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Die Situation der Sorben in Vergangenheit und Gegenwart

Wirtschaftliche Modernisierung und Strukturwandel, die Dominanz deutschsprachiger Kommunikation in fast allen Lebensbereichen und die rückläufige demographische Entwicklung bewirken seit 1990 ein Schrumpfen der zweisprachigen Region in der Oberlausitz (im Osten Sachsens) ebenso wie in der Niederlausitz (im Südosten Brandenburgs). Es sind zur Jahrtausendwende kaum mehr als 40 000 Ober- und 20 000 Niedersorben (auf Sorbisch ”Serbja” bzw. ”Serby”, auf Deutsch auch ”Wenden” genannt). Ihre Vorfahren – die 631 in der Chronik des Fredegar erstmals erwähnten ”Surbi” – haben einst ein zehnmal größeres Territorium (etwa 40 000 km2 zwischen Elbe und Saale im Westen, Oder, Bober und Queis im Osten) landwirtschaftlich erschlossen. Gegen Ende der Völkerwanderung waren sie von ihrer Urheimat nördlich der Karpaten, entlang dem Mittelgebirgsnordrand oder durch die Mährische Pforte, bis an Elbe und Saale vorgedrungen. Da die Elbslawen keinen eigenen Staat gebildet hatten, waren sie stets in das jeweilige deutsche Gemeinwesen eingebunden: vom Heiligen Römischen Reich bis zur Bundesrepublik. Die römisch-katholische Enklave nordwestlich Bautzens, die sich lange vom Umland abgrenzen konnte, gilt heute als das sorbische Kerngebiet. 1904 weihten die Sorben in Bautzen ihr ”Wendisches Haus” ein, 1912 gründeten sie in Hoyerswerda eine Dachorganisation für ihre Vereine, die Domowina. Der Zusammenbruch des Dritten Reichs wurde von den meisten Sorben als Befreiung empfunden. In den 40 Jahren ihres Bestehens hat die DDR sorbische Sprache und Kultur materiell beträchtlich gefördert. Die rechtliche Stellung der Sorben war im internationalen Vergleich zeitweise vorbildhaft. Den Sorben blieb aber – ebenso wie allen Ostdeutschen – die Mitwirkung an wichtigen staatlichen Entscheidungen verwehrt. Alle sorbischen Einrichtungen, die in den ersten 20 Jahren nach Kriegsende geschaffen wurden, bestehen in der Gegenwart fort und werden seit 1992 von der Stiftung für das sorbische Volk getragen, deren Etat anteilig vom Bund (3/6), von Sachsen (2/6) und von Brandenburg (1/6) gebildet wird. Die Sorben identifizieren sich traditionell stark mit ihren Institutionen, die in Bautzen und z. T. in Cottbus konzentriert sind, denn eigene staatliche Strukturen besitzen sie nicht. Der Einigungsvertrag von 1990 sicherte den Sorben in einer Protokollnotiz (Nr. 14 zu Art. 35) die Wahrung ihrer nationalen Identität zu und bekräftigte die Freiheit von Sprache und Kultur. Sachsen und Brandenburg garantieren in ihren Verfassungen und in speziellen ”Sorbengesetzen” aus den neunziger Jahren den Sorben oder Wenden entscheidende Rechte. Letztlich aber liegt es an den Angehörigen der sorb ischen Volksgruppe selbst, in welchem Umfang die gebotenen Chancen zur Erhaltung und Entfaltung der sprachlichen und kulturellen Substanz heute und in Zukunft genutzt werden.

Die Situation der Sorben in Vergangenheit und Gegenwart

Urheber*in: Scholze, Dietrich

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Weitere Titel
The situation with the Sorbs in the past and the present
ISSN
0943-7142
Umfang
Seite(n): 51-56
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Status: Veröffentlichungsversion; begutachtet

Erschienen in
Europa Regional, 10.2002(2)

Thema
Sozialwissenschaften, Soziologie
Geschichte
Ethnologie, Kulturanthropologie, Ethnosoziologie
allgemeine Geschichte
Sorbe
Deutschland
Sachsen
Brandenburg
Minderheitenpolitik
Nationalität
Mehrsprachigkeit
historische Entwicklung
kulturelle Identität
Ethnizität
regionale Identität

Ereignis
Geistige Schöpfung
(wer)
Scholze, Dietrich
Ereignis
Veröffentlichung
(wo)
Deutschland
(wann)
2002

URN
urn:nbn:de:0168-ssoar-48956-0
Rechteinformation
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Bibliothek Köln
Letzte Aktualisierung
21.06.2024, 16:26 MESZ

Datenpartner

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Objekttyp

  • Zeitschriftenartikel

Beteiligte

  • Scholze, Dietrich

Entstanden

  • 2002

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