Text | Theaterzettel

Der Gast

Der Gast

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Location
Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar#Generalintendanz des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar
Extent
110
Notes
Die Schaubühne (später: Die Weltbühne), 7. Jg. (1911), Bd. 1, Nr. 5 (v. 02.02.1911), S. 122ff., Kommentar v. Ernst Lissauer: „Das Hoftheater in Weimar hat Wilhelm von Scholzens Schauspiel ‚Der Gast‘ […] zum allerersten Mal gegeben. Dieser, an sich erfreuliche, Versuch erscheint dennoch nicht unbedenklich, weil das breitere Publikum, das Scholz eben erst zu erobern beginnt, von ihm zu wenig weiß, um diese Aufführung als das höchst interessante Experiment aufzufassen, das sie für den Kenner der Scholzschen Dichtung und ihrer Entwicklung bedeutet. ‚Der Gast‘ ist vor einem Jahrzehnt entstanden, also zu einer Zeit, da Scholz die wesentlichen Bedingungen des Dramas noch nicht erkannt hatte, und steht durchaus im Gegensatz zu seinem heutigen, ganz auf das Struktive und Tektonische gerichteten Wollen. ‚Ein deutsches Schauspiel‘ ist das Werk genannt; es trüge besser den gleichen Untertitel wie Scholzens epische Dichtung ‚Hohenklingen‘: es ist ‚eine Zeit in Bildern und Gestalten‘ […]. Die Formung einer Zeit aber gehört zu den Aufgaben des Romans oder, auf höherer Stufe, des Epos; im Drama darf sie nur der, flutend-farbige und dennoch feste, Hintergrund sein, von dem sich die Sondergeschicke abheben. Solch Sonderschicksal versucht Scholz zu bilden, aber das historische und symbolische Reben- und Beiwerk überwuchert und erstickt es, und auch die vortrefflichen Striche, Einschübe und Umstellungen, die der Dichter jetzt auf Grund gereifter Einsicht vorgenommen hat, vermögen es nicht klarzulegen, weil es selbst seