#rückblende89: Erinnerungen an den Mauerfall – Part II

18.10.2024

Vor fünf Jahren haben wir mit der #rückblende89 an den 30. Jahrestag des Mauerfalls erinnert. Wir haben unsere Erinnerungen an die Zeit damals geteilt und diese Erinnerungen mit Fotografien aus der Datenbank der Deutschen Digitalen Bibliothek verknüpft. 

Die Erinnerungen stammen von den damaligen Kindern und (jungen) Erwachsenen. Erzählt werden sie von den Mitarbeiter*innen der Deutschen Digitalen Bibliothek und ihren Familien oder wurden per Email und auf den Social Media Kanälen zugesendet. Veröffentlicht werden sie anonym. 

Zum 35. Jahrestag möchten wir Ihnen die Erinnerungen erneut zu lesen geben und Sie fragen: Wie erinnern Sie sich an diese Zeit? Welche Geschichte möchten Sie erzählen? 

Hier geht es zu Part I und hier zum Anfang der #rückblende89…

 

Part II: Die (jungen) Erwachsenen erinnern sich

 

Keine Sprache, aufgelöste Heimat und eine Freiheit mit Fragezeichen

„9. November 1989, abends. eine Altbauwohnung in einer westdeutschen Großstadt, darin ein fast leeres WG-Zimmer mit Matratze und Stuhl, Ohne Tisch und Schrank. Es ist dunkel, ich höre Radio und denke an meine Freunde und Familie, weit weg, im Osten. Was tun sie jetzt? Wo sind sie gerade? Geht es ihnen gut? Kein Telefon und keine Sprache ist da, für das, was gerade passiert. Meine Heimat löst sich auf. Jetzt Freiheit. Soll ich glücklich sein? Ein paar Tage später schenkt mir eine Mitschülerin einen Fernseher. Ich sehe, wie die Menschen sich in den Armen liegen und weine vor Glück und Freude und Einsamkeit.“

Existentielle Sorgen, Begrüßungsgeld und ein ahnungsloser Mann

„Alle stehen sie Schlange – nur nicht mehr für ‚Sonderkost‘, das in Dresden auch ‚Joghurt‘ bedeutete, sondern für einen neuen Pass. Voraussetzung für Begrüßungsgeld. Dafür habe ich keine Zeit: Mein täglicher Weg führt mich auf die Frühchenstation in Dresden-Neustadt, um Nähe zu meiner zweiten Tochter aufzubauen. Nur noch zwei Hebammen hat das ganze Klinikum; alle anderen haben sich in den letzten Jahren dem ‚Westen‘ angeboten. Die Betreuungssituation ist kritisch. Wie wird es erst meinem Mann gehen, der von all dem noch kaum was ahnt: Im russischen Ural die Erdgas-Trassen baut und nach 10 Jahren Wartezeit einen Trabi empfangen darf, die nun massenweise herrenlos hier an den Straßen abgestellt dahinrotten?

Es gibt keine Orientierung mehr, der Wocheneinkauf verschlingt immens mehr Geld als gewohnt, werde ich der Rolle als Familienmutter weiterhin gerecht? Ich habe einfach nur Angst, etwas falsch zu machen – ich war 28 alleinerziehend mit zwei Töchtern und alle Besorgungswege änderten sich über Nacht.“

Ein Postbeamter, der Wiederaufbau und keine Antwort

„Onkel Fredi war in Berlin-Köpenick geboren und aufgewachsen. Nach dem Krieg siedelte die ganze Familie nach Bremen um. Dort begann Onkel Fredi bei der Post zu arbeiten. Und Postbeamter war er sein Leben lang aus vollem Herzen. Zum Zeitpunkt des Mauerfalls allerdings Postbeamter im Ruhestand. Seine Freude am 9. November 1989 war umso größer, denn er wollte sich am „Wiederaufbau“ beteiligen. Am Wiederaufbau der DDR-Post, von der er annahm, sie wäre am Boden. Pünktlich am 10. November schrieb er eine Bewerbung an das Postamt Berlin-Köpenick mit dem Angebot als gebürtiger Köpenicker und altgedienter Postbeamter seine Arbeit wiederaufzunehmen. Zu Onkel Fredis großer Enttäuschung erhielt er nie eine Antwort aus Berlin.“

Farbfoto von Menschen, im Vordergrund ein Trabi mit Schild: "Der Luftkurort Tabarz grüßt die Besucher aus der Bundesrepublik"
„Volksfest in Eisenach“, 1989, Foto: Uwe Gerig, Deutsche Fotothek

Aufbesetzung, Punkhäuser und umgedrehte Straßenschilder

„Als ich zur Zeit der Wende das erste Mal nach Berlin bin, dachte ich: Tolle Kulisse. Mich hat die Atmosphäre beeindruckt. Es war so viel kaputt und überall haben die Leute was gemacht. Der Schokoladen, das Tacheles – um keinen Eintritt zu zahlen sind wir hinten über den Zaun rein, und selbst da war schon ne Schlange. In jedem Haus gabs eine illegale Kneipe oder eine Party. In jeder Straße ein besetztes Haus. Ich wollte Häuser aufbesetzen, nicht abbesetzen. Wenn man ein Haus besetzt, muss man den Nachbarn zeigen, dass man was Tolles daraus macht, es belebt. Sie auf seine Seite ziehen. Das hat meistens nicht geklappt. Ich bin von Stadt zu Stadt, von Punkhaus zu Punkhaus und von Demo zu Demo gezogen. Auf dem Alexanderplatz haben wir gegen die Wiedervereinigung demonstriert und Straßenschilder umgedreht, um die Polizei zu verwirren. Ich war in der Anti-Atomkraft-Bewegung. Wir sind 1990 von Münster aus nach Stendal gefahren, um gegen das Kernkraftwerk zu demonstrieren. Die DDR gabs noch, und wir haben Flugblätter über die Grenze geschmuggelt.“

Möchten Sie uns eine Erinnerung an die Zeit des Mauerfalls erzählen? Schreiben Sie uns an kommunikation [at] deutsche-digitale-bibliothek.de (wir arbeiten an einem dritten Part…)

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