Gemälde
Die Darbringung Christi im Tempel
Die Darbringung Christi im Tempel wird im Lukas-Evangelium geschildert (2,21–39). Kurz nach Jesu Geburt bringen ihn seine Eltern Maria und Josef in den Tempel von Jerusalem. Der Grund hierfür ist nicht ganz klar, abgesehen davon, dass es sich um ein jüdisches Ritual handelt: Geht es um die Beschneidung des Kindes, um seine Gottesweihe als erstgeborener Sohn oder um die rituelle Reinigung Marias nach der Niederkunft? Laut Lukas haben Maria und Josef als Opfergabe ein Paar Turteltauben (oder junge Tauben) bei sich. Im Tempel nimmt ein weiser Alter namens Simeon das Jesuskind auf den Arm und erkennt, dass es sich um den Messias handelt, während Hanna, eine alte Prophetin, das Wunder verkündet. Andrea Mantegnas Interpretation dieses Ereignisses unterscheidet sich gravierend von allen vorhergehenden Versionen, einschließlich eines Freskos von Giotto in der Scrovegni-Kapelle in Mantegnas Heimatstadt Padua. Mantegna zeigt weder den Tempel, noch den Altar, noch Tauben; für Anekdoten ist kein Platz. Anders als bei der Darstellung religiöser Szenen eigentlich obligatorisch, ist keine der Figuren ganzfigurig stehend wiedergegeben. Mantegna schneidet sie sozusagen in der Mitte durch, um das Geschehen aus nächster Nähe zu schildern – so unmittelbar, dass der Betrachter das Gefühl haben konnte, die gemalten Protagonisten griffen hinüber in die reale Welt. Dies gilt insbesondere für die bedeutendste Figur, Jesus Christus. Er steht auf einem Kissen, das auf der Brüstung des als Rahmen gestalteten Marmorfensters liegt. Auch der Ellbogen der Jungfrau ruht auf diesem Rahmen und weist damit in Richtung Betrachter. Zugleich stützt sie mit dem Arm ihr Kind, das sie nicht freigeben will; sie hält es mit beiden Händen fest, während Simeon den Anschein erweckt, er wolle es ihrem Griff regelrecht entreißen. Mantegnas Jesus schreit auf wie später bei der Kreuzigung; sein straffes Wickeltuch verweist auf sein Leichentuch, die Marmorbrüstung unter seinen Füßen auf sein Grab. Drei Nebenfiguren bilden den Hintergrund dieses Dramas: Josef in Frontalansicht in der Mitte, eine Frau links und ein Mann rechts, beide ohne Nimbus. Die Frau ist zu jung, um die von Lukas als 84-Jährige beschriebene Hanna darzustellen, und sie wendet sich vom Geschehen ab, genauso wie der Mann rechts hinten, dessen Blick überraschend abwesend wirkt. Mantegnas Darstellung im Tempel wurde oft mit Donatellos Pazzi-Madonna verglichen, einem Schlüsselwerk der florentiner Kunst, das sich ebenfalls im Besitz der Staatlichen Museen zu Berlin befindet. Donatellos Marmorrelief gehört zu den ersten Werken der Renaissance, die einen Rahmen mit fiktiver Perspektive als »Bildvermittler« aufweisen und der traurige Ausdruck, mit dem Maria ihre Stirn an die ihres Sohnes legt, scheint die von Mantegna dargestellte Haltung zu antizipieren. Da die Pazzi-Madonna etwa 1420 für einen florentiner Auftraggeber entstand, diente sie Mantegna sehr wahrscheinlich als direktes Modell – doch Donatello arbeitete ununterbrochen und der Maler könnte ein ähnliches Werk des Bildhauers auch während seines Aufenthalts in Padua gesehen haben. Das Röntgenbild des Berliner Gemäldes zeigt, dass Mantegna den Abstand zwischen Jungfrau und Kind verkleinerte, um Donatello zu übertrumpfen. Donatello hatte eine klare Trennung zwischen Szenen mit Halbfiguren – sie waren ikonischen und meditativen Sujets wie der Jungfrau mit Kind oder dem Schmerzensmann vorbehalten – und narrativen Szenen mit Ganzfiguren eingeführt. In seiner Darbringung im Tempel kombinierte Mantegna diese beiden Typologien und brachte so dem Betrachter die Heiligen und die biblische Erzählung auf eine noch nie dagewesene Weise buchstäblich nahe. Eine vergleichbare Darbringung im Tempel befindet sich im Besitz der Fondazione Querini Stampalia in Venedig. Die Tafel trägt auf der Rückseite Mantegnas Namen und hat stark gelitten. In einigen Bereichen ist die Farbschicht unwiederbringlich zerstört und nur noch die Entwurfszeichnung zu sehen. Der Zustand des Gemäldes hat die Zuschreibung nicht eben vereinfacht und Mantegnas Urheberschaft wird seit Langem bezweifelt. Die am besten erhaltenen Teile zeugen nichtsdestoweniger von einer außergewöhnlich virtuosen Maltechnik, die unmittelbar an Werke Giovanni Bellinis aus der Mitte der 1470er-Jahre denken lässt, während Mantegnas Berliner Darbringung einen starken Bezug zu seinem Werk aus der Mitte der 1450er-Jahre aufweist. Die neuere Forschung hat Licht ins Dunkel gebracht: Bellinis Version ist tatsächlich bei Mantegna abgemalt. Jahre nach der Entstehung von Mantegnas Gemälde verspürte Bellini wohl den Wunsch, das Werk seines Schwagers zu reproduzieren, konnte sich bemerkenswerte inhaltliche Veränderungen aber offenbar nicht verkneifen: Die Figuren wirken weniger lebendig, die Farbgebung ist tonaler, die Schatten subtiler, und der Marmorrahmen ist zugunsten einer einfachen Brüstung verschwunden. Statt zwei gibt es nun vier Hintergrundfiguren. