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Serbiens selbst auferlegte Isolierung: Thesen über den serbischen Nationalismus

'Dokica Jovanovic schildert in seinem Essay die Zerrissenheit seines Landes zwischen Modernisierung und Traditionalismus, Westen und Osten sowie die durchaus populäre Ablehnung, sich auf den dringend notwendigen Transitionsprozess einzulassen. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus entstand auch bei den Satellitenstaaten ein ideologisches Vakuum, das mit traditionalistischen Beständen aus der eigenen Geschichte aufgefüllt wurde. Liberale Prinzipien blieben diesem Denken fremd. Zu den Folgen der antiliberalen, traditionalistischen Haltung gehören in Ost- und Südosteuropa heute die Wiederaufnahme der Ausgrenzung von Minderheiten wie Roma und Juden. 'In höherem Maße als in Westeuropa suchen extrem rechte politische Gruppen aggressiv nach einem Platz und versuchen, ihn einzunehmen: protofaschistische, klerikal-nationalistische und (...) pro-bolschewistische und rechtsorientierte Assoziationen zusammen'. Nicht individuelle, sondern kollektive Selbstidentifizierung bestimmte in der Neuzeit das gesellschaftliche Handeln. Anders als die zivilen Kulturen des Westens war die balkanische Kultur eine patriarchalisch-orientalische. Dieser fehlte der Fortschrittsgedanke ebenso wie die urbane, Freiheitsimpulse setzende Lebensweise. So fehlte das kulturelle und ökonomische Potential zur Ausbildung einer nicht nur auf ethnischen Kriterien beruhenden politischen Gemeinschaft. Das allein einigende Band blieb der serbische Ethno-Nationalismus mit seiner Abgrenzung gegenüber der als bedrohlich empfundenen Außenwelt einerseits und dem Verlangen nach Integration aller von Serben bewohnten Territorien andererseits. Daraus erwächst die ständige Forderung nach einer vergangenheitsfixierten 'Rückkehr zu den Wurzeln', nach 'Tradition'. In dem pseudotraditionalistischen, depersonalisierten Kollektiv, so der Verfasser, gebe es keine Solidarität und ein hohes Maß an Unempfindlichkeit gegenüber dem Leid anderer. Die Nationalismen im ehemaligen Jugoslawien schaukelten sich gegenseitig auf, führten zum Abbruch der bis dahin bestehenden Beziehungen, zu Isolation und Selbstisolation. Vor diesem Hintergrund entfernte sich das von Slobodan Milosevic geführte Serbien, das die Verteidigung des angeblich 'bedrohten Serbentums' zu seiner obersten Maxime erklärt hatte, immer weiter von dem sich vereinigenden, zivilen Europa. Serbische Intellektuelle, die der so genannten 'nationalen Intelligenz' angehörten, hatten schon seit langem das Identitätsbild Serbiens, auf das sich Milosevic stützen konnte, konstruiert. Dazu gehört auch der Führungsanspruch Serbiens über alle Balkanslawen. Während in den Ländern Ostmitteleuropas Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler oft den Kern der Opposition bildeten, unterstützten der Schriftstellerverband Serbiens und die Serbische Akademie für Wissenschaft und Kunst in hoch emotionalisierten, romantisierenden Manifesten faktisch die Politik Milosevics. Das größte Problem der Gegenwart sieht der Verfasser darin, dass es keine Anzeichen einer 'Dechauvinisierung' Serbiens, keine Bereitschaft zur Anerkennung der Verbrechen gebe, sondern nur Schweigen. Jovanovic plädiert für einen dem Entnazifizierungsprozess nachempfundenen Dechauvinisierungsprozess, der die Verantwortlichkeiten offen legt.' (Textauszug)

Serbiens selbst auferlegte Isolierung: Thesen über den serbischen Nationalismus

Urheber*in: Jovanovic, Dokica

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Weitere Titel
Serbia's self-imposed isolation: theses on Serbian nationalism
ISSN
1612-9008
Umfang
Seite(n): 347-374
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Status: Veröffentlichungsversion; begutachtet

Erschienen in
Totalitarismus und Demokratie, 4(2)

Thema
Staatsformen und Regierungssysteme
Politikwissenschaft
Geschichte
Staat, staatliche Organisationsformen
allgemeine Geschichte
politische Willensbildung, politische Soziologie, politische Kultur
Faschismus
Klerikalismus
Serbien
Selbstbild
Fremdgruppe
Entwicklung
Europa
Kriegsverbrechen
Isolationismus
Schriftsteller
historische Analyse
traditionelle Gesellschaft
politische Kultur
Südosteuropa
Identität
Minderheit
politische Ideologie
Nationalismus
Osteuropa
historisch

Ereignis
Geistige Schöpfung
(wer)
Jovanovic, Dokica
Ereignis
Veröffentlichung
(wo)
Deutschland
(wann)
2007

URN
urn:nbn:de:0168-ssoar-311358
Rechteinformation
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Bibliothek Köln
Letzte Aktualisierung
21.06.2024, 16:26 MESZ

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Objekttyp

  • Zeitschriftenartikel

Beteiligte

  • Jovanovic, Dokica

Entstanden

  • 2007

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