Bestand
Reichsverband der Ortskrankenkassen (Bestand)
Geschichte des Bestandsbildners:
Bereits unmittelbar nach der Machtergreifung erließen die
Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 eine Reihe von Maßnahmen mit dem
Ziel, staatliche Organe und gesellschaftliche Gruppen gleichzuschalten
(1). Diese so genannte „Gleichschaltung" erfasste auch die Allgemeinen
Ortskrankenkassen, um deren Selbstverwaltung abzuschaffen und diese unter
staatliche Kontrolle zu stellen (2).
Vor diesem
Hintergrund ist auch die Gründung des Reichsverbands der
Ortskrankenkassen als eingetragener Verein am 1. März 1933 basierend auf
der „Verordnung über die Krankenversicherung" (3) einzuordnen. Die beiden
Spitzenverbände der Allgemeinen Ortskrankenkassen, der 1894 gegründete
Hauptverband der Krankenkassen Deutschlands e.V., in seiner Leitung
sozialistisch beeinflusst, und der seit 1912 tätige Gesamtverband der
Krankenkassen Deutschland (4), getragen vom christlich-sozialen
Volksdienst, wurden im Reichsverband zwangsvereinigt.
Ein weiterer Schritt erfolgte am 17. März 1933 durch die "Verordnung
zur Neuordnung der Krankenversicherung" (5). Im Ergebnis dieser Maßnahme
wurde bei den Krankenkassen auf Erlass des Reichsarbeitsministers (6) ein
besonderer Beauftragter eingesetzt. An die Weisungen des
Reichsarbeitsministers gebunden, nahm er alle Aufgaben wahr, die
satzungsgemäß den Organen der Krankenkassenverbände und
Krankenkassenvereinigungen zustanden. Er war für die Durchführung der
sachlichen und personellen Reformen, die Bildung einheitlicher
Krankenkassenverbände im Bereich einer Landesversicherungsanstalt
verantwortlich und konnte seinerseits Beauftragte einsetzen (7). Vor
allem oblag ihm die Überwachung und Kontrolle der korrekten Durchführung
der diversen Verordnungen. In Vollzug des „Gesetz zur Wiederherstellung
des Berufsbeamtentums" (8) wurden auch hier Juden und Sozialdemokraten
aus ihren Ämtern bei den Krankenkassen verdrängt. Von den Beauftragten
wurden diese Arbeitskräfte vielerorts durch unqualifizierte SA-Männer
ersetzt (9).
Paragraph 3 der „Verordnung zur
Neuordnung der Krankenversicherung" bestimmte zudem, dass nun auch die
Spitzenverbände der Aufsicht des Reichsarbeitsministers unterstanden. Als
Reichskommissar für den Hauptverband deutscher Krankenkassen wurde Ludwig
Brucker (10) ernannt, der den gesamten Vorstand absetzte und bis auf den
Registrator alle Angestellten entließ (11).
Das
„Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung" (12) vom 5. Juli 1934
schuf den Rahmen für einen umfassenden staatlichen Zugriff auf die
Allgemeinen Ortskrankenkassen. Der Reichsarbeitsminister konnte auf
Grundlage dieses Gesetzes für den Zeitraum von fünf Jahren einen
ehrenamtlichen Leiter ernennen, der als gesetzlicher Vertreter des
Reichsverbandes fungierte und die Satzung des Verbandes erließ. Der
ehrenamtliche Leiter erhielt Beratung durch einen Beirat. So blieb
formell die Selbstverwaltung der Krankenkassen bestehen, aber de facto
galt das „Führerprinzip" (13).
Gemeinschaftsaufgaben in der Krankenversicherung, wie der Betrieb
von Heilanstalten und Kurheimen wurden an die
Landesversicherungsanstalten übertragen. Es folgte der Verkauf der Heime
und Anstalten aus dem Besitz der Ortskrankenkassen an die
Landesversicherungsanstalten. Hier wirkte Albert Servais als Liquidator
der Ortskrankenkassenverbände der Rheinprovinz. Wegen seiner
Mitgliedschaft in der katholischen Zentrumspartei verlor er 1933 seine
Position als Zweiter Bürgermeister Aachens. Zunächst in den Ruhestand
versetzt, ermittelte er als Sachverständiger für den Reichsverband den
Verkaufswert der Heime und unterzog die übrigen Heime einer
Wirtschaftlichkeitsprüfung.
