Archivbestand

200,68/Nachlass Dr. Viktoria Steinbiß (Bestand)

Form und Inhalt: Vorwort zum Bestand 200,68/Nachlass Dr. Viktoria Steinbiß


Biographie Dr. Viktoria Steinbiß

Dr. Viktoria Steinbiß wurde am 19. August 1892 als Tochter des Maurermeisters Wilhelm Klarhorst (1853-1914) und dessen Ehefrau Henriette geb. Vinke (1858-1935) als achtes von zehn Kindern in Bielefeld geboren und auf den Namen Sophie Luise Victoria (mit "c"!) getauft. Der in Lämershagen geborene Vater war im Baugewerbe erfolgreich engagiert und hatte an zahlreichen Großprojekten in Bielefeld mitgewirkt, so dass aus dem Maurermeister ein erfolgreicher Bauunternehmer wurde. Ab 1899 besuchte Viktoria die private Höhere Mädchenschule (ab 1906 Cecilienschule), die sie am 14. Februar 1914 mit dem Reifezeugnis verließ. Im Folgejahr nahm Viktoria Steinbiß in Heidelberg ein Medizin-Studium auf, wechselte später an die Universität Berlin und legte ihre Vorprüfung in Göttingen ab, wo sie anschließend famulierte. Mit einer Studie "Über die Rolle der Erblichkeit in der Aetiologie der Geschwülste" wurde sie schließlich 1920 in Frankfurt/M. unter ihrem Mädchennamen Klarhorst zur Doktorin der Medizin promoviert. Die 1923 mit 26 Seiten veröffentlichte Arbeit beschäftigte sich mit den Ursachen von Wucherungen.

Am 1. Februar 1921 heiratete sie in Gadderbaum den Mediziner Dr. Walter Steinbiß, der seit 1909 in Bethel arbeitete. Kennen gelernt hatte sich das Paar offensichtlich im Pathologischen Institut Bethel, wo Viktoria Steinbiß seit April 1917 in den vorlesungsfreien Zeiten gearbeitet und sich zu einer "ganz wesentlichen[n] Hilfe" entwickelt hatte, wie Dr. Steinbiß ihr 1920 bestätigte. Bereits im Sommer 1921 verließ das Ehepaar Bielefeld in Richtung Berlin, wo Walter Steinbiß am Krankenhaus in Schöneberg Direktor des Pathologischen Instituts wurde, aber schon 1931 einem langjährigen Herzleiden erlag. Umgehend zog es die junge Witwe mit der 1926 erlangten Approbation zurück nach Bielefeld. Dort übernahm sie faktisch die Leitung des Laboratoriums im Städtischen Krankenhaus, erhielt aber zunächst keine feste Stelle. Nachdem ihre auch von der Krankenhausleitung unterstützten Einstellungsgesuche zuvor wiederholt abgelehnt worden waren, gelang ihr am 1. April 1933 die Übernahme in den Dienst des Städtischen Krankenhauses. Nach fünf Jahren verließ sie 1938 das Krankenhaus, um im Wesentlichen als Gesellschafterin der Baugesellschaft Sudbrack ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, die aus dem väterlichen Betrieb hervorgegangen war. Gelegentlich nahm sie Praxisvertretungen wahr, und kurzzeitig führte sie auch eine eigene Praxis. Parallel übernahm sie zahlreiche Ehrenämter, so in der Frauenhilfe, im Gustav-Adolf-Verein und in der Reformierten Gemeinde, dessen Presbyterium sie angehörte. Von 1941 bis 1966 war sie Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Frauenbundes in Bielefeld.

