Eine kurze Geschichte der frühen Reisefotografie - von Kaisern, Predigern und Schinkenbrötchen

15.04.2020 Wiebke Hauschildt (Online-Redaktion)

Man könnte sagen, dass die (Reise-)Fotografie an einem Herbsttag des Jahres 1833 am Comer See ihren Anfang nahm. Kein geringerer als der britische Fotopionier William Henry Fox Talbot, gerade auf Hochzeitsreise, versuchte mit einer „Camera lucida“ die ihn umgebende Landschaft zu zeichnen. Es misslang. Talbot kommentierte seinen Zeichenversuch mit dem für die Briten typischen Understatement, in diesem Fall mit: „Trübsinn“.

Mit seinem nächsten Gedankengang aber verlieh er der Fotografie einen gehörigen Schub: Bitter enttäuscht von seinen Zeichenfähigkeiten wollte Talbot eine Methode finden, die das Bild „dauerhaft abdruckt und immerwährend auf Papier verweil[en]“ lässt. Zwei Jahre später sollte es ihm gelingen: Die Entwicklung des Negativ-Positiv-Verfahrens ermöglichte (im Gegensatz zur Daguerrotypie) die Vervielfältigung von Bildern durch Abzüge vom Negativ.

Ab diesem Zeitpunkt wurden die fotografischen Verfahren beständig verbessert. Das Albumin-Verfahren setzte sich durch, die Kollodium-Nassplatte wurde erfunden und die notwendigen Belichtungszeiten durch diese neuen Techniken drastisch verkürzt. Leider war das Equipment alles andere als reisetauglich. Es war sehr schwer, teilweise mussten Hühner mitgeführt werden (als Eiweißlieferanten für die Bildentwicklung) und die verwendeten Chemikalien waren so gefährlich, dass sich manch ein Fotograf unterwegs in die Luft sprengte.

Wie der Alkoholkonsum der Engländer zur Erfindung des Pauschaltourismus führte…

Die Verbreitung des Pauschaltourismus Mitte des 19. Jahrhunderts verhalf der Reisefotografie nicht unmaßgeblich zu ihrer eigenen Erfindung. Und die Religion ihrerseits sollte maßgeblichen Anteil an der Erfindung des Pauschaltourismus haben. Der englische Laienprediger und überzeugte Abstinenzler Thomas Cook (1808-1892) war es nämlich, der im Sinne des Weges zu Gott im Juli 1841 über 500 Menschen den Weg von Leicester nach Loughborough ermöglichte – nüchtern.

Cook war zuvor als Wanderprediger ein Jahr durch England gezogen und hatte festgestellt, dass der Glaube nur bedingt als Opiat für das Volk nutzte. Der Alkohol hingegen fand deutlich stärkeren Zuspruch. Ein Witz der damaligen Zeit, in der die arbeitende Bevölkerung höchstens Sonntag frei hatte, um Ausflüge zu unternehmen, bezog sich genau darauf: Wie kommt man billig aus Manchester raus? Durch einen Rausch. Das wollte Cook ändern, indem er Reisen mit der Bahn anbot, die ebenso günstig waren wie ein Besuch im Pub – inklusive Tee, Schinkenbrötchen und Musik.

Diese erste von Thomas Cook organisierte Reise war nicht einmal zwanzig Kilometer weit und ging dennoch als Geburtsstunde der Pauschalreise in die Geschichtsbücher ein. Thomas Cook baute nachfolgend sein Angebot aus, bot Reisen in die englischen Seebäder an, nach Schottland, nach Paris und Rom. Er erfand Hotelgutscheine, so dass sich seine Gäste vor Ort um nichts kümmern mussten. Für die Weltausstellung 1851 transportierte Cook 165.000 Briten nach London und trug dadurch erheblich zu ihrem Erfolg bei. Sogar Kaiser Wilhelm II. brachte die gegründete Reiseagentur „Thomas Cook & Son“ 1898 zusammen mit 800 Maultieren ins Heilige Land (verantwortlich war nun allerdings der Sohn, der Vater war zuvor gestorben). Für damalige – wie wahrscheinlich auch für heutige – Verhältnisse eine Meisterleistung.

Doch was hat diese neue Art des Reisens mit der Reisefotografie zu tun? Zwar führten die Touristen aus Kosten- und Gewichtsgründen keine eigenen Geräte mit, doch etablierten sich professionelle Fotoateliers, die Fotografien der besuchten Sehenswürdigkeiten als Andenken verkauften. Thomas Cook plante diese Ateliers oder Souvenirläden ab den 1850er Jahren als feste Zwischenstopps in die von seiner Agentur angebotenen Touren ein. Die neue Art des Reisens und das neue Medium der Fotografie waren so seit ihren Anfängen fest miteinander verwoben.

… und wie die Reisen Kaiser Wilhelms II. zur Erfindung der Kreuzfahrt führten

Kaiser Wilhelm II. (1859-1941), auch als „Reisekaiser“ bekannt und verspottet, reiste ab 1889 viele Male auf seiner Yacht „Hohenzollern“ nach Norwegen. Immer mit dabei: Fotografen, die die Urlaube der kaiserlichen Familie dokumentierten und im Anschluss in der Heimat veröffentlichten. Diese Reiseeindrücke weckten touristische Begehrlichkeiten beim besser betuchten Bürgertum und Adel: Auch sie wollten nun nach Nordland und Spitzbergen, um auf den Spuren des Kaisers zu wandeln.