Durch die „Zwölfte
Verordnung zur Neuordnung der Krankenversicherung" (14) vom 6. September
1937 änderte sich mit Wirkung vom 1.10.1937 die Rechtsform des
Reichsverbandes der Ortskrankenkassen von einem privaten Rechtsträger zu
einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts (15). Diese Änderung betraf
auch den Reichsverband der Landeskrankenkassen, den Reichsverband der
Betriebskrankenkassen und den Reichsverband der
Innungskrankenkassen.
Nach der Aushebelung der
Selbstverwaltung der AOK beschränkten sich die Aufgaben des
Reichsverbandes nunmehr auf die Unterstützung des Reichsarbeitsministers
und des Reichsversicherungsamtes in grundsätzlichen Fragen der
Gesetzgebung und Verwaltung, die schriftliche und mündliche Beratung der
Mitgliedskassen, den Abschluss und die Änderung bestimmter Verträge und
Vereinbarungen wie z. B. Verträge mit den Verbänden und Vereinigungen der
Heilberufe und der Heilanstalten, die Vertretung der Ortskrankenkassen
gegenüber anderen Versicherungsträgern und die Beratung bei der Ernennung
und Abberufung der Kassenleiter (16). Dem Reichsverband der
Ortskrankenkassen oblag ferner als dem Verband mit der größten Anzahl von
Versicherten die Geschäftsführung der aus den Spitzenverbänden der
Krankenversicherung gebildeten Arbeitsgemeinschaft zur Behandlung aller
gemeinschaftlichen Aufgaben. Er war ihr Vertreter gegenüber dem
Reichsarbeitsminister und dem Reichsversicherungsamt.
Die Geschäftsführung des Reichsverbandes der Ortskrankenkassen saß
zunächst im Gebäude des ehemaligen Hauptverbandes der Krankenkassen in
Berlin-Charlottenburg, Berliner Straße 137. Sie verlegte ab Dezember 1937
ihren Sitz in die Uhlandstraße 195. Anfang 1943 mussten diese
Räumlichkeiten dem Oberkommando der Kriegsmarine zur Verfügung gestellt
werden. Der neue Sitz des Reichsverbands in der Ansbacher Straße 12-14
konnte seit dem 22. November 1943 aufgrund von Bombenschäden nicht mehr
genutzt werden (17). Das Gebäude und fast alle darin befindlichen Akten
des Reichsverbandes vernichtet. Als Zwischenunterkunft bezog der
Reichsverband Räumlichkeiten am Heidelberger Platz 3, in
Berlin-Wilmersdorf, um schließlich im Februar 1944 in den Gebäudekomplex
des Sanatoriums Wildbad (18) in der Nähe von Rothenburg ob der Tauber zu
ziehen, das dem Reichverband gehörte. Ab März 1945 befand sich die
„Leitstelle Sozialversicherung" ebenfalls in der Ausweichstelle
Rothenburg. Die Leitung des Reichsverbandes verblieb in diesen
Räumlichkeiten bis zum Juli 1945. In Berlin befanden sich lediglich noch
eine Verbindungsstelle zum Reichsarbeitsministerium und eine
Verbindungsstelle zum Reichsversicherungsamt. Eine weitere Ausweichstelle
existierte in Züllichau in der Provinz Brandenburg.
Die Leitung des Reichsverbands der Ortskrankenkassen übernahm vom
16. Mai 1939 bis 1945 Hans Zimmermann (19), der bis dahin
Verwaltungsdirektor der Allgemeinen Ortskrankenkasse in Nürnberg war.
Während Zimmermanns Zeit bei der Wehrmacht vom April 1942 bis November
1943 übernahm Peter Esser als Interimsleiter diesen Posten (20).
(1) Geiss, Imanuel. Gleichschaltung. In: Geschichte
griffbereit. Bd. 4. Begriffe. Gütersloh 2002. S. 975.
