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Nachlass Anderson-Manahan, Anastasia (Bestand)
Vorwort: Im Herbst 2018 wandten sich die Eigentümer des sogenannten „Anastasia-Archivs“, eine Erbengemeinschaft, an das Bayerische Hauptstaatsarchiv mit dem Angebot der schenkungsweisen Überlassung des Archivs zur dauerhaften Sicherung und Zugänglichmachung. Die Wahl war auf das Bayerische Hauptstaatsarchiv gefallen, weil dort auch das Familienarchiv Leuchtenberg verwahrt wird; die Herzöge von Leuchtenberg hatten Anastasia zeitweilig gefördert – vor allem aber wurde ihre Urne in Seeon, dem letzten Familiensitz der Leuchtenberger, beigesetzt. Da „Anastasia“ unbestritten zeitweilig zu Weltruhm gelangt war und damit eine Ikone des 20. Jahrhunderts darstellt, hat das Bayerische Hauptstaatsarchiv als national und international anerkannte Institution die Schenkung angenommen – wohlgemerkt als neutrale, verwahrende Stelle zur Sicherung der Überlieferung vor Zerstreuung und einer geplanten Verbringung ins Ausland und unabhängig von der wahren oder angenommenen Identität Anastasias. Die Einreihung in die Bestände des Bayerischen Hauptstaatsarchivs (in die Bestandsgruppe der Nachlässe) erfolgte daher unter der Bestandsbezeichnung „BayHStA, Nachlass Anderson-Manahan, Anastasia“. Diese Bezeichnung wurde hier aus rein fachlich-theoretischen Überlegungen gebildet. Sie setzt sich zusammen aus den letzten von ihr geführten bürgerlichen Nachnamen (Anderson bzw. Manahan) und dem Vornamen Anastasia, der geradezu als Signalwort dient, der die Person erkennbar macht, und dem daher der Vorzug gegenüber dem letzten bürgerlichen Vornamen (Anna) gegeben wurde. Eine Person „Anastasia Anderson-Manahan“ hat es somit nie gegeben, die Bezeichnung bildet aber die Quintessenz aus dem zur Wahl stehenden Namenspool (Großfürstin Anastasia von Russland bzw. Anastasia Nikolajewna Romanowa / Anastasia Tschaikowsky / Franziska Schanzkowski / Anna Anderson / Anna Manahan bzw. Anna Anderson-Manahan); die Person, die sich hinter diesen Identitäten verbarg, wird in diesem Vorwort und im Findbuch üblicherweise nur als „Anastasia“ bezeichnet. Die Bestandsbezeichnung als Nachlass bedarf ebenfalls kurz der fachlichen Erläuterung: Zwar handelt es sich überwiegend um Material über Anastasia, allerdings sind durchaus Unterlagen enthalten, die tatsächlich von Anastasia stammen oder die bei Personen angefallen sind, die sich ihrer und ihrer Sache angenommen hatten; bei größerer Selbständigkeit Anastasias wären diese Unterlagen (z.B. Anwaltskorrespondenz, Prozessunterlagen) durchaus bei ihr selbst zu suchen gewesen. Es handelt sich somit um einen unechten bzw. angereicherten Nachlass, der aber Teile eines echten Nachlasses enthält. Zur Person der Nachlassgeberin Großfürstin Anastasia von Russland wurde am 18. Juni 1901 (nach gregorianischem Kalender) als vierte Tochter des letzten russischen Zaren Nikolaus II. geboren. Nach Stand der Forschung wurde sie in der Folge der russischen Oktoberrevolution am 17. Juli 1918 zusammen mit weiteren Familienmitgliedern von den Bolschewiken ermordet. Ab Herbst 1921 gab eine junge Frau, die nach einem Selbstmordversuch am 17. Februar 1920 durch Sprung in den Berliner Landwehrkanal in eine psychiatrische Klinik kam, im Zuge der Behandlungen an, eine Tochter des letzten Zaren und damit eine Großfürstin von Russland zu sein. War ihre Aussage zur eigenen Identität anfangs noch unbestimmt und schwankte zwischen den Zarentöchtern Tatjana (geb. 1897) und Anastasia, so legte sie sich nach einiger Zeit auf die Identität als Anastasia fest. Heutige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es sich bei der Patientin um Franziska Schanzkowski, geb. am 22. Dez. 1896 im damaligen Regierungsbezirk Danzig, handelte, die 1914 nach Berlin gekommen war und sich dort zunächst als Serviererin, dann als Fabrikarbeiterin in einer Munitionsfabrik durchschlug. Durch ein Explosionsunglück an ihrem Arbeitsplatz zog