Grafik
Luther als Prasser
Der Kupferstich zeigt eine häusliche Szene. Zwei Männer in Mönchskutten sitzen an einem gedeckten, runden Tisch, an den eine Frau in Ordenstracht herangetreten ist. Der links Sitzende hat seinen rechten Arm lässig auf den Tisch gestützt. In der rechten Hand hält er einen Stab erhoben. Der zweite Mann ist mit seinem Stuhl etwas vom Tisch abgerückt und stochert in einem Ei. Die Nonne, die ihm den Rücken zuwendet, krault ihn mit der Hand am Kinn und wendet sich mit dem erhobenen Zeigefinger der anderen Hand dem links Sitzenden zu. Die Mahlzeit weist einige Merkwürdigkeiten auf. So fliegen gebratene Hähnchen durch die Luft und Eierschalen fallen vom Tisch. Eine Katze liegt vor einem brennenden Kamin. Vor dem Tisch sitzt ein Hund auf einem Stuhl. Über dem Kaminsims hängt ein kleines rundes Bild, das Maria mit dem Kind im Arm zeigt. Sie hat den Zeigefinder der rechten Hand in der gleichen Geste erhoben wie die Nonne. Ein Gemälde an der rückwärtigen Wand zeigt Moses, wie er mit einem Stab Wasser aus einem Felsen schlägt. In die Tiefe wird der Blick in einen weiteren Raum, in dem Spinnerinnen arbeiten, freigegeben. - Wegen der physiognomischen Ähnlichkeit ist zu vermuten, daß es sich bei der links am Tisch sitzenden Person um Martin Luther handelt. Auch die Kleidung entspricht der Tracht Luthers, der das Barett der Gelehrten und als Augustiner eine schwarze Kutte mit Kapuze trug. Die Frau im Habit wird Katharina von Bora sein, die Ehefrau Luthers, die zuvor Nonne war. Auffallend ist, daß Martin Luther und seine Frau die Gesten der Hauptpersonen der beiden Bilder im Raum wiederholen. Katharina von Bora wird als frivole Nonne und untreue Ehefrau, die mit dem zweiten Mönch kokettiert, der Tugend der Jungfrau Maria gegenübergestellt. Ebenso wird das Quellwunder Mose mit der Prasserei Luthers kontrastiert. Während Moses Glauben an Gott dem Volk in der Wüste das lebensnotwendige Wasser verschaffte, verstellt Luther mit seiner Völlerei, bei der ihm die Hähnchen in den Mund fliegen, den Menschen den Blick für den wahren Glauben. Auch der Ausdruck von Luthers Gesicht verrät das Bemühen, ihn zu diffamieren. Im Gegensatz zur Überlieferung, daß Luthers Ausstrahlung in seinen Augen lag, wird er hier mit müdem, verschleierten Blick gegeben, ganz ohne den asketischen und kämpferischen Ausdruck protestantischer Lutherportraits. Der Stich ist als antilutherisches Propagandablatt zu verstehen. - Das Druckmedium spielt von Anfang an eine große Rolle in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit. Es wurde von den Reformatoren wirkungsvoll eingesetzt und ließ erst den neuen Glauben zu einer Massenbewegung werden. Von besonderer Bedeutung war das Flugblatt, da es rasch Nachrichten, Aufrufe und Argumente der streitenden Parteien verbreitete. Durch eine anschauliche Verbildlichung der Argumentation ließ sich auch das einfache, vielfach des Lesens unkundige Volk erreichen. In drastischen Bildern wurden von reformatorischer Seite her der Papst und seine Anhänger verunglimpft, während Luther in positiv besetzten Rollenportraits gezeigt wurde, etwa als Evangelist, als heiliger Hieronymus oder in der Erlöserrolle Christi. Auch der katholische Klerus setzte das Druckmedium für seine Zwecke ein, wenngleich in geringerem Umfang und selten mit der Brillanz reformatorischer Blätter. Auf gegenreformatorischen Drucken, die sich oft auf die Person Luthers bezogen, wurden die Rollenportraits ins Negative verkehrt. So wurde Luther etwa als Hercules Germanicus, als wütender Barbar, gezeigt, oder als siebenköpfiges Ungeheuer, in Entsprechung zu dem siebenköpfigen Papstungeheuer reformatorischer Pamphlete, das vom Ungeheuer der Apokalypse abgeleitet ist. - Luther wurde als lasterhaft und unter dem Einfluß des Teufels stehend dargestellt, etwa Hand in Hand mit dem Teufel oder dessen Einflüsterungen ergeben. Ebenso wurde Katharina von Bora in oft anstößiger Weise als sündig gekennzeichnet. Dem gegenüber erscheint die antilutherische Polemik des vorliegenden Stichs vergleichsweise zurückhaltend.