(2) Miquel, Marc. Ortskrankenkassen im „Dritten Reich". In:
Mitteilungsblatt für soziale Bewegungen. Heft 38/2008. S.66-76. hier S.
66 f.
(3) RGBl. 1933 I, Nr. 19, S. 97.
(4) Diesen Verband leitete der deutsch-nationale (CSP,
DNVP, CSVD) Reichstagsabgeordnete Franz Behrens (2.2.1872-14.9.1943). Zum
Verband gehörten Bezirks- und Provinzialverbände sowie der
Württembergische Krankenkassenverband.
(5) RGBl.
1933 I, Nr.23, S. 131-132.
(6) Franz Seldte
(29.6.1882-1.4.1947), Reichsarbeitsminister von 1933 bis 1945.
(7) Tennstedt, Florian. Geschichte der Selbstverwaltung
in der Krankenversicherung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur
Gründung der Bundesrepublik Deutschland. In: Soziale Selbstverwaltung.
Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Bd. 2. Bonn
1977. S. 186. Insgesamt wurden 1933 für 103 einzelne Krankenkassen und 41
Krankenkassenverbände staatliche Kommissare eingesetzt. In 91 Fällen
betraf dies die Allgemeinen Ortskrankenkassen.
(8)
Siehe Anm. 7 Tennstedt. S. 188 ff. So verlor beispielsweise die AOK
Berlin die Hälfte ihrer Belegschaft. Siehe auch BArch. R 42 I/8. In einer
Mitteilung an die Verbandskassen vom 26. Juli 1933, Betreff
„Wiederherstellung des Berufsbeamtentums - Einstellung national
zuverlässiger Personen" ist explizit vermerkt, dass Angehörige der SA,
der SS, vom Stahlhelm oder von der NSDAP bei der Neubesetzung von Stellen
bevorzugt zu berücksichtigen sind.
(9) Siehe
Tennstedt. Soziale Selbstverwaltung. S. 191 f.
(10) Ludwig Brucker (9.3.1888-Herbst 1948), NSDAP Politiker. Brucker
verlor im Zuge des Röhm- Putschs 1934 alle seine Parteiämter. Er starb in
sowjetischer Gefangenschaft im Speziallager Nr. 2 Buchenwald.
(11) Siehe Anm. 7 Tennstedt. S. 191 f.
(12) RGBl. 1934 I, Nr. 75, S. 577 ff.
(13)
Kluth, Winfried. Funktionale Selbstverwaltung. Verfassungsrechtlicher
Status - verfassungsrechtlicher Schutz. Tübingen 1995. S. 191.
(14) RGBl. 1937 I, Nr. 100, S .964 ff.
(15)Siehe Anm. 7 Tennstedt. S. 214 f.
(16)
Siehe Anm. 7 Tennstedt. S. 216.
(17) Eine
dreiseitige Schilderung vom 6. Dezember 1943 zum Fliegerangriff siehe
BArch R 42 I/2.
(18) Siehe BArch R 42 I/2 und
4.
(19) Hans Zimmermann (18.10.1906-1984), NSDAP
Politiker. Über Zimmermanns Werdegang nach 1945 ist nur bekannt, dass er
nach Nürnberg zurückging und im Jahr 1984 verstarb.
(20) Siehe Anm. 7. Tennstedt. S. 218.
Bestandsbeschreibung: Der Großteil
der Akten des Reichsverbands der Ortskrankenkassen verbrannte bei einem
Fliegerangriff auf Berlin in den Geschäftsräumen in der Ansbacher Straße.
Daraufhin legten die Mitarbeiter in Rothenburg ob der Tauber eine neue
Registratur an. Die vernichteten Vorgänge versuchte man zu rekonstruieren
und ließ sich daher Abschriften von Geschäftsvorgängen vom
Reichsarbeitsministerium, den anderen Reichsverbänden der Krankenkassen
und den Landesgeschäftsstellen schicken, die den Reichsverband betrafen.
