Manuskripte | Typoskript

Lichtspiel um einen Stuhl. [Vermutlich Berlin]

Motiv Inhalt: »Raoul Hausmann Berlin-Charlottenburg, Kaiser Friedrichstr. 52. Lichtspiel um einen Stuhl. Von der Decke der kleinen graubraunwandigen Stube hängt an einer Verlängerungsschnur eine sechszig-Wattlampe herab. Sendet brennend Licht durch ihr blaues Glas, gedämpft durch einen kegelförmigen, gelblichen Papierschirm. Genau unter der Lampe steht ein Stuhl, Holz, dunkelgebeizt, die Rücklehne Strohgeflecht, die Sitzplatte mit Löchern in Kreisform, in der ein fünfzackiger Stern steht. An den Wänden die Möbel, Tisch, Schreibtisch, Bücherschrank, Ruhebett, weitere Stühle, sind eingesunken in das Halbdunkel, das der Lampenschirm hervorruft. Ein Mann ging im engen Raum umher. Er war aufgestanden, ein Blatt Papier zu holen, um seine Gedanken niederzuschreiben. Kein Strassenlärm lenkte ihn ab. In der Stille seiner Stube, in ihrer Armut und Einsamkeit war er allein mit sich, nichts nahm teil an seinen Vorstellungen der Welt. Ausser der Helligkeit, die kreisbegrenzt von der Zimmerdecke fiel, war alles untergetaucht in dunkle Schatten, nahm alles eine Art von Unwirklichkeit an, die herausgelöst schien aus dem Treiben der Welt, wie ein Gefängnis. Der Mann ging nachdenklich hin und her. Plötzlich fiel sein Blick auf die Lichtperlen, die die Lampe, unbeweglich leuchtend, durch den Stern des Sitzbrettes auf den Fussboden warf. Von einem Einfall getrieben, trat er näher, hielt das Blatt Papier hinter die geflochtene Stuhllehne. Das Muster des Strohflechtwerks erschien fein und sauber schwarz auf weiss abgebildet. Er entfernte das Papier etwas: das Muster veränderte sich. Er griff nach der Lampe, zog sie tiefer, beobachtete das Papierblatt: fortwährend verwandelte sich das Schattenbild. Drehte er die Lampe, so konnte er erreichen, dass, was zuerst weisser Lichtkreis war, umzugestalten in Halbkreise, in Rauten, schliesslich in Dunkel, aus dem Schattengitter teilweise Helligkeit wurde. Das machte die eigentümliche Wickelung des Glühfadens der Lampe. Es war ein seltsames Lichtspiel, das er veranstaltete. Die kleine und seltsame Welt dieser Lichtstickerei nahm den Mann ganz gefangen. Da nahm er die Lampe, führte sie noch tiefer, näherte sie mehr und mehr der hölzernen Sitzplatte, sah hingerissen auf die Dielen, auf denen in einer gewissen Entfernung des Lichtes vom Stuhl erst Gebilde entstanden wie Perlen, mit einem dunklen Fleck in der Mitte geformte helle Lichtkreise, daraus wurden Halbkreise, dann, als er die Lampe ganz nahe an den Sitz führte, immer grössere und verflochtenere, breitere und schmalere leuchtende Ringe, die Niemand mehr als die Abbilder des kleinen Lochmusters, fünfeckiger Stern in einem Kreis, erkannt hätte, angesehen hätte als die Umwandlung eines langweiligen Musters des gewöhnlichen Stuhles in wachsenden Schatten, sich steigerndes Licht, gleich einem Sternsystem im Weltraum. Der Mann war bezaubert von diesen Bewegungen des Hellen und Dunklen, das er fortdauernd neu hervorrief. Er spielte ein Lichtspiel, schuf abstrakte Formen aus der Gewöhnlichkeit eines alten Stuhles.«
Anzahl Teile/Umfang: 2 Blatt

Fotograf*in: Anja Elisabeth Witte

Rechte vorbehalten - Freier Zugang

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Standort
Berlinische Galerie
Inventarnummer
BG-RHA 1489
Material/Technik
Papier, maschinengeschrieben, Durchschlag
Würdigung
Erworben aus Mitteln der Senatsverwaltung für Kulturelle Angelegenheiten, Berlin, und Spendenmitteln

Bezug (was)
3.2.3 Texte des Nachlassers
Deutschland / Berlin
Typoskript
Nachlass-Raoul-Hausmann
Texte von Raoul Hausmann

Ereignis
Herstellung
(wer)
(wann)
[1931]

Rechteinformation
Berlinische Galerie, Berlin / VG Wort, München
Letzte Aktualisierung
26.09.2024, 12:30 MESZ

Datenpartner

Dieses Objekt wird bereitgestellt von:
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Objekttyp

  • Manuskripte; Typoskript

Beteiligte

Entstanden

  • [1931]

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