Bestand

210,35/Spinnerei Vorwärts (Bestand)

Verwaltungsgeschichte/biographische Angaben:

Form und Inhalt: Vorwort zum Bestand 210,35/Spinnerei Vorwärts (1852-1954)


Unternehmensgeschichte

Am 17. August 1850 unterzeichneten die Gebrüder Gustav Bozi (1819-1887), der technischer Direktor wurde, Theodor Bozi (1812-1864) und Carl Bozi (1809-1889) einen Gesellschaftsvertrag zur Gründung der Spinnerei Vorwärts in Brackwede. Letzterer war spiritus rector, treibende Kraft und kaufmännischer Leiter der Unternehmung, die eine „Flachs- und Wergmaschinenspinnerei” finanzieren und nahe Bielefeld anlegen wollte. Die Firmengründer waren Söhne des 1800 aus Ungarn nach Friedrichsdorf zugewanderten Kleinbauernsohnes Michael Bozi und seiner Frau. Vier Söhne und acht Mädchen gingen aus der Ehe hervor. 1816 siedelte die Familie nach Bielefeld über, wo der Vater den Waldhof gekauft hatte und später eine Ölmühle errichtete. Michael Bozi, der als Höker begonnen hatte, dehnte seine kaufmännischen Aktivitäten auf das Ausland und den Garnhandel aus.

Bielefeld hatte sich im 18. Jahrhundert zum regionalen Wirtschaftszentrum entwickelt. Produktionsweise, Qualität und Handelsformen sicherten diese dominante Position und hielten das Bielefelder Leinen bis in die 1830er Jahre wettbewerbsfähig. Dann ließen Importe der günstiger produzierten britischen Baumwollerzeugnisse die Preise verfallen und die Spinner und Weber verelenden. Bozis Garnhandel litt unter den mechanisch gefertigten Spinnerzeugnissen aus Irland und England. Die Preise für handgesponnene Produkte verfielen zusehends. Michael Bozi erkannte diese Zeichen, als er seinen Sohn Carl an einen der großen Schauplätze der startenden Industriellen Revolution entsandte: das irische Belfast. Dort lernte Carl Bozi die Maschinenspinnerei kennen. Carl Bozi exportierte das produzierte Garn auch nach Bielefeld, umgekehrt führte er Feingarn aus dem väterlichen Geschäft nach Belfast ein. Sein Garnhandel florierte derart, dass 1840 sein Bruder Theodor als Teilhaber eintrat.

Die genauen Beweggründe Carl Bozis, 1847 wieder nach Bielefeld zurückzukehren, bleiben unklar. In Belfast war er familiär und geschäftlich etabliert, vielleicht trieb ihn jedoch die Sorge um das väterliche Geschäft zurück auf den Kontinent, möglicherweise war es auch die Hoffnung auf reiche Pioniergewinne, die sich durch eine Modernisierung der untermechanisierten deutschen Flachsspinnerei einstellen konnten, wenn Kapital mutig in eine neue Produktionsmethode angelegt wurde. Carl Bozi warb nach seiner Rückkehr bei der Regierung in Minden und beim Oberpräsidium in Münster für ein großrahmiges Projekt. Für den konkurrenzfähigen Betrieb von mindestens 4.000 Spindeln benötigte er ein Startkapital von 200.000 Talern. Bozi dachte hier an ein frühindustrielles „public-private-partnership”, das hälftig durch private Anleger und den Staat finanziert werden sollte. Preußen lehnte ab, leistete jedoch eine – seinerzeit nicht unübliche – Spindelprämie von 6 Reichstalern (= 30.000 Reichstaler bei 5.000 Spindeln) als verlorenen Zuschuss und räumte Zollnachlässe für Maschinenimporte ein.

Mit dieser staatlichen Anschubfinanzierung und Stützungsmaßnahmen, vor allem aber Dank der Einlagen der Gebrüder Bozi, angeheirateter Schwager und auswärtiger Freunde im Umfang von 170.000 Reichstalern gelang die Kapitalsicherung. Die modernisierungsskeptischen lokalen Leinenhändler dagegen beteiligten sich nicht. Ein zeitgleich initiiertes Konkurrenzprojekt der Bielefelder zur Mechanisierung der Garnherstellung scheiterte unter der Führung von Rudolph Delius (1802-1859) allerdings.