sie sich nicht nur körperliche Verletzungen zu, sondern erlitt auch einen nervlichen Schock (angeblich verstärkt durch die Nachricht, dass ihr Verlobter an der Front gefallen war). In der Folge wurde sie erstmals in eine Heilanstalt eingewiesen, von der sie später als ungeheilt, aber ungefährlich wieder entlassen wurde. Seither kränklich und schwach und daher unfähig zu weiterer Fabrikarbeit, fand sie Aufnahme bei einer Familie Wingender. Dort verschwand sie am 17. Februar 1920 und wurde als vermisst gemeldet. Die Nachricht vom Wiederauftauchen der Zarentochter Anastasia erhielt durch eine Mitpatientin, die Beziehungen zu exilrussischen Familien hatte, einen ungeheuren Aufschwung und erregte schnell großes Interesse in diesem Kreis. Obwohl erste Identifizierungsversuche durch Verwandte oder Bedienstete der Zarenfamilie ernüchternde Ergebnisse brachte, verbreitete sich das Gerücht hartnäckig weiter und führte in der Folge nicht nur zur Entlassung Anastasias im Mai 1922, sondern auch dazu, dass sie seither über mehrere Jahrzehnte stets Aufnahme und Unterstützung – wenn auch an häufig wechselnden Stationen – vorwiegend in hohen bürgerlichen und adeligen Kreisen finden sollte. Insbesondere die ersten Monate nach der Entlassung, als sie bei Baron von Kleist, einem früheren Landrat aus der Posener Gegend, wohnen konnte, waren für den weiteren Lebensweg Anastasias von großer Bedeutung. Hier erhielt sie nicht nur Zugang zu Literatur, Fotografien und anderen Informationen über der Zarenhof, sondern konnte dieses Wissen durch persönliche Begegnungen mit Zeitzeugen bis ins Detail besprechen. In diesen Monaten (Mai bis August 1922) füllte sie allmählich, zunächst nur in groben Zügen, dann immer detailreicher, auch die biografische Lücke, also die Geschichte ihres Überlebens und ihrer Flucht. Ihrer Erklärung zufolge sei sie bei der Erschießung im Juli 1918 nur verletzt worden. Ein Pole namens Alexander Tschaikowsky habe sie gerettet und sei mit ihr (unter dem Decknamen Anastasia Tschaikowsky) von Sibirien nach Rumänien geflüchtet. Dort habe sie ihn geheiratet und ihm einen Sohn geboren, der aber in Bukarest zurückgelassen wurde, nachdem Tschaikowsky dort ums Leben gekommen war. Danach habe sie sich mit dessen Schwager in Richtung Deutschland aufgemacht, um sich dort an Prinzessin Irene von Preußen, die Schwester des Zaren, um Hilfe zu wenden. In Berlin habe sie ihr Begleiter verlassen, was zu ihrem seelischen Zusammenbruch geführt habe, infolge dessen sie durch den Sprung in den Landwehrkanal versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Mit dieser Lebensgeschichte, die sie seither nicht nur mit Überzeugung vertrat, sondern eben tatsächlich verkörperte, wurde sie für viele Exilrussen oder deren Verwandte und damit auch für einen Großteil des europäischen Adels eine Symbolfigur für die untergegangene, gewaltsam beseitigte Vergangenheit – diese Verschiebung vom Rationalen zum Emotionalen brachte es wohl mit sich, dass Fragen nach Plausibilität, Kontinuität und Identität weitgehend in den Hintergrund treten konnten. Hinzu kam, dass die Geschichte Anastasias fast von Anfang an publizistisch und journalistisch begleitet und verbreitet wurde; insbesondere die Künstlerin Harriet von Rathlef-Keilmann (1887-1933) und der Journalist und Sohn des letzten Leibarztes der Zarenfamilie, Gleb Botkin (1900-1969), machten die Geschichte noch in den 1920er Jahren in der deutschsprachigen bzw. amerikanischen Öffentlichkeit bekannt und legten damit die Grundlage für die späteren zahlreichen Veröffentlichungen und die Popularisierung des Stoffes durch mehrere Verfilmungen bis hin zu einer Zeichentrickserie. Den Höhepunkt der Popularität bildeten sicherlich die beiden Filme aus dem Jahr 1956: Sowohl der deutsche Spielfilm „Anastasia, die letzte Zarentochter“ mit Lilli Palmer als Anastasia unter der Regie von Falk Harnack als auch der Hollywood-Film „Anastasia“ von Anatole Litvak unter anderem mit Ingrid