Archivalie
Liebenswerte Romantikerin! Ihr Briefgen freute mich sehr...
Transkription: Abschrift Stuttgart 15. Mai 1913 Liebenswerte Romantikerin! Ihr Briefgen freute mich sehr denn es kam auf Pfingsten das liebliche Fest, das ich zwar arbeitend verbrachte denn ich wollte nicht allein unter festliche Menschen mit schiefen Absätzen u. Fransen an d. Hosen. Doch die Absätze werden gerade u. die Hosen gebügelt werden wenn ich das Glück haben werde, mein Bild in der Großen Ausstellungen zu verkaufen; Hoffnung ist vorhanden. Kommen Sie ja. Es wird schön werden. Haben Sie Reisegeld? Können Sie nicht etwas Geld bekommen um fürs erste hier ohne Arbeit zu leben. Leider kann ich gar nichts geben; momentan wenigstens. Aber kommen Sie. Ich will zu Pfitzer in die Gärtnerei gehen u. fragen u. schreibe dann sofort wieder. Ihr Bildgen ist schön. Sie sind darauf in jener ernsteren Stimmung die ich auch an Ihnen liebe, als wenn der Leichtsinn herrscht dessen ich mich dann mer freue. Das Bildgen ist wahrhaftig schön u. malenswert, besonders wenn es mit dem geistigen Auge gesehen wird. Ich sehe die Linie (ein Dreieck) von der Hand zu den Blumen durch die Nase zum Hirn u. von dort zum Herzen (die Linie der Haare). Ich werde es malen in dieser Vergeistigung. Kommen Sie, es zu betrachten. (2. Seite: das obere Drittel- 2 Frauenporträts gezeichnet) Weiter Text: Es wird Ihnen gefallen in Schwaben. Zwar sinds oft arge Mucker aber mit Ausnahmen, es sind auch feine Menschen da. Sie werden in Cannstatt am Neckar wohnen. In Stuttgart ist kein Fluß aber im Vorort Cannstatt. Dort sind auch Mineralquellen u. Bäder. Vom Atelier führt ein immergrüner Park dorthin (1/2 Stunde) jeden Morgen Conzert im Cursaal: Haydn, Mozart, Schumann u. serieuse alte Theologen sind die Kurgäste. Sie brauchen ja wenig, leben von Sonne u. Blumen, wie jene vollen reichen Menschen. Ich freue mich wieder russisch sprechen zu hören. Strafstwuidje, dobriwetscher, idih tschortu, doswidania; es ist eine russische Kirche hier (für Sünderinnen) und eine russische Herzogin ist kürzlich gestorben. Dann liegt auf dem roten Berg in der Grabkapelle eine russische Fürstin. Wir werden Sie besuchen u. vom Berg ins Neckartal hinabsteigen. Im übrigen wollen wir wenig Gemeinschaft mit den Toten machen. Wir werden nächtelang im Atelier sitzen (keine Halenseer Hunde werden bellen), wir werden uns vorlesen, meine Freunde heben gute Bücher. Wir werden Thee kochen mit königlichem Akademiegas u. wenn die Nacht warm ist hinunter in den Park gehen. Aber: Darianuschka, am Tage arbeiten! Ich habe ein Pfand einzulösen: Seit meiner letzten Ausstellung bin ich für Stuttgart der junde Revolutionär mit Feinden u. Freunden, Spöttern u. Bewunderern. Sie müssen mir helfen im Kampf um die neue Kunst und gegen die Philister.- Doch ich will Sie nicht binden. Vielleicht gefällt Ihnen mein Tun nicht u. Sie fühlen sich zu Andern mehr hingezogen. Dies würde mir Schmerz bereiten, aber ich hoffe dann auf das Gebärtüchtige des Schmerzes, denn alles Erleben muß zu Kunst werden. Denn ich bin nicht wie Sie Virtuose des Lebens, und der Künstler entsteht aus dem Schiffbruch, den er immer wieder am Leben leidet.- Einmal auch werden wir in der "Krone" sitzen in der Hauptstätterstraße und den verrufenen Absinth trinken; ich finde aber keine Schuld an ihm. Dann einmal nächstens auf dem Neckar Kahn fahren. Kommen Sie, es wird schön werden. Bringen Sie Ihre duftigen Kleidchen mit, oder schneidern Sie sich eines hier zusammen aus weissem Nesselstoff mit strengen Linien; bringen Sie die Sandalen, ich werde auch solche tragen im Sommer und Ihre seidenen Strümpfe. Ich sende eine Zeitungsnotiz u. ein Plakat, das ich auf den Stein gezeichnet habe. Sehen Sie den Kopf? Wollen Sie mir die Zeitung gelegentlich wieder schicken oder mitbringen, besser. Es war geplant, daß ich nach Paris reise mit dem Freund meines Bruders, doch nur kurz 4 Wochen etwa. Wenn Sie mitkönnten!? Auch meinen Freund Baumeister, der in der Schweiz bei Zürich lebt, wollte ich besuchen. Schaffen Sie Geld wenn möglich u. kommen Sie so bald als möglic
- Collection
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Archiv Oskar Schlemmer
- Inventory number
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AOS 2013/1,4
- Material/Technique
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Papier; maschinenschriftlich
- Event
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Herstellung
- (who)
- Rights
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Staatsgalerie Stuttgart
- Last update
-
28.03.2025, 12:10 PM CET
Data provider
Staatsgalerie Stuttgart. If you have any questions about the object, please contact the data provider.
Object type
- Archivalie
Associated
- Oskar Schlemmer (04.09.1888 - 13.04.1943)
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