- Standort
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Georg-August-Universität Göttingen / Kunstgesch. Seminar und Kunstsammlung der Universität, Göttingen
- Inventarnummer
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D 2261
- Maße
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Höhe: 247 mm (Blattmaß)
Breite: 320 mm (Blattmaß)
- Material/Technik
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Papier; Kupferstich
- Inschrift/Beschriftung
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Marke: BIBL. / R. A.CA[D.] / G.A. (Am unteren, rechten Bildrand, teilweise abgeschnitten)
Aufschrift: HCF [legiert] (Monogramm des Künstlers)
- Verwandtes Objekt und Literatur
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Literatur in Zusammenhang: K. Harlinghausen und S. Bad Oeynhausen, „Luther im Porträt Druckgrafik 1550 - 1900“. Jonas, Verl. für Kunst u. Literatur, Marburg a.L., 1983. (S. 6)
Literatur in Zusammenhang: R. W. Scribner, „For the sake of simple folk Popular propaganda for the German Reformation“, Cambridge studies in oral and literate culture, Bd. 2. Cambridge Univ. Press, Cambridge [u.a.], 1981. (S. 229, 231)
Literatur in Zusammenhang: W. Hofmann, M. J. Dierker, C. Beutler, und M. Huber, „Luther und die Folgen für die Kunst Hamburger Kunsthalle [11. November 1983 - 8. Januar 1984]“. Prestel-Verl., München, 1983. (S. 121)
Beschrieben in: F. W. H. Hollstein, „Abry - Berchem“, @Dutch and Flemish etchings, engravings and woodcuts, Bd. Vol. 1. Hertzberger [u.a.], Amsterdam [u.a.], 1949. (Remark: Monogrammists of the 16th and 17th century)
Veröffentlicht in: „Gott & die Welt : niederländische Graphik des 16. Jahrhunderts aus der Kunstsammlung der Universität Göttingen ; [Carsten-Peter Warncke zum 60. Geburtstag] ; [Kunstsammlung der Universität Göttingen, 10. Juni bis 8. Juli 2007, Emslandmuseum Schloß Clemenswerth, 2. September bis 31. Oktober 2007, Ostfriesisches Landesmuseum Emden, 17. Februar bis 30. März 2008]“. Cuvillier, Göttingen, 2007. (Nr. 60)
- Klassifikation
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Zeichnung/Grafik (Hessische Systematik)
Grafik (Oberbegriffsdatei)
- Bezug (was)
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Gegenreformation
Laster
Unmäßigkeit
Beeinflussung
Mönch
Nonne
Mönche und Nonnen
historische Person (mit NAMEN)
Allegorien und Personifikationen des Protestantismus
politische Karikaturen und Satiren
Gefräßigkeit, Unmäßigkeit (Ripa: Gula, Gola, Ingordigia, Ingordigia overo Avidità, Voracità): Personifikation einer der sieben Todsünden
die Reformation (römisch-katholische Kirche vs. Protestantismus)
die Madonna (d.h. Maria mit Kind) von anderen Personen begleitet oder umgeben
Moses (nicht im biblischen Kontext); mögliche Attribute: Lichtstrahlen oder Hörner auf seinem Kopf, Stab, Gesetzestafeln
Wollust, Luxuria (Ripa: Lussuria): Personifikation einer der sieben Todsünden
Faulheit, Gleichgültigkeit (Ripa: Acedia, Desidia, Accidia): Personifikation einer der sieben Todsünden
- Bezug (wer)
- Ereignis
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Herstellung
- (wer)
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unbekannter StecherIn, um 1560, Wirkungsort: Niederlande (Monogrammist HCF)
- (wo)
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Niederlande
- (wann)
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ca. 1650
- Förderung
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Die Digitalisierung wurde gefördert durch die Deutsche Digitale Bibliothek aus Mitteln des Programms „Neustart Kultur“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
- Letzte Aktualisierung
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24.04.2025, 12:58 MESZ
Datenpartner
Kunstsammlung der Universität Göttingen. Bei Fragen zum Objekt wenden Sie sich bitte an den Datenpartner.
Objekttyp
- Grafik
Beteiligte
- unbekannter StecherIn, um 1560, Wirkungsort: Niederlande (Monogrammist HCF)
Entstanden
- ca. 1650