Bergman und Yul Brynner wurden zu Kassenschlagern und erhielten Nominierungen und Auszeichnungen in den wichtigsten Filmkategorien (u.a. Oscar und Golden Globe bzw. Deutscher Filmpreis für die besten Hauptdarstellerinnen). Durch die Vermittlung von Gleb Botkin hatte sich Anastasia nach USA gewandt, wohin sie Anfang 1928 zog. In diesem Jahr begann auch die lange Reihe von Versuchen, auf juristischem Weg an Teile des Zarenvermögens zu gelangen. Zunächst gründeten amerikanische Anwälte die Aktiengesellschaft „Grandanor“ (Abgekürzt aus „Grand Duchess Anastasia Nikolajevna of Russia“), deren Anteilseigner an dem zu erwartenden Vermögen beteiligt werden sollten. Zivilrechtliche Schritte in Deutschland wurden 1938 eingeleitet, als in Anastasias Namen in Berlin ein Erbscheinverfahren angestrengt wurde, das aber sowohl vom Amtsgericht (1941) als auch vom Landgericht (1956) zurückgewiesen wurde. Ab 1957 wurde mit Gerichtsstand Hamburg ein Anklageverfahren gegen die Herzogin zu Mecklenburg als Erbin der Zarenschwester Prinzessin Irene von Preußen erhoben. Nachdem das Landgericht Hamburg am 15. Mai 1961 die Klage abgewiesen hatte, kam es zum Berufungsverfahren vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht. Dieses wies die Berufung am 28. Februar 1967 zurück, nachdem dort zuletzt für ein halbes Jahr ein Spezialsenat gebildet worden war, der sich ausschließlich mit diesem Fall befasst hatte. Das Urteil der beiden Vorinstanzen wurde schließlich am 17. Februar 1970 vom Bundesgerichtshof endgültig bestätigt. Die Lebensgeschichte Anastasias blieb auch nach ihrer ersten Auswanderung nach Amerika unstet. Wie zuvor in Deutschland blieb sie immer nur für kurze Zeiträume zu Gast bei verschiedensten Persönlichkeiten, nur unterbrochen von mehreren Sanatoriumsaufenthalten. Im August 1931 kehrte sie nach Deutschland zurück, und zwar unter dem neuen Namen „Anna Anderson“; einen entsprechenden Pass hatte sie zuvor beim deutschen Konsulat in New York beantragt. Nachdem sie die Kriegsjahre überwiegend bei Verwandten und Bekannten des Prinzen Friedrich-Ernst von Sachsen-Altenburg in Thüringen verbracht hatte, erhielt sie nach Kriegsende einen weiteren behelfsmäßigen Personalausweis auf diesen Namen, mit dem sie im April 1947 nach Unterlengenhardt in der Nähe von Bad Liebenzell (Lkr. Calw, Baden-Württemberg) zog. Dort stellte ihr der Prinz von Sachsen-Altenburg 1949 eine ehemalige Flak-Baracke als Wohngebäude zur Verfügung. Erst hier kam ihr Leben, das sie seither mit einer Betreuerin und mehreren Hunden führte, für etwa zwei Jahrzehnte zur Ruhe. Wiederum durch Vermittlung von Gleb Botkin wanderte sie im Juli 1968 diesmal endgültig in die USA aus. Dort heiratete sie am 23. Dezember 1968 den Historiker John Eacott Manahan (verstorben 1990), mit dem sie seither zurückgezogen in Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia lebte. Dort verstarb sie am 12. Februar 1984. Nach der Einäscherung wurde ihre Urne am 18. Juni 1984 auf dem orthodoxen Teil des Seeoner Friedhofs beigesetzt, wo auch Mitglieder der Familie der Herzöge von Leuchtenberg ruhen. Der Grabstein trägt die Lebensjahre „1901-1984“, den Namen „Anastasia Manahan“ in lateinischer und den Vornamen Anastasia in kyrillischer Schrift. Das „Anastasia-Archiv“ Die Grundlage des vorliegenden Archivbestandes bildet das sogenannte „Anastasia-Archiv“, das von der Historikerin Helga Rühle von Lilienstern, einer Vertrauten von Prinz Friedrich Ernst von Sachsen-Altenburg, in mehreren Ordnungsschritten zusammengestellt worden ist. Den Kernbestandteil bilden darin die Unterlagen von Prinz Friedrich Ernst, den Generalbevollmächtigten Anastasias. Nachdem dieser 1985 verstorben war, lagen Teile der Unterlagen bei der Witwe des Bürgermeisters Berger von Unterlengenhardt. Nach deren Tod 1988 veranlasste der Erbprinz von Sachsen-Altenburg die Übergabe des Materials an Frau Rühle von Lilienstern. Bei der Sichtung machte diese die Feststellung, dass sich darin