Tagsüber auf der Reeperbahn – historische und ausgestorbene Berufe in der Deutschen Digitalen Bibliothek

28.04.2022 Lena Hennewig (wissenschaftliche Mitarbeiterin)

Den Tag der Arbeit feiern wir dieses Jahr mit einem Beitrag zu historischen Berufen. Hier werden Drähte gezogen, Reep geschlagen und Laternen angezündet – und ganz nebenbei erklären wir noch, was das Marionettenspiel mit dem Verbrechen zu tun hat und wie Hamburgs weltbekannte Vergnügungsmeile ihren Namen bekam.

Die Drahtherstellung vor 500 Jahren

Nein, ein Drahtzieher gehört nicht zwingend ins Gefängnis, auch wenn unser heutiger Sprachgebrauch diese Vermutung nahelegt. Denn ursprünglich verdiente er sein tägliches Geld damit, Drähte herzustellen – im Fachjargon: Drähte zu ziehen.

Dass der Begriff heutzutage negativ behaftet ist und für einen Menschen steht, der im Hintergrund ein Verbrechen plant, hängt jedoch nicht mit der Drahtherstellung zusammen; vielmehr gibt es eine Verbindung zu den Marionettenspieler*innen. Diese wurden und werden umgangssprachlich als Strippen- oder auch Drahtzieher*innen bezeichnet. Die Verbindung hin zum versteckten Verbrechen ist offensichtlich, denn auch Marionettenspieler*innen befindet sich unsichtbar im Hintergrund und lassen die Puppen vermeintlich alleine die Arbeit machen.

Von Seilen, Bahnen und Vergnügungsmeilen

Viele Berufe sind im Laufe der Zeit aus unserem Alltag verschwunden. Wie im Falle des Drahtziehers sind jedoch häufig die Berufsbezeichnungen auf die eine oder die andere Weise erhalten geblieben. So auch bei den Reepschläger*innen:

Das Berufsbild ist wohl nicht jedem sofort geläufig, gewiss aber die Straße, die dieser Zunft ihren Namen verdankt: Reepschläger*innen stellten – bis ihre Aufgabe ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend von Seilschlagmaschinen übernommen wurden – handwerklich Seile her.

Hierfür brauchten sie lange, gerade Bahnen, in denen sie ihre Seile spannen und schlagen konnten. Diese sogenannten Reeperbahnen waren bis zu 400 Meter lang und damit so lang wie die längsten hergestellten Seile. Nachdem sie nicht mehr benötigt wurden, wurden sie zu Straßen umgebaut – so auch die berühmteste aller Reeperbahnen: die weltbekannte Vergnügungsmeile in Hamburg.

Frühere Berufsbezeichnungen als heutige Familiennamen

Einige ausgestorbene Berufe finden sich auch als Nachnamen bis heute in der Mitte unserer Gesellschaft wieder: Wagner und Köhler beispielsweise zählen zwar in ihrer handwerklichen Funktion zu den weitestgehend ausgestorbenen Berufen, blieben als gängige Familiennamen aber bis heute erhalten.

Wagner*innen stellten (und stellen teilweise bis heute) Wagen, Räder und landwirtschaftliches Gerät aus Holz her. Besonders im 19. Jahrhundert, mit dem Aufkommen der Eisenbahn, waren ihre Fertigkeiten sehr begehrt. Die Fähigkeiten und Erfahrungen von Wagner*innen waren jedoch noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in der Eisenbahn- und Automobilindustrie gefragt. Als Nachname rangiert „Wagner“ heute auf Platz 7 der Liste der häufigsten Familiennamen in Deutschland.

Auch der Berufsstand der Köhler ist heute weitestgehend ausgestorben, der Nachname jedoch umso geläufiger – immerhin liegt „Köhler“ in der Liste der häufigsten Familiennamen Deutschlands auf Platz 35. Die Köhlerei, also die Herstellung von Holzkohle, gilt als eine der ältesten Handwerkstechniken der Menschheit, auch wenn sie in Deutschland kein offizieller Ausbildungsberuf ist. Ihre erste Hochzeit erlebte die Köhlerei im Mittelalter, als erste Meiler entwickelt wurden.