Die Hamburger Reederei Hapag (Hamburg-Amerikanische-Packetfahrt-Actien-Gesellschaft), 1847 gegründet, witterte unter ihrem Leiter Albert Ballin das große Geschäft und erfand kurzerhand die Kreuzfahrtreise. Die gestiegene Reisenachfrage durch die privilegiertere Bevölkerung war dabei allerdings nicht der einzige Grund. In den Wintermonaten waren die Schiffe im normalen Linienverkehr nicht ausgelastet, was zu Gewinnverlusten in einer ohnehin umkämpften Branche führte. So entschloss sich Ballin in dieser Zeit eine Vergnügungsfahrt, heute als Kreuzfahrt bekannt, anzubieten.

Die erste Kreuzfahrt der Hapag fand von Januar bis März 1891 auf der „Augusta Victoria“ ab Cuxhaven ins Mittelmeer mit 241 Gästen an Bord statt. Sogar Kaiser Wilhelm II. besuchte das Schiff am Tag seiner Abfahrt. Gibraltar und Genua, Alexandria, Jaffa, Beirut, Konstantinopel und viele weitere Orte wurden angelaufen. Dort, wo sich die „Augusta Victoria“ länger aufhielt, wurden Ausflugsprogramme nach Kairo oder Jerusalem und Damaskus angeboten. Drei Jahre später folgte dann die erste „Nordlandfahrt“ des Schiffes von Hamburg nach Spitzbergen. Auch hier dabei: die Fotografen.

Bei der Rückkehr in die jeweiligen Heimathäfen wurden unter Verwendung der Fotografien als Erinnerung für die mitgereisten Touristen großformatige Bildbände angefertigt, zum Beispiel „Die Nordlandfahrt der Auguste-Victoria“. Diese Reisealben erlebten ab 1890 ihre Blütezeit: „Auf den Spuren der Schiffsreisen hat um die Jahrhundertwende die Medialisierung der Welt eingesetzt“, sagt Gisela Parak vom Deutschen Schifffahrtsmuseum in Bremen (DSM) hierzu.

Eine Technik und ihre Auswirkungen

Neben dem Aufkommen des Massentourismus war die rasante Entwicklung der technischen Komponenten der Fotografie maßgeblich für die nun einsetzende Bilderflut: von der 1839 erfundenen Daguerrotypie, bei der nur Unikate entstanden, zu Talbots Positiv-Negativ-Verfahren, bei dem nun Vervielfältigungen vorgenommen werden konnten, 1851 abgelöst vom Nass-Kollodium-Verfahren, welches die Belichtungszeit stark verkürzte, bis zum Durchbruch 1878 mit der Erfindung der Gelatine-Trockenplatte, durch deren Einsatz auch Schnappschüsse möglich waren. War das Equipment um 1870 noch so schwer, dass bei Reisen in die Wüste mehrere Kamele zum Transport nötig waren (bzw. bei anderen Reisezielen entsprechend andere Optionen), ermöglichte die „Handkamera“ (wie die Kodak Nr. 1) ab etwa 1890 nicht mehr nur dem technisch versierten Einzelnen, sondern den Vielen die einfache fotografische Dokumentation ihrer Reisen.

Die Fotografien, die in dieser Zeit entstanden, wurden als unmittelbare Abbildungen der Realität wahrgenommen. Sie galten als wissenschaftliche Bestandsaufnahmen, als objektive Zeitdokumente. Die Individualität und Subjektivität des fotografischen Blickes, die das Abgebildete verändert, reduziert und verfremdet, war den anfänglichen Rezipienten zunächst nicht bewusst.

Die frühen Fotografien entwickelten allerdings schon zu ihrer Zeit eine Wirkmacht, die den politischen und gesellschaftlichen Einfluss, den das Medium Fotografie in Zukunft haben würde, erahnen ließ. So bereiste der Fotograf William Henry Jackson 1871 die Yellowstone-Region im Auftrag des US-amerikanischen Kongresses. Die Bilder, die er zurückbrachte, versetzten die Abgeordneten in Washington in derartige Begeisterung, dass sie 1872 beschlossen, den ersten Nationalpark der Welt zu gründen, heute bekannt als Yellowstone National Park.

Diesem Positivbeispiel für den Einfluss der Fotografie auf das politische Geschehen stehen jedoch eine Vielzahl von Negativbeispielen gegenüber. Mit der Möglichkeit, auch weit von Europa entfernte Regionen zu bereisen und zu fotografieren, kamen Bilder zurück, die unter anderem zur Rechtfertigung und Legitimierung des Kolonialismus dienten.

Der italienische Schriftsteller Italo Calvino schrieb 1957: „Vielleicht ist die wahre, totale Photographie […] ein Haufen von Bruchstücken privater Bilder, vor dem zerknitterten Hintergrund der Zerstörungen und der Krönungen.“

Die meisten Reisefotograf*innen heute müssen sich um schweres Equipment, Huhnmitführungen oder explodierende Chemikalien keine Sorgen mehr machen. Ihre Kamera wird in der Hosentasche transportiert, die Fotografien benötigen kein Eiweiß für die Entwicklung, ihre Bilder werden bei Belieben sofort digital veröffentlicht. Das Medium ist demokratischer geworden; die Welt wird durch die Blicke der Vielen gesehen.

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