nicht nur die von Friedrich Ernst gesammelten Unterlagen befanden, sondern auch diejenigen der 1968 verstorbenen Baronin Monica von Miltitz; es waren also von vornherein zwei Überlieferungsstränge zu erkennen. In einem ersten Ordnungsschritt entstand so das erste „Anastasia-Archiv“ im Umfang von 12 Ordnern aus dem Material von Prinz Friedrich Ernst und Baronin von Miltitz. Hinzu kamen weitere 4 Ordner aus den Nachlässen der Gräfin von Portuales und des Bürgermeisters Berger aus Unterlengenhardt. Über den Rechtsanwalt Baron von Stackelberg, Anastasias Rechtsbeisteher beim Bundesgerichtshof, konnte der Kontakt zu Baron Ulrich von Gienanth hergestellt werden, der ebenfalls Unterlagen von und über Anastasia besaß und der in Anastasias Testament von 1955 als Testamentsvollstrecker eingesetzt worden war; dabei war ihm auch ausdrücklich die Verfügungsgewalt über ihren schriftlichen Nachlass übertragen worden. Er verfügte insbesondere über Material aus der Zeit 1951 bis 1961, darunter seine Korrespondenzen mit Rechtsanwalt Vermehren, Prinz Friedrich Ernst, Baron Miltitz und anderen, Korrespondenzen, Vertragsunterlagen und Abrechnungen mit Filmgesellschaften und Verlagen sowie Unterlagen zum Hausbau in Unterlengenhardt und zur Kontoführung für Anastasia. In der Folge wurden die beiden Überlieferungsstränge von Helga Rühle von Lilienstern zusammengeführt, in eine systematische Abfolge gebracht und mit einer umfangreichen Beständeübersicht mit Grob- und Feinverzeichnissen bis 1990 abschließend erschlossen. Der Umfang des „Anastasia-Archivs“ betrug dabei zuletzt 38 Ordner, 15 Mappen und eine Reihe von Büchern. Mit Vereinbarung von 1991 wurde das „Anastasia-Archiv“ zunächst dem Fürsten Friedrich Wilhelm zu Wied zur Verwaltung und Betreuung übergeben, während das Eigentum gemeinschaftlich bei Ulrich Freiherrn von Gienanth und Helga Rühle von Lilienstern verblieb. Bereits nach wenigen Jahren wurde das „Anastasia-Archiv“ dann aber an das Institut für personengeschichtliche Forschung, Bensheim, übergeben. Dabei wurde bestimmt, dass eine inhaltliche Auswertung sowohl für amtliche Stellen als auch für Privatpersonen zulässig sei, bei Letzteren jedoch nur nach Darlegung eines berechtigten Interesses. Schließlich erreichte das Bayerische Hauptstaatsarchiv im Herbst 2018 das Angebot der Erbengemeinschaft zur schenkungsweisen Überlassung des Überlieferungskomplexes; mit dem Abschluss eines Schenkungsvertrages und der Übergabe der Unterlagen im Jahr 2019 hat damit der ehemals als „Anastasia-Archiv“ bezeichnete Überlieferungskomplex eine neue Heimat gefunden. Benutzung Der Nachlass Anastasia Anderson-Manahan steht für die allgemeine Benützung gemäß den Bestimmungen der Archivbenützungsordnung der Staatlichen Archive Bayerns zur Verfügung. Lediglich die jüngsten Unterlagen zur Eigentumsfrage und zur Übergabe an das Bayerische Hauptstaatsarchiv weisen noch Schutzfristen auf. Dr. Thomas Paringer Dezember 2020
- Bestandssignatur
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NL Anderson-Manahan Anastasia
- Umfang
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103
- Sprache der Unterlagen
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ger
- Kontext
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Bayerisches Hauptstaatsarchiv (Archivtektonik) >> Beständetektonik des Bayerischen Hauptstaatsarchivs >> 5 Abteilung V: Nachlässe und Sammlungen >> 5.1 Nachlässe und Familienarchive >> 5.1.2 Nachlässe >> Nachlässe A - E
- Provenienz
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Nachlass Anderson-Manahan, Anastasia
- Bestandslaufzeit
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1917-2021
- Weitere Objektseiten
- Letzte Aktualisierung
-
03.04.2025, 11:04 MESZ
Datenpartner
Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Bei Fragen zum Objekt wenden Sie sich bitte an den Datenpartner.
Objekttyp
- Bestand
- Akten
Beteiligte
- Nachlass Anderson-Manahan, Anastasia
Entstanden
- 1917-2021