Im Amt Brackwede hatte Carl Bozi auch im Namen seiner Brüder bereits am 11. April 1850 Flächen und Gebäude angekauft. Das an der Minden-Coblenzer Straße gelegene Areal bot Raum für Erweiterungen, freilich wäre ein Standort in der Nähe des Bielefelder Bahnhofes, der seit 1847 bestand, noch günstiger gewesen, stand aber vielleicht (zumindest für Bozis) nicht zur Verfügung. Im Oktober 1851 nahm die Spinnerei Vorwärts ihre Produktion auf und auch in Bielefeld begann tatsächlich die Industrialisierung. Der erfolgreiche Startup vor den Toren der Stadt überzeugte die Skeptiker – die Geschäftsidee war gut und nachahmenswert, aber Bozis Unternehmen kein Anlageobjekt für das lokale Establishment. Eine Gruppe um Hermann Delius (1819-1894) investierte am Standort des ehemaligen „Fabriquengartens” lieber in den Aufbau eines eigenen Projekts, in die spätere Ravensberger Spinnerei. Im Januar 1857 nahm diese die Produktion auf, war in den 1860er Jahren bereits die größte Flachsgarnspinnerei Deutschlands und befand sich auf Augenhöhe mit den Branchenriesen in Großbritannien. Der ambitioniert gestarteten Spinnerei Vorwärts mangelte es bald an eigenem Betriebskapital, während die Bielefelder Konkurrenzgründung Aktienzeichnungen sogar hatte stoppen müssen.

Als Liberaler mit englischem „sozialpatriarchalischem Akzent” (Homburg/Mooser) übernahm Carl Bozi mit seinem Bruder Verantwortung für die Belegschaft: 1855 profitierte diese von einem Lebensmittelgroßeinkauf, den beide arrangiert hatten, 1857 ließen sie Arbeitswohnungen errichten und gründeten eine Betriebskrankenkasse. Lokalpolitisch trat Carl Bozi nicht nachhaltig in Erscheinung, lediglich 1865 bis 1871 war er Stadtverordneter.

Die Bozis waren schon 1854 gezwungen, ihre Familiengesellschaft „Gebrüder Bozi et Compagnie” zu einer echten Aktiengesellschaft umzuwandeln, um frisches Geld auch für die projektierte Verdoppelung der Spindelzahl zu aktivieren. Die ersten Aktienzeichnungen mit 281.600 Talern entfielen vor allem auf die Familie, Verwandtschaft und Freunde. Weitere 64 Interessenten zeichneten zusammen 122.600 Taler. Diese externen Zeichner – darunter auch modernisierungsbegeisterte preußische Beamte – kamen aus einem Raum von Antwerpen und Lüttich bis Dingelstädt im Eichsfeld, von Koblenz bis Stralsund, nur sechs aus Bielefeld selbst. Die Aktienemission half für den Moment, gleichwohl lag das Betriebskapital von „Vorwärts” bei 40 Prozent der „Raspi”, die Spindelzahl bei 50 Prozent.

Als die notwendige Umwandlung zu einer Aktiengesellschaft gerade abgeschlossen war, trafen das Unternehmen, das inzwischen 300 Menschen beschäftigte, neue Schläge: Das Handelsministerium signalisierte Bozi im April 1855, dass die Regierung den Betrieb von 120 mechanischen Webstühlen durch ihn nicht wünsche. Es schien gerade so, als ob den Bozis eine Vorreiterrolle und Spitzenposition missgönnt wurde. Am 6. Februar 1856 vernichtete ein Brand nach einem Gasaustritt u. a. 860 Garnbündel und 22 Haspelmaschinen.

Die chronisch dünne Kapitaldecke, unternehmerische Überforderung und technische Mängel setzten dem Unternehmen weiter zu. Parallel hatten die Direktoren Bozi ihre Anteile schrittweise reduziert, verstanden sich nunmehr als bezahlte Manager. 1863 stand die Spinnerei unmittelbar vor der Insolvenz, obwohl die neue Zielgröße von 10.000 Spindeln erreicht worden war, dagegen gerade einmal 30 mechanische Webstühle arbeiteten (in der Mechanischen Weberei in der Stadt liefen 1870 dagegen 325). Regelmäßig lag die Dividende unter der der „Raspi”, aber noch über den eigenen Verhältnissen. Eigentlich wäre eine Kapitalrückführung in das Unternehmen erforderlich gewesen, um z. B. den Maschinenpark zu modernisieren und damit produktiv zu bleiben. Zusätzlich gelang es nicht, die Arbeiter dauerhaft an den Betrieb zu binden. Ein neuerlicher Brandfall 1866, Dampfmaschinendefekte und daraus resultierende Produktionsausfälle 1868 und allgemeine Konjunkturschwankungen taten ihr Übriges.

