann und Frau am Strand bei aufgehendem Mond“ wurde von Dube ins Jahr 1914 datiert. Diese Einordnung muss insofern angezweifelt werden, als das Motiv seitenverkehrt auf einer Postkarte zu sehen ist, die Kirchner an Dr. Eugen Lüthge in Erpel am Rhein gesendet hatte und laut Poststempel auf den 30. Juli 1912 zu datieren ist. Somit lässt sich die Entstehung des Motivs eindeutig Kirchners zweiter Fehmarn-Reise 1912 zuordnen. - Im Sommer des Jahres 1914 besuchten Kirchner und seine Lebensgefährtin Erna Schilling das letzte Mal die Insel Fehmarn und reisten wegen des bevorstehenden Kriegsbeginns frühzeitig ab. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Selbstbildnisse, die Kirchners Angst vor seiner bevorstehenden Einberufung in den Militärdienst spiegeln. - Der hier gezeigte Abzug des zweiten Zustands stellt einen Mann – vermutlich Kirchner selbst – und eine Frau, wahrscheinlich Erna Schilling, am Strand liegend dar. Während der dargestellte Mann mit angewinkelten Beinen in einer sitzenden Haltung zu sehen ist, liegt die Frau, deren Kopf von einem Hut bedeckt wird, am Strand. Bereits 1912 hielt Kirchner seine Lebensgefährtin Erna Schilling als Akt an einem Strand liegend mit einem großen Hut fest, so etwa in dem Aquarell „Akt mit rotem Hut“ (Ernst Ludwig Kirchner, „Akt mit rotem Hut“, 1912, Bleistift und Aquarell, 46 x 49 cm, Sammlung Hermann Gerlinger im Buchheim Museum der Phantasie, Bernried am Starnberger See, Inv. Nr. SHG-00741). Das Motiv des großen, vor Sonne schützenden, Hutes hat Kirchner derart fasziniert, dass er es 1912 außerdem in einer Zeichnung und auf zwei Gemälden festhielt. - Kirchner vermochte sich an der Meeresküste mit ihrem rauen und natürlichen Charme dem Akt-Studium noch freier hinzugeben als zuvor an den Moritzburger Seen. - Am mittleren Rand links des gezeigten Holzschnitts ist ein am Strand kieloben liegendes Boot zu erkennen. Daneben markieren Schilfbüschel den Uferbereich. Möglicherweise ist das Boot eine Anspielung auf ein von Kirchner selbst gebautes Kanu. Im Hintergrund ist das Wasser mit dunklen, kräftigen schwarzen Strichen angedeutet. Ein Stück des aufgegangenen Mondes wird von den schweren Wolken verdeckt. Der Holzschnitt spiegelt die unbeschwerte Zeit, die Kirchner gemeinsam mit Erna Schilling auf der Insel Fehmarn erlebte, bevor 1914 der Erste Weltkrieg begann. Die Erinnerung an ein verlorenes Paradies scheint in diesem Holzschnitt verdichtet dargestellt zu sein. Über die Sommermonate auf Fehmarn, die Kirchner in den Jahren 1908 und 1912 bis 1914 erlebte, schrieb er: „Ich habe dort Bilder gemalt von absoluter Reife“. Fernab der nervenaufreibenden und im Zuge der Industrialisierung immer weiter zivilisierten Stadt Berlin schuf Kirchner sich auf Fehmarn ein ideales Künstlerparadies. Gemeinsam mit seiner neuen Partnerin Erna Schilling und seinem Malerfreund Erich Heckel verbringt er dort die schönsten Sommer seines Lebens. Wie produktiv die Insel-Aufenthalte für Kirchner waren, bezeugt auch die Anzahl der Fehmarn-Motive in seinem Werk: etwa 100 Gemälde – die er später in seinem Atelier fertigstellte –, weit über 800 Zeichnungen und Aquarelle sowie 50 Druckgraphiken (Holzschnitte, Lithographien, Radierungen) entstehen zwischen 1912 und 1914. Auch experimentierte Kirchner mit der Fotografie und dokumentierte seine Erlebnisse mit der Kamera. In einem seiner Skizzenbücher lässt sich eine Zeichnung nachweisen, die vermutlich als Vorbereitung für den Holzschnitt diente (Ernst Ludwig Kirchner, Vorskizze zu dem Holzschnitt „Mann und Frau am Strand bei aufgehendem Mond“, 1912, Bleistift, Kirchner Museum Davos, Skizzenbuch 33, fol. 62). Das Gemälde „Mondaufgang auf Fehmarn“ (Ernst Ludwig Kirchner, Mondaufgang auf Fehmarn, 1914, Öl auf Leinwand, 150 x 120 cm, Düsseldorf, Stiftung Museum Kunstpalast, Dauerleihgabe Freunde Museum Kunstpalast, seit 1955, Inv. Nr. 0.1955.5308) lässt sich mit dem Holzschnitt bezüglich der Haltung und Anordnung der Figuren vergleichen. Es zeigt die beiden Figuren seitengleich zum Holzschnitt und wurde vermutlich erst nach dessen Entstehung ausgeführt. - Gustav Schiefler erwähnt 1926 in dem Werkverzeichnis der Druckgraphik Kirchners, dass sich ein Abzug des Holzschnitts „Mann und Frau am Strand bei aufgehendem Mond“ auf der Verso-Seite