Ab dem 18. Jahrhundert verlor sie aufgrund der verstärkten Nutzung von Steinkohle jedoch zunehmend an Bedeutung. Auch heute gibt es noch vereinzelt Köhler*innen; etwa 400 bis 600 sollen es sein, die meist im Nebenberuf handwerklich Holzkohle erzeugen. Wo trotz der großen Umweltbeeinträchtigungen noch immer Holzkohle hergestellt wird, wird dies heutzutage fast ausschließlich industriell getan. Dennoch wurde das Köhlerhandwerk im Jahr 2014 aufgrund seiner historischen und kulturellen Bedeutung in das Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes in Deutschland durch die Kultusministerkonferenz aufgenommen.

„In diesem Sinne: ‚Gut Licht –!‘“ Der Beruf des Laternenanzünders

Ein historischer Beruf, der heute eher romantisch-märchenhafte Assoziationen weckt, ist der der Laternenanzünder*in. Die Vorstellung, dass Menschen allabendlich durch die Städte des Landes gezogen sind, um per Hand die Straßenlaternen anzuzünden, ist auf den ersten Blick fast rührend.

Bestärkt wird dieser romantische Eindruck gewiss durch den Laternenanzünder in Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“: Der Mann lebt auf dem fünften Planeten, den der kleine Prinz besucht, zündet dort jeden Abend eine Laterne an und löscht sie jeden Morgen wieder. Aufgrund der immer schnelleren Rotation des kleinen Planeten ist er unaufhörlich damit beschäftigt.

Kurt Tucholsky bringt uns jedoch auf die richtige Spur, wenn er in seiner Glosse „Die Laternenanzünder“ vom „schweren Amt“ spricht, das diese Berufsgruppe ausübt. Denn auch wenn der ironische Unterton Tucholskys kaum zu überlesen ist: Bei Wind und Wetter des Nachts für die richtige Straßenbeleuchtung zu sorgen, muss als körperliche Höchstleistung angesehen werden.

Finanziert wurde die Tätigkeit einerseits durch die Stadtkassen, in manchen Städten hatten sich jedoch auch die Kneipenwirt*innen mit Abgaben pro verkauftem Getränk an den Kosten zu beteiligen. Spätestens seit den 1960er Jahren gilt der Beruf als ausgestorben: Seither sind keine Gas- oder Öllaternen mehr in Benutzung, die eine händische Bedienung benötigen.

Das „Fräulein vom Amt“

Ein Beruf, den wir heutzutage wohl nur noch aus dem Fernsehen kennen, ist jener der Telefonist*innen. Vorwiegend weibliche Beschäftigte verbanden am Schaltkasten die Teilnehmenden eines Telefongesprächs manuell miteinander – denn aufgrund der großen Beliebtheit des Telefons war es bereits früh nicht mehr möglich, individuelle Verbindungen zwischen einzelnen Fernsprechern einzurichten.

Die erste Telefonvermittlung erfolgte am 26. Januar 1878, damals noch mit jungen Männern, die die gewünschten Verbindungen herstellten. Da die von der höheren weiblichen Stimme ausgehenden Schallwellen leichter verständlich seien, wurden jedoch ab Herbst die inzwischen sprichwörtlichen „Fräulein vom Amt“ eingesetzt. Außerdem wurde der weibliche Charakter generell als höflicher und zuvorkommender eingeschätzt und weibliche Beschäftigte erhielten im Allgemeinen eine schlechtere Bezahlung als ihre männlichen Kollegen.

Bis 1966 waren in Deutschland noch regelmäßig Telefonist*innen im Dienst, wenn es um die Durchstellung von Telefonanrufen ging. Erst dann war die Umstellung aller Ortsnetze im Bundesgebiet automatisiert. Das erste automatische Ortsamt hierzulande war bereits 1908 in Betrieb genommen worden.

Ausgestorben, aber nicht vergessen

Auch wenn eine immer ausgefeiltere Technik, immer mehr Maschinen und Roboter die alten, meist handwerklichen Berufe ersetzen, so bleiben sie doch bedeutender Bestandteil der kulturellen Geschichte und Identität von Städten, Regionen und Ländern.

Die St. Annenkirche in Annaberg, die es ohne die durch den Silberbergbau des 15. Jahrhunderts ausgelöste wirtschaftliche Blüte nicht gäbe, widmet den Beschäftigten Teile ihres berühmten Altars: Der Annaberger Bergaltar, um 1521 von der Bergknappschaft gestiftet und von Hans Hesse gestaltet, zeigt detailliert den Bergbau, seine Arbeitsabläufe und Arbeiter*innen: Haspelknechte, Ganghäuer, Pocher und viele weitere ausgestorbene Berufe finden sich hier wieder und werden so für die Zukunft lebendig gehalten.

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