Um 1816 erhält Ludwig van Beethoven einen Auftrag aus England: Die Royal Symphonic Society bestellt mehrere Neukompositionen bei ihm. Es dauert einige Jahre, bis sie Ergebnisse von Beethoven erhält, aber 1824 ist es so weit, und er verkauft seine 9. Sinfonie in d-Moll an die Briten. Die Sinfonie, deren letzter Satz zur Europahymne wird. Verkauft an diejenigen, die 200 Jahre später Europa den Rücken zukehren werden.

Dieses Jahr hat Deutschland die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernommen: Zeit, uns die Geschichte der Europahymne einmal genauer anzusehen.

Seid umschlungen, Millionen…

Das Ganze begann eigentlich mit Friedrich Schiller. Einem recht jungen Friedrich Schiller, der sich mit 25 Jahren, kurz nach dem Überraschungserfolg seines Erstlingswerks „Die Räuber“ (1782), bereits in einer Quarter-Life-Krise befand. Fast arbeitslos, verschuldet und unter strenger Beobachtung eines Offiziers, dessen Frau er zu nahekam, stand es nicht gut um den jungen Dichter, als er 1784 einen Brief erhält. Die Absender: Eine Gruppe junger Leipziger, die ihn glühend verehren und wollen, dass er sie besucht. Da es privat bei Friedrich gerade, wie erwähnt, weniger gut aussah, kommt er ihrem Anliegen nach und fährt im April 1785 nach Leipzig. Der Besuch sollte sein Leben verändern: Er fand einen Mäzen, was seine finanziellen Probleme abrupt löste, er fand Ablenkung und vielleicht am Wichtigsten: Er fand Freundschaft.

Aus der Begeisterung über diese Entwicklungen schafft Schiller sein berühmtes Gedicht „An die Freude“. Als Trinklied konzipiert, preist das Gedicht die Freiheit, die Freundschaft, die Brüderlich- bzw. Schwesterlichkeit der ganzen Menschheit:

Seid umschlungen Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
muß ein lieber Vater wohnen.
Friedrich Schiller

Das Gedicht wird nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1786 zu einem großen Erfolg. Auch Beethoven ist fasziniert von dem Gedicht und schreibt 1812 in sein Notizbuch „Freude schöner Götterfunken… Ouvertüre ausarbeiten…“. Da ist Friedrich Schiller allerdings schon sieben Jahre tot. Letztlich dauert es weitere zwölf Jahre, bis die 9. Sinfonie in d-Moll op. 125 in Wien am 7. Mai 1824 uraufgeführt wird. Im vierten Satz der Sinfonie ertönt das Chorfinale mit Schillers Worten:

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Friedrich Schiller

Diesen Kuß der ganzen Welt!

Die Sinfonie ruft bei ihrer Uraufführung frenetischen Beifall hervor – der zu diesem Zeitpunkt völlig ertaubte Beethoven muss von der Sängerin der Altstimme zum Publikum umgedreht werden, um den Jubel entgegennehmen zu können.

Die 9. Sinfonie etabliert sich schnell als Erfolg, was in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten allerdings auch dazu führt, dass sie je nach Gesellschaftszustand instrumentalisiert und umgedeutet wird. Der vermeintlich klare Gedanke „Alle Menschen werden Brüder“ ist nicht für alle klar, geschweige denn nachvollziehbar.

Hier nur einige historische Verwendungen im Schnelldurchlauf:

Richard Wagner nutzt die Sinfonie im Umfeld der 1848er Revolution, als er Hofkapellmeister in Dresden ist und lässt den Chor „Alle Menschen werden Brüder“ am Vorabend des Dresdner Maiaufstandes singen. Eine politische Entscheidung Wagners, soll doch König Friedrich August II. von Sachsen gestürzt und eine sächsische Republik etabliert werden. Am Ende muss Wagner als „Demokrat erster Klasse“ aus Sachsen fliehen, gemeinsam mit seinem Freund und Opernarchitekt Gottfried Semper. Nur 20 Jahre später, nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 ist Wagner weniger Demokrat und mehr Nationalist und erklärt die 9. Sinfonie kurzerhand zu einer rein „deutschen Hymne“.

Im deutschen Kaiserreich gehört die Sinfonie zum Standardrepertoire der Chöre. Während eben dieses Reich 1916 Krieg gegen halb Europa führt, sind auch die völkerverbindenden Elemente des Textes nicht mehr so populär, und im Leipziger Gewandhauschor kommt es zum Streik, angeführt durch national gesinnte Sänger. Zwei Jahre später ist es aber eben dieses Gewandhaus, das die „Ode an die Freude“ als jährliche Silvestertradition begründet.