Auf der Aktionärsversammlung am 13. Mai 1869 nahm die vorbereitete Demontage von Verwaltungsrat und Direktion ihren Lauf: Misswirtschaft, Unvermögen und Bilanzfälschung lauteteten die Vorwürfe. Der Betrieb solle mit der Raspi fusionieren. Angesichts der Anwürfe hatte Carl Bozi bereits resigniert und schon am 8. April 1869 gekündigt. Sein Bruder Gustav, dem der Haupttadel Funckes galt, folgte später. Am 1. November 1869 endete die Ära Bozi bei der Spinnerei Vorwärts offiziell. Durch einen Dividendenverzicht und eine Anlegeranleihe konnte das Unternehmen wieder auf Kurs gebracht werden.

Die Spinnerei Vorwärts behauptete sich bis zum Ersten Weltkrieg gut am Markt, verlor danach aber deutlich an Absatz für Flachsgarne und Leinen, da Leinen gegenüber den Baumwollprodukten zu teuer war. Während der Inflationszeit übernahmen 1922 böhmische und schlesische Leinenindustrielle die Spinnerei, Anfang der 1930er Jahre dann der Bleichereibesitzer Gustav Windel, der den Betrieb 1955 stilllegte. Die Gebäude gingen später an die Dr. August Oetker KG über.


Bestandsgeschichte

Der Bestand ist 2001 von der Dr. August Oetker KG, auf deren Firmenareal sich die Gebäude der Spinnerei Vorwärts befinden, als Depositum vorverzeichnet übernommen worden. Die Erschließungsdaten wurden vor der online-Schaltung ergänzt und überarbeitet. Es handelt sich um Registraturreste, die vor allem die Tätigkeit der Unternehmensleitung und Gremien dokumentieren, während der personell-technische Bereich ist unterrepräsentiert ist. Die Nr. 59 wurde um Einzelstücke aus der Landesgeschichtlichen Bibliothek ergänzt, die Nr. 64 ist dieser vollständig entnommen.


Benutzungshinweise

Die Dr. August Oetker KG erlaubt die Nutzung des Depositums/Bestands auf Grundlage des Archivgesetzes NRW in der jeweils gültigen Fassung.

Archivalienbestellungen: 210,35/Spinnerei Vorwärts, Nr.
Zitation: Stadtarchiv Bielefeld oder StArchBI, Best. 210,35/Spinnerei Vorwärts, Nr.


Literatur

- Adelmann, Gerhard, Die Stadt Bielefeld als Zentrum fabrikindustrieller Gründungen nach 1850, in: Werner Besch/Klaus Fehn u.a. (Hg.), Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift Edith Ennen, Bonn 1972, S. 884-894
- Bozi, Alfred, Lebenserinnerungen, (masch.) Bielefeld 1937
- Ditt, Karl, Industrialisierung, Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Bielefeld 1850-1914 (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte, Bd. 4), (Diss. Bielefeld 1980) Dortmund 1982
- Homburg, Heidrun/Josef Mooser, Michael Bozi (1775-1862), Carl Bozi (1809-1889) und Gustav Bozi (1819-1887), in: Jürgen Kocka/Reinhard Vogelsang (Hg.), Bielefelder Unternehmer des 18. bis 20. Jahrhunderts (Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Bd. 14), Münster 1991, S. 25-61
- Rath, Jochen, 27. Mai 1889: Carl Bozi – Mitbegründer der Spinnerei Vorwärts – stirbt in Bielefeld (Online-Ressource: https://historischer-rueckklick-bielefeld.com/2014/05/01/01052014/)
- Sartorius, Otto, Hundert Jahre Spinnerei Vorwärts 1850-1950, Bielefeld 1950
- Vogelsang, Reinhard, Geschichte der Stadt Bielefeld, Bd. 2: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Bielefeld 1988
- Volmer, Lutz, Bürgerliche Baukultur in Bielefeld im 18. und 19. Jahrhundert. Lokale Prägungen und überregionale Einflüsse, in: Jürgen Büschenfeld/Bärbel Sunderbrink (Hg.), Bielefeld und die Welt – Prägungen und Impulse, Bielefeld 2014, S. 399-416


Dr. Jochen Rath
Archivleiter
Bielefeld, Mai 2017

Bestandssignatur
210,035/Spinn. Vorwärts

Kontext
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld (Archivtektonik) >> Nichtamtliches Schriftgut >> Firmenarchive

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Letzte Aktualisierung
23.06.2025, 08:11 MESZ

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