Dennoch blieb die Rekonstruktion der früheren Registratur bruchstückhaft
und unvollständig. Im Juli 1945 wurden die in Rothenburg befindlichen
Akten von der amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt und waren
anschließend im Besitz der „Manpower Division". Die heute im Bundesarchiv
aufbewahrten Akten zum Reichsverband der Ortskrankenkassen gelangten im
Januar 1956 nach Koblenz und wurden zusammen mit Akten des
Reichsarbeitsministeriums, der Deutschen Arbeitsfront und weiterem
nationalsozialistischem Schriftgut (HICOG-Bücherei) übernommen.
Allerdings sind es nur Reste der einstigen Registratur. Der Verbleib der
übrigen Akten aus Rothenburg ist unbekannt.
Inhaltliche Charakterisierung: Der
zeitliche Schwerpunkt der Überlieferung liegt in den Jahren 1940 bis
1945. Die vorliegenden Akten des Reichsverbandes der Ortskrankenkassen
verdeutlichen eindrucksvoll anhand eines kleinen Verbandes die dem
NS-System immanenten Bestrebungen zur Zentralisierung der sich bis dato
selbstverwaltenden Sozialversicherung. Dieses System wurde auf die
besetzten Gebiete übertragen.
Erschließungszustand: Findbuch
2015
Zitierweise: BArch R
42-I/...
- Reference number of holding
-
Bundesarchiv, BArch R 42-I
- Extent
-
75 Aufbewahrungseinheiten
- Language of the material
-
deutsch
- Context
-
Bundesarchiv (Archivtektonik) >> Norddeutscher Bund und Deutsches Reich (1867/1871-1945) >> Arbeit, Soziales
- Related materials
-
Verwandtes Archivgut im Bundesarchiv: R 89 Reichsversicherungsamt
R 152 Reichsausführungsbehörde für Unfallversicherung
R 156 Reichsknappschaft
R 3901 Reichsarbeitsministerium
B 225 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger
Amtliche Druckschriften: Statistik der Krankenversicherung bei den Ortskrankenkassen. Berlin 1934 - 1937 [RD 121].
Die Ortskrankenkasse. Zeitschrift des Reichsverbandes der Ortskrankenkassen e.V. Berlin 1914 - 1943
Literatur: Geiss, Imanuel. Gleichschaltung. In: Geschichte griffbereit. Bd. 4. Begriffe, Gütersloh 2002, S. 975.
Kluth, Winfried. Funktionale Selbstverwaltung. Verfassungsrechtlicher Status - verfassungsrechtlicher Schutz. Tübingen 1995.
Miquel, Marc. Ortskrankenkassen im „Dritten Reich". In: Mitteilungsblatt für soziale Bewegungen. Heft 38/2008, S. 66-76.
Reidegeld, Eckhard: Sozialpolitik in Demokratie und Diktatur 1919-1945. In: Staatliche Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2. Wiesbaden 2006.
Tennstedt, Florian: Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland. In: Soziale Selbstverwaltung. Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Bd. 2. Bonn 1977.
Berichte über den Deutschen Krankenkassentag des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen. Verlag deutscher Krankenkassen. 1924 - 1929.
- Provenance
-
Reichsverband der Ortskrankenkassen, 1921-1945
- Date of creation of holding
-
1921-1945
- Other object pages
- Online-Beständeübersicht im Angebot des Archivs
- Zugangsbeschränkungen
-
Besondere Benutzungsbedingungen: Die Akten sind wie folgt zu zitieren: BArch R 42 I/ (Sign.)
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Die Benutzung im Bundesarchiv erfolgt nach den Vorschriften des Bundesarchiv-gesetzes vom 6. Januar 1988 (BGBl. I S. 62, zuletzt geändert am 27. Juni 2013, BGBl. I S. 1888) und der zu ihm erlassenen Rechtsverordnungen in der jeweils geltenden Fassung. Die Schutzfristverkürzung bei personengebundenen Unterlagen ist gemäß Bundesarchivgesetz auf Antrag möglich.
- Last update
-
16.01.2024, 8:43 AM CET
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- Bestand
Associated
- Reichsverband der Ortskrankenkassen, 1921-1945
Time of origin
- 1921-1945