Grafik
Veritas temporis filia
Chronos, der Gott der Zeit, hebt mit weit geöffneten Flügeln Veritas, die weibliche Personifikation der Wahrheit, gen Himmel. Der Gott ist als alter, bärtiger Mann dargestellt, der ein Stundenglas auf dem Kopf trägt. Sowohl er als auch die auf seiner Schulter sitzende Veritas sind unbekleidet. Die Nacktheit der beiden drückt aus, daß weder die Wahrheit noch die Zeit etwas verbergen können. Auf anderen Bildern tritt Chronos daher auch als Enthüller in Erscheinung, der den Mantel der Veritas lüftet und somit dem Betrachter die „nackte Wahrheit“ vor Augen führt. Veritas, die von einem alles erhellenden Leuchten umgeben wird, bildet mit ihrer Jugend und Schönheit einen auffälligen Gegensatz zu der häßlichen alten Frau, die sie am felsigen Boden zurückläßt. Bei dieser Figur handelt es sich um Invidia, die allegorische Verkörperung einer der sieben Todsünden, nämlich des Neids. Ein für sie typisches Attribut sind die züngelnden Schlangen, die sich auf ihrem Kopf winden. Außerdem führt sie gerade mit der linken Hand ihr eigenes Herz, das sie sich aus der entblößten Brust gerissen hat, zum Mund, um es zu verspeisen. - Bereits in der Antike hat das Motiv der Zeit eine große Rolle gespielt, und es gab verschiedene Figuren, die sie in der Kunst darstellten. Aion und Phanes dienten der Verdeutlichung der Ewigkeit, was durch eine sie umgebende Schlange symbolisiert wurde. Kairos und Occasio dagegen wurden dargestellt, wenn die Schnelligkeit, mit der eine Entscheidung zu treffen war, betont werden sollte. In der Kunst des Mittelalters diente dagegen eher der römische Gott Saturn der Darstellung der Zeit. Er entspricht in seiner Funktion als Gott des Ackerbaus dem aus der griechischen Mythologie stammenden Titanensohn Kronos, welcher wegen des gleichklingenden Namens mit Chronos, dem Gott der Zeit, in Verbindung gebracht wurde. In der Renaissance entwickelte sich schließlich der Chronos-Typus, wie er in der Kunst bis in das 19. Jahrhundert vorkommt. Die Personifikation der Zeit, wie sie in der Antike zu finden ist, verband sich jetzt mit den Darstellungsweisen des Kronos und des Gottes Saturn. Dies führte zu einer sehr ambivalenten Darstellung der Zeit. - Von nun an wurde sie sowohl als Enthüller und Retter, als auch als eine alles zerstörende Kraft gezeigt. - Der vorliegende Kupferstich zeigt Chronos in einer für das 16. Jahrhundert typischen positiven Funktion. Er bringt die Wahrheit ans Licht und erhebt sie über den Neid. Dies wird durch den Sinnspruch „Veritas Temporis Filia“ („Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit“), der sich über der Darstellung befindet, untermauert. Der Spruch stammt von dem antiken Dichter Aulus Gellius und ist neben „Die Wahrheit kommt ans Licht“ ein für das humanistische Zeit- und Geschichtsverständnis typischer Ausspruch, der von vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen für deren jeweilige Zwecke genutzt wurde. Ausgangspunkt für diese Umwertung der Zeit im 16. Jahrhundert war unter anderem die Reformation, welche die bis dahin verbindliche Glaubenswahrheit aufgebrochen sowie in Frage gestellt hat und damit eine Konkurrenzsituation zwischen Protestanten und Katholiken geschaffen hat. Beide Parteien sahen die Zeit als etwas Positives an, da sie die Erwartung hegten, daß die Wahrheit, also ihre entsprechende Auffassung von Glaube und Kirche, im Verlauf der Zeit aus göttlichem Willen ans Licht kommen würde. Aus diesem Grund wurden Bilder wie das hier behandelte von beiden Konfessionen häufig als Propaganda eingesetzt. Sehr beliebt waren Bilder dieses Topos auch als Titelblätter unterschiedlicher Schriften. Auf diese Weise erhält die Vorstellung von der fortschreitenden Zeit, die jede Lüge und Unwahrheit aufdeckt, ihre bildliche Umsetzung. Außerdem drücken diese Titelblätter die Zuversicht aus, daß die Bedeutung des Werks mit der Zeit bewiesen und der Autor den verdienten Ruhm erlangen werde. -
- Standort
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Georg-August-Universität Göttingen / Kunstgesch. Seminar und Kunstsammlung der Universität, Göttingen
- Inventarnummer
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D 3967
- Maße
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Höhe: 209 mm
Breite: 178 mm
- Material/Technik
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Kupferstich
- Inschrift/Beschriftung
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Aufschrift: Phili Galle excud. Iohan Strada inuen. Iohann Collaert Sculpt. (Signatur am unteren Bildrand )
Aufschrift: VERITAS TEMPORIS FILIA (Inschrift am oberen Bildrand )
- Verwandtes Objekt und Literatur
- Klassifikation
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Kupferstich (Oberbegriffsdatei)
- Bezug (was)
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Fels
Weiblicher Drache
Flügel
Kupferstich
die Zeit offenbart die Wahrheit; die Zeit trägt die Wahrheit empor
die Geschichte des Saturn (Chronos)
- Ereignis
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Entstehung
- Ereignis
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Herstellung
- (wer)
- (wo)
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Niederlande
- (wann)
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ca. 1612
- Förderung
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Die Digitalisierung wurde gefördert durch die Deutsche Digitale Bibliothek aus Mitteln des Programms „Neustart Kultur“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
- Letzte Aktualisierung
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24.04.2025, 12:58 MESZ
Datenpartner
Kunstsammlung der Universität Göttingen. Bei Fragen zum Objekt wenden Sie sich bitte an den Datenpartner.
Objekttyp
- Grafik
Beteiligte
- Straet, Jan van der (Vorbild / IdeengeberIn)
- Collaert, Hans (StecherIn)
- Galle, Philips (HerstellerIn, angegeben mit excud. )
Entstanden
- ca. 1612