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird die rechte Hintergrundfigur des Berliner Gemäldes als Selbstporträt Mantegnas interpretiert, und in der Tat gleichen die Gesichtszüge jenen des Grisaille-Porträts über den Fresken der Ovetari-Kapelle in Padua, das unumstritten als Ebenbild des Künstlers gilt. Die aus Gründen der Symmetrie hinzugefügte weibliche Hintergrundfigur links wurde als Nicolosia Bellini gedeutet, Giovannis Schwester und Mantegnas Ehefrau. Da ihre Hochzeit 1453 gefeiert wurde, könnte das Werk aus diesem oder aus dem Jahr 1454 stammen, sofern das Sujet auf die Geburt eines ersten Kindes anspielt. Hinsichtlich der Porträts in Bellinis Gemälde ergeht die Wissenschaft sich in Spekulationen: Wenn die rechte Hintergrundfigur, die den Betrachter anschaut, tatsächlich den Künstler darstellen soll, wieso unterscheidet sich ihr Antlitz dann so sehr von seinem überlieferten Abbild? Wie ist es um die Identität der anderen drei Figuren bestellt? Immerhin ist Giovanni Bellinis Herkunft sehr umstritten; wahrscheinlich wurde er unehelich geboren. Der gegenwärtige Kenntnisstand gemahnt zur Vorsicht – vielleicht sind diese Geheimnisse sogar grundlegend wichtig, um die Aura beider Bilder spüren zu können.| 200 Meisterwerke der europäischen Malerei - Gemäldegalerie Berlin, 2019 _________________________________________ The Presentation of Christ in the Temple is narrated in the Gospel of Saint Luke (2:21–39). Soon after his birth, Jesus was brought to the Temple in Jerusalem by his parents, Mary and Joseph. The reason for this journey is not entirely clear, except that it was a Jewish ritual: were they accomplishing the circumcision of the Child, his consecration to the Lord (as first-born male), or the ritual purification of his mother after giving birth? In any case, says Saint Luke, Joseph and Mary brought with them a pair of turtle doves (or two young pigeons) for sacrifice. In the temple, a wise elder named Simeon takes the Child in his arms, recognising him as the Messiah, while Anna, an old prophetess, proclaims the miracle. Andrea Mantegna’s interpretation in the Gemäldegalerie makes a decisive departure from all previous examples, including one model painted by Giotto in the Scrovegni Chapel in Mantegna’s own town, Padua. Mantegna includes neither temple, altar nor doves; there is no place for anecdote. The figures are not seen standing, as any painter was bound to do in representing a religious scene: Mantegna “cuts” his figures, half-length, to show as close as possible what is happening – to the extent that beholders might feel that the painted protagonists are encroaching on the real world. This is especially true of the most important figure, Jesus Christ, standing up on a cushion placed on the lower edge of the marble window framing the scene. The Virgin has placed her elbow on the frame, a sign in the direction of the onlooker as well as a point of support. Mary does not want to release her child, held firm in both hands, while Simeon seems to seize him from her grasp. Mantegna’s baby Jesus cries out as he will on the Cross, his tight swaddling clothes prefigure his shroud, and the marble parapet on which he stands announces his tomb. Behind these players in the drama, three secondary figures appear: Joseph in the middle, seen frontally, a woman at the far left, and a man at the far right, both without haloes. The woman is too young to be Anna, described by Saint Luke as being 84, and she is not looking at what is going on. As for the man, he has a surprisingly absent stare. Mantegna’s Presentation of Christ in the Temple has often been compared to the one of the key works of Florentine art, Donatello’s Pazzi Madonna, a work also belonging to the Staatliche Museen zu Berlin (fig. p. 318 above). This marble relief represents one of the first appearances in Renaissance art of a frame in fictive perspective that serves to mediate the image, while