Arbeitspapier | Working paper

Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats

"Legitimationsbedürftig ist herrschaftliches Handeln, das die Präferenzen oder Interessen der Betroffenen verletzt. In demokratischen politischen Systemen kann solches Handeln entweder input-orientiert durch Bezug auf die kollektiven Präferenzen oder output-orientiert durch Bezug auf die gemeinsamen Interessen der Regierten legitimiert werden. Im Nationalstaat ergänzen und verstärken sich beide Arten von Argumenten; und beide finden ihre Grundlage in politischen Institutionen, welche die direkte oder indirekte Abhängigkeit der Regierenden von den Regierten sichern, effektives politisches Handeln ermöglichen und den Mißbrauch der Regierungsmacht verhindern sollen. Jenseits des Nationalstaats fehlen nicht nur wesentliche institutionelle Voraussetzungen der inputorientierten Legitimation, sondern es fehlt auch die Voraussetzung einer starken kollektiven Identität, die erst die Ausbildung kollektiver Präferenzen ermöglicht, die auch unfreiwillige Umverteilung und zugemutete Sonderopfer legitimieren könnten. Die dann allein verfügbare Output-Legitimation ist jedoch in ihrer Reichweite begrenzt. Sie kann nicht die Verletzung gravierender Interessen der Regierten rechtfertigen. In der Europäischen Union ist die Beachtung dieser normativen Beschränkung zwar durch die Veto-Struktur ihrer „politischen“ Institutionen gewährleistet. Wenn hier dennoch Legitimationsdefizite auftreten können, dann deshalb, weil anders als im Nationalstaat in der EU das unmittelbar rechtswirksame Handeln der „unpolitischen“ Institutionen (der Europäischen Zentralbank, des Europäischen Gerichtshofs und der EU-Kommission bei Vertragsverletzungsverfahren) nicht der letztlichen Kontrolle politisch verantwortlicher Instanzen unterliegt. Außerhalb der EU fehlt dem Regieren auf der internationalen Ebene die unmittelbare Rechtswirksamkeit. Die Legitimationsgrundlage der Zustimmung der (ihren Wählern gegenüber politisch verantwortlichen) nationalen Regierungen bleibt also unangetastet. Anders als in der EU können hier internationale Umverteilung und solidarisches Handeln nicht durch supranationale Instanzen oder durch Mehrheitsbeschluß oktroyiert werden. Sie sind freilich auch nicht ausgeschlossen. Aber ihre Legitimation kann nur input-orientiert durch Diskurse in den nationalen politischen Systemen begründet werden, deren Bürger ja frei sind, die eigenen Präferenzen solidarisch oder auch altruistisch zu definieren." [Autorenreferat]

Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats

Urheber*in: Scharpf, Fritz W.

Rechte vorbehalten - Freier Zugang

Weitere Titel
Legitimation concepts beyond the nation-state
ISSN
1864-4333
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Status: Veröffentlichungsversion

Erschienen in
MPIfG Working Paper (6)

Thema
Internationale Beziehungen
Politikwissenschaft
Europapolitik
internationale Beziehungen, Entwicklungspolitik
politische Willensbildung, politische Soziologie, politische Kultur
Legitimation
Nationalstaat
EU
Supranationalität
Herrschaft
deskriptive Studie

Ereignis
Geistige Schöpfung
(wer)
Scharpf, Fritz W.
Ereignis
Veröffentlichung
(wer)
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
(wo)
Köln
(wann)
2004

Handle
Rechteinformation
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Bibliothek Köln
Letzte Aktualisierung
21.06.2024, 16:28 MESZ

Datenpartner

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Objekttyp

  • Arbeitspapier

Beteiligte

  • Scharpf, Fritz W.
  • Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Entstanden

  • 2004

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