des Holzschnitts „Kopf Professor Graef“ (Schiefler 262; Dube 248 II) im Besitz des Künstlers befinde (Schiefler 207 II). Dieses Exemplar, ein Fehldruck aus dem Basler Nachlass Ernst Ludwig Kirchners, wird in der Graphischen Sammlung der Museumslandschaft Hessen Kassel verwahrt (Inv. Nr. GS 17197). - Laut Christiane Lukatis sind insgesamt höchstens 10 Exemplare des Holzschnitts „Mann und Frau am Strand bei aufgehendem Mond“ gedruckt worden. Gercken zählt in seinem 2015 veröffentlichten Werkverzeichnis der Druckgraphik Ernst Ludwig Kirchners insgesamt sieben Abzüge. Das Exemplar aus dem Städtischen Museum Braunschweig ist dort nicht berücksichtigt worden. Nach derzeitigem Kenntnisstand befinden sich drei Abzüge in Privatbesitz. Vier Exemplare werden neben dem Braunschweiger Blatt in Museen verwahrt. Neben dem Fehldruck in Kassel lässt sich ein Abzug im Kirchner Museum in Davos nachweisen. Ein Exemplar wird im Kupferstichkabinett der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe verwahrt. Zudem ist ein Blatt in der Sammlung Rombold im Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz zu finden. Die verschiedenen Abzüge weisen starke Unterschiede auf. Der in Davos befindliche Holzschnitt ist im Druck wesentlich kräftiger und kontrastreicher als das Exemplar in Braunschweig. Besonders der Stockgrund wurde stärker abgedruckt, so dass einzelne Schattierungen, etwa im Bereich der Wolken und des Strandes deutlicher und klarer hervortreten.
Urheber / Quelle: Lars Berg
- Location
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Städtisches Museum Braunschweig
- Inventory number
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1967-0184-00
- Measurements
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Breite: 235 mm (Platte)
Höhe: 342 mm (Platte)
Breite: 375 mm (Blatt)
Höhe: 498 mm (Blatt)
- Material/Technique
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Büttenpapier; Holzschnitt
- Inscription/Labeling
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Gravur: signiert, seitlich, am unteren linken Bildrand, mit Bleistift: "E. L Kirchner"
- Related object and literature
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Beschrieben in: A. Dube, „E.L. Kirchner Das graphische Werk“. Prestel, München, 1980. (Kat. Nr. H 241.)
Veröffentlicht in: E. L. Kirchner, „Ernst Ludwig Kirchner - Stationen Internationale Tage Ingelheim 2023“. Hirmer, München, 2023. (S. 104.)
Beschrieben in: G. Schiefler, „Bis 1916. Die Graphik Ernst Ludwig Kirchners bis 1924 ; Bd. 1“. Euphorion-Verl., Berlin-Charlottenburg, 1926. (S. 85, Kat.-Nr. 207 II.)
Beschrieben in: „Nummern 543 - 847 (1912-1916). Ernst Ludwig Kirchner / kritisches Werkverzeichnis der Druckgraphik ; Band 3“. Galerie Kornfeld Verlag AG, Bern, 2015. (S. 50, Kat.-Nr. 578 II.)
Beschrieben in: R. Schmücking, „Neuerwerbungen der Stadt Braunschweig Graphik ; Ausstellung im Kunstverein Braunschweig vom 4. Mai - 17. Juni 1966 ; [Ausstellungskatalog]“. Kunstverein, Braunschweig, 1966. (Kat. Nr. 63.)
Veröffentlicht in: Nachtrag zu Lagerkatalog 30a, Galerie Wolfgang Ketterer Stuttgart, Stuttgart 1964, S. 27, Nr. 2166 (mit Abb.).
Veröffentlicht in: Von Rembrandt bis Baselitz. Meisterwerke der Druckgraphik aus der Sammlung des Städtischen Museums Braunschweig, hrsg. v. Lars Berg und Peter Joch, Petersberg 2020, S. 125-126, Kat.-Nr. 36; S. 124 (Abb.).
Beschrieben in: Annemarie und Wolf-Dieter Dube, Ernst Ludwig Kirchner. Das Graphische Werk, 2 Bde., München 1967, Kat.-Nr. H 241.
Veröffentlicht in: Deutscher Holzschnitt im 20. Jahrhundert, Ausstellungskatalog des Kunstvereins Braunschweig e. V., Haus Salve Hospes, 15.11.1964-20.12.1964, S. 11, Kat.-Nr. 66; Abb. S. 18.
- Classification
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Grafik (Objektgattung)
- Subject (what)
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Junger Mann
Mond
Liegende
Boot
Boot, das durch menschliche oder tierische Kraft angetrieben wird
der Mond als Himmelskörper
das weibliche Geschlecht; die Frau
das männliche Geschlecht; der Mann
- Delivered via
- Last update
-
25.04.2025, 1:06 PM CEST
Data provider
Städtisches Museum Braunschweig. If you have any questions about the object, please contact the data provider.
Object type
- Holzschnitt
Time of origin
- 1912