Politisch war sie bis 1945 unauffällig. Bei Ihrer Einstellung 1933 hatte sie angegeben, zuvor der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) angehört zu haben. Der 1933 von der NSDAP verfügte Aufnahmestopp verhinderte ihren gewünschten Zugang zur "Partei", freilich trat sie später nicht mehr bei, obwohl dieser 1937 gelockert und 1939 vollständig aufgehoben worden war. Die Beweggründe sind nicht unmittelbar ersichtlich, jedoch erscheint es naheliegend, dass sie die Radikalität des Regimes inzwischen erkannt hatte, denn auch ihre "Ersatzmitgliedschaft" in der SS als Förderndes Mitglied endete bereits 1936.

Mit dem Wiederaufbau und der Demokratisierung Deutschlands nach 1945 begann die politische Karriere von Dr. Steinbiß. Das in der Weimarer Republik in mehrere Parteien zersplitterte bürgerliche Lager fand 1945 einen Sammelpunkt in der neuen CDU, die als zunächst lockerer Wählerverband die konservative Wählerschaft an sich zu binden versuchte. Viktoria Steinbiß zählte zu den Gründungsmitgliedern der Bielefelder CDU, vertrat diese bald in wichtigen politischen Gremien und nahm zusätzlich weitere Funktionen im Partei-Umfeld an. So gehörte sie als einzige CDU-Ratsfrau dem ersten Bielefelder Stadtrat an, der am 21. Januar 1946 in der Oetkerhalle zusammentrat und noch von der britischen Besatzungsbehörde einberufen worden war. Bis 1954 kümmerte sie sich im Stadtrat vorrangig um die Belange der Jugendwohlfahrt und der Flüchtlingsfürsorge. Insgesamt 31.424 Flüchtlinge und Vertriebene waren bis zum 1. April 1952 aus deutschen Ostgebieten nach Bielefeld gekommen, ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 19,3 %, was einen überdurchschnittlichen Wert in Deutschland darstellte. Konsequenterweise setzte Steinbiß im Bundestagswahlkampf 1949 verstärkt auf die Themen Lastenausgleich, wirtschaftliche und kulturelle Eingliederung der Flüchtlinge und schließlich auch Rückgabe der Ostgebiete. Parallel übernahm sie 1946 den Vorsitz des neuen CDU-Frauenausschusses, aus dem später die Frauen-Union hervorging. Die politischen Ambitionen reichten jedoch über Bielefeld hinaus: 1946/47 war sie Mitglied des ernannten Zonenbeirats für die britische Zone sowie des Landtages NRW. So gestärkt, übernahm sie 1949 den Vorsitz der CDU-Ratsfraktion in Bielefeld und zog 1949 in den ersten Deutschen Bundestag ein, dem sie bis 1961 angehörte.

Ihr Schwerpunkt in der Bundespolitik war das Gesundheitswesen, wo sie sich auch als Lobbyistin der Ärzteschaft verstand und einflussreich wirkte. Vorteilhaft war hier ihre Nähe zu Bundeskanzler Konrad Adenauer, den sie zwischen 1957 und 1961 drei Mal zum Bundestagswahlkampf nach Bielefeld gelotst hatte. Im Vorfeld der Bundestagswahl 1957 war ihre Privatwohnung in der Bismarckstraße 7 wiederholt Schauplatz des "Bielefelder Forums", bei dem namhafte Gäste vor allem vor jungen Interessierten politische Vorträge hielten. Die Ärzteschaft verdankte es wohl auch den Interventionen von Viktoria Steinbiß, dass die geplante Reform der Krankenversicherung gestoppt wurde, die mit Verstaatlichungstendenzen die Position der Krankenkassen gegenüber den Ärzten gestärkt hätte. Zwei Legislaturperioden, von 1953 bis 1961, lang war sie stellvertretende Vorsitzende des Bundestagsausschusses für das Gesundheitswesen und gesundheitspolitische Sprecherin der CDU-/CSU-Fraktion. 1954 gehörte sie zu den Mitbegründerinnen des "Bundesausschusses für gesundheitliche Volksbelehrung" (später "für Gesundheitserziehung", heute Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung e.V.), dessen Vorsitz sie von 1958 bis 1966 innehatte. Als eine der Vizepräsidentinnen der Internationalen Union für Gesundheitserziehung vertrat sie ab 1959 für einige Jahre den europäischen Kontinent.

1961 schließlich honorierte der Deutsche Ärztetag das Engagement um das Gesundheitswesen mit der seit 1952 verliehenen Paracelus-Medaille, die jährlich in drei Sparten vergeben wird für "vorbildliche ärztliche Haltung, für hervorragende wissenschaftliche Leistungen und für erfolgreiche berufsständische Arbeit." Letztere gab offensichtlich den Zuschlag für Viktoria Steinbiß. Anlass war unübersehbar ihr Ausscheiden aus dem Bundestag. Nach dem Ende ihrer politischen Karriere erhielt sie ebenfalls 1961 das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Der Sozialdemokrat Dr. Ulrich Lohmar MdB anerkannte 1967 mit Achtung ihre Verdienste im Bundestag und lieferte nebenher Einblicke in den Charakter der früheren Bundestagsabgeordneten: "Wer sie von dort her kennt, weiß um den Respekt, den sie sich im Parlament erworben hat. Das war nicht nur eine Folge ihrer Sachkenntnis, sondern vor allem Ausdruck ihrer unverwechselbaren Persönlichkeit. Sie hat nie etwas davon gehalten, sich modischen Strömungen der Zeit anzupassen. Man mag sie in manchen ihrer politischen Auffassungen für konservativ halten, aber sie hält etwas davon, dass Menschen sich selbst treu bleiben. Das ist viel in unserer Zeit."

Viktoria Steinbiß starb am 11. Februar 1971 in Bielefeld. Ein Nachruf im Deutschen Ärzteblatt würdigte die Verdienste Viktoria Steinbiß´ am 27. Februar 1971 mit den Worten: "Kaum eine wichtige gesundheitspolitische Maßnahme, kaum ein wesentliches Gesetz aus diesem für Leben und Gesundheit unserer Menschen so wichtigen Bereich gab es, an dem diese außerordentliche Frau und Ärztin nicht maßgeblich beteiligt war."


Bestandsgeschichte

Die Unterlagen wurden dem Stadtarchiv Bielefeld 2002 von Margret Steinbiß, einer Schwiegertochter von Dr. Viktoria Steinbiß, als Schenkung überlassen.

Eine schmale Personalakte zu Dr. Viktoria Steinbiß liegt vor im Bestand 103,4/Personalakten, Nr. C 1655.


Benutzungshinweise

Archivalienbestellungen: 200,68/Nachlass Steinbiß, Nr.
Zitation: Stadtarchiv Bielefeld oder StArchBI, Best. 200,68/Nachlass Dr. Viktoria Steinbiß, Nr.


Literatur

- Rath, Jochen, 11. Februar 1971: Die Politikerin Dr. Viktoria Steinbiß verstirbt in Bielefeld (online-Ressource: http://www.bielefeld.de/de/biju/stadtar/rc/rar/01022011.html)
- Sax-Demuth, Waltraud, Die Bielefelderinnen - Starke Frauen, in: Andreas Beaugrand (Hg.), Stadtbuch Bielefeld. Tradition und Fortschritt in der ostwestfälischen Metropole, Bielefeld 1996, S. 112-117, hier S. 114f.
- Sunderbrink, Bärbel, "Eine besonders innerhalb unserer Partei tätige evangelische Frau". Die Ärztin und CDU-Politikerin Viktoria Steinbiß (1892-1971), in: dies. (Hg.), Frauen in der Bielefelder Geschichte, Bielefeld 2010, S. 181-191
- Vierhaus, Rudolf/Ludolf Herbst (Hg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949–2002, Bd. 1, München 2002, S. 841 f.


Dr. Jochen Rath
Archivleiter
Bielefeld, August 2017

Reference number of holding
200,068/NL Steinbiß, Dr.

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