Die Nationalsozialisten machen dann, während des Zweiten Weltkriegs, die Sinfonie zur „heroischen Titanenmusik“, wie Propagandaminister Joseph Goebbels 1942 auf der Feier zum 53. Geburtstag Adolf Hitlers sagt. Um die Partitur zu schützen, wird sie geteilt und an unterschiedlichen Orten in Deutschland deponiert. Dies führt dazu, dass der berühmte letzte Satz der 9. Sinfonie Beethovens nach dem Krieg das Schicksal Deutschlands teilt: Der eine Teil liegt in Westberlin, der andere in Ostberlin, getrennt durch die innerdeutsche Grenze. Ironie dieses Umstands: Die Partitur wurde an der Stelle geteilt, an der es heißt „Seid umschlungen Millionen“.

Noch aber steht die Berliner Mauer nicht, die Teilung ist noch in ihren Anfängen, und so wird der letzte Satz der 9. Sinfonie bei den Olympischen Winterspielen in Oslo 1952 als gemeinsame Nationalhymne für beide deutschen Staaten gespielt. Die sich im Übrigen das Beethovensche Vermächtnis gegenseitig absprechen. Für die DDR hat die vermeintlich imperialistische Bundesrepublik kein Recht auf Beethovens Gedenken, für die Bundesrepublik kann der von Schiller beschriebene „liebe Vater“ nur über Sternen wohnen, aber nicht unter und erst recht nicht unter einem roten Stern.

Die geteilte Partitur wird erst deutlich später als das Land wiedervereint, und zwar 1997. Heute liegt die Originalpartitur in der Staatsbibliothek zu Berlin und gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe „Gedächtnis der Welt“.

Alle Menschen werden Brüder…

Im Jahr 1972 macht der Europarat Beethovens „Ode an die Freude“ zu seiner Hymne, im Jahr 1985 beschließen die europäischen Staats- und Regierungschefs, sie zur offiziellen Hymne der Europäischen Gemeinschaft zu machen: „Ohne Worte, nur in der universellen Sprache der Musik, bringt sie die europäischen Werte Freiheit, Frieden und Solidarität zum Ausdruck“ – ein parlamentarisches „Lied ohne Worte“ für eine Länderunion mit 24 Amtssprachen und über 60 Regional- und Minderheitensprachen.

Aus dem letzten Satz muss jedoch noch eine Hymne entstehen, die etwas kürzer als 25 Minuten ist und sich längentechnisch für unterschiedliche Staatsakte eignet. Beauftragt wird der „Generalmusikdirektor Europas“ Herbert von Karajan, der drei unterschiedliche Instrumentalversionen für Klavier sowie Blas- und Sinfonieorchester anfertigt.  

Hiermit ist die bewegte Geschichte dieser Hymne allerdings noch lange nicht vorbei: Als Behelfshymne, als politischer Kommentar zum Mauerfall und zum Brexit, als Durchhalteparole während einer weltweiten Pandemie – Beethovens berühmte 16 Takte transportieren die Werte Europas immer weiter:

Im Dezember 1989 lässt Dirigent Leonard Bernstein die 9. Sinfonie am Ost-Berliner Gendarmenmarkt aufführen und ersetzt dabei ein Wort: Aus „Freude schöner Götterfunken“ macht Bernstein „Freiheit schöner Götterfunken“ – ein musikalisches Denkmal für den Mauerfall, welches in zwanzig Länder übertragen wird.

Im Jahr 2010 erklärt der Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien, zu dem Zeitpunkt gibt es noch keine Nationalflagge, auch keine Nationalhymne. Bei einem entsprechenden Festakt wird die Europa-Hymne als provisorische Nationalhymne gespielt. Die kosovarische Philharmonie hatte dafür wochenlang geübt.

Am 22. März 2020, während weitreichender Corona-Maßnahmen, spielen Musiker*innen aus ganz Deutschland Beethovens „Ode an die Freude“ von ihren Balkonen und Gärten aus als Aktion für Solidarität und Lebensfreude – nachzusehen und zu hören auf Twitter unter #musikerfuerdeutschland.

Freude, schöner Götterfunken…

In England wird Beethovens 9. Sinfonie im Mai 1825 uraufgeführt – im Februar 2017 singen schottische Abgeordnete im britischen Unterhaus bei der Stimmauszählung zum Brexit die Europahymne. Sie werden zur Ordnung gerufen: „Cut, cut, order! Order!!!“. Der Unterhaussprecher erklärt, er persönlich habe nichts gegen Gesang, aber das gehe dann doch zu weit.

Januar 2020: Nach 47 Jahren verlassen die Briten die EU. Vor dem Europaparlament in Brüssel empfängt ein Dudelsackspieler die Abgeordneten, die kurz zuvor mit der Zustimmung zum Scheidungsvertrag den Brexit besiegelt hatten. Er spielt für sie die Europahymne.

Neunte Sinfonie, Op. 125 : 4. Satz III [Teil.]; Allegro assai - Allegro assai vivace / L. van Beethoven, Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden
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