Archivalie

Liebe, gute Darya, Wo wird Dich mein Brief erreichen?...

Transkription: Aachen, den 21 Okt, 1914 Liebe, gute Darya, Wo wird Dich mein Brief erreichen? Schriebst Du nicht einmal, Du wolltest nach Kopenhagen? Daß es der Zu- fälle immer mehrere würden! Danke Dir, Dein Page liegt in Aachen im Lazarett. Aber nicht verwundet - noch nicht verwundet- nein nur ein harmloser "Mittelfußknochen- bruch" von dem er bald wieder genesen sein wird. Ich bin nun wirklich neugierig, was das Schicksal mit mir will. Ich war 3 Tage vor dem Feind doch ohne ihn gesehen zu haben, nur im Feuer u. in der Gefahr der Granaten. Aber mein Gewehr hat noch kein Schuß verlassen - noch ist mein Gewissen nicht damit beschwert, einen Menschen getötet zu haben. Nun bin ich auf einige Wochen ,,ausser Gefecht ge- setzt - ich kehrte wieder - mit einem Fuß wenigstens - ins Leben zurück, mit dem ich in allem Ernst abgeschlossen hatte. Wieder ein warmes Bett -da ich 4 Wochen entbehrt hatte - gutes Essen u besorgte Schwestern - und im übrigen ganz meinen Gedanken überlassen. Ich hatte große Lust zu lesen u was fand ich unter greulichem Bibliothekschund? - Deinen Jakobsen! - Niels Lyhne. Das war allerdings mein Buch. Niels war ich. Ich kam aus den Überraschungen nicht heraus. Und was ist das! - er meldet sich als er, wie ich, satt war vom Leben u müde! - als Kriegsfrei- williger! Warum spielte mir der Zufall dieses Buch in die Hand? Als er dann seinen Schuß in der Brust hatte u sterben sollte - noch einmal diese Sehnsucht nach dem Leben. Als ich fertig war mit Lesen, lag ich regungslos - fiebernd. Dann der Gedanke, Leben um jeden Preis! Niels Lyhme hatte mir mein Schicksal vorweggenommen. Warum es wiederholen? - Jedoch: Ich habe mich König u Vaterland mit einem Eid verpflichtet. Ich bin also gebunden; wenn ich nicht zum Deserteur werden will. Mag also immerhin das Schicksal entschieden was es mit mir vor hat. Ich nehme es als Fatum, als Vorherbestimmung. - Wie geht es Dir, liebe Darya? Du bist viel bei mir, gingst neben mir auf den endlosen Märschen. Ich sah Dich mit Lola zur Tür ins Lazarett eintreten. Was sind mir meine Verwandten? nichts - wenn ich an die Menschen denke, die mir im Geist verwandt sind. Wie wenig sind das. Ich finde heute nur zwei. Es bist Du und mein Freund in der Schweiz. Macht euch denn die Entfernung so liebenswert? Bleib mir treu und gut u lass uns auf ein Wiedersehen hoffen. Wird Dich der Brief erreichen? Schreibe sofort od. telegrafiere. Ich werde doch einige Tage noch hier sein. Leb wol. Sei herzlich gegrüsst. Oskar adr. (Grenadier) O.S. Reserve Lazarett TV Michaelstraße Aachen

Sammlung
Archiv Oskar Schlemmer
Inventarnummer
AOS 2013/1,22
Material/Technik
Papier; Bleistift

Ereignis
Herstellung
(wer)
Oskar Schlemmer (04.09.1888 - 13.04.1943)
Dora Yekimovsky (1890 - 1972)
Provenienz
Abschrift vorhanden; Kasten 122 Mappe 10

Rechteinformation
Staatsgalerie Stuttgart
Letzte Aktualisierung
28.03.2025, 12:10 MEZ

Datenpartner

Dieses Objekt wird bereitgestellt von:
Staatsgalerie Stuttgart. Bei Fragen zum Objekt wenden Sie sich bitte an den Datenpartner.

Objekttyp

  • Archivalie

Beteiligte

Ähnliche Objekte (12)