the tender, sad manner in which the Virgin places her forehead on that of her son seems to anticipate the attitude depicted by Mantegna. Since the Pazzi Madonna was created in about 1420 for a Florentine patron, it is very likely that it could have served as a direct model for Mantegna – but Donatello was incessantly productive, and the painter could have seen a similar work created by the sculptor during his Paduan sojourn. The X-radiograph of the Berlin painting shows that Mantegna reduced the distance between the Virgin and Child, in order to pit himself a little closer against Donatello’s invention. Donatello had established a clear distinction between scenes with half-length figures, representing iconic and meditative subjects such as the Virgin and Child or the Man of Sorrows, and narrative scenes, which show figures in full-length poses. In his Presentation of Christ in the Temple, Mantegna combines these two typologies: he thus draws us closer, in an unprecedented way, to the holy figures and to the sacred narrative. Another Presentation of Christ in the Temple is housed in the Fondazione Querini Stampalia in Venice (fig. left); painted on panel, it bears the name of Mantegna inscribed on its back and has suffered a great deal, some areas of pigment being irreversibly lost, showing only the preparatory stage. The condition of the painting has not made the task of attribution any easier, even if Mantegna’s authorship has long been dismissed. The best-preserved parts nonetheless reveal exceptional pictorial virtuosity, which directly recalls works painted by Giovanni Bellini in the mid-1470s, while Mantegna’s canvas is close to his work from the mid-1450s. New research has cast light on a remarkable feature: Bellini’s version is actually traced from that of Mantegna. A number of years after the creation of Mantegna’s Presentation, Giovanni Bellini felt the need to mechanically reproduce his brother-inlaw’s work, while being unable to stop himself from changing its content in singular ways: expressions have become less violent, colours are more tonal and shadows more subtle, while the marble framing has disappeared, yielding to a simple parapet. And the lateral figures have increased from two to four. Since the early 19th century, the figure on the right in the Berlin Presentation has been identified as a self-portrait of Mantegna; and it is true that it resembles the head painted in grisaille above the frescoes in the Ovetari Chapel in Padua, unanimously agreed to be the painter’s likeness of himself. For reasons of symmetry, the female figure on the left of the Berlin picture was identified as Nicolosia Bellini, Giovanni’s sister and Mantegna’s wife. Since their marriage was celebrated in 1453, the work could date from that year, or even from 1454, as the subject could allude to the birth of a first child. As for the portraits in Bellini’s painting, scholars have lost themselves in conjecture: if the figure on the right, gazing at us, were indeed the artist, how can we explain the fact that his features are so different from those we know of him? How can the identity of the other three figures be understood, given the highly problematic question of Giovanni’s birth – indeed given his likely illegitimacy? In our current state of knowledge, it makes sense to remain very prudent – perhaps those mysteries are essential to feel the aura of both pictures.| 200 Masterpieces of European Painting - Gemäldegalerie Berlin, 2019
- Location
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Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, BerlinDeutschland, BerlinDeutschland
- Inventory number
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29
- Measurements
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Bildmaß: 77,1 x 94,4 cm
- Material/Technique
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Leinwand
- Related object and literature
- Event
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Eigentumswechsel
- (description)
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1821 Ankauf aus der Sammlung des Kaufmanns Edward Solly
- Event
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Herstellung
- (where)
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Italien
- (when)
-
um 1454
- Last update
-
09.04.2025, 10:13 AM CEST
Data provider
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Object type
- Gemälde
Associated
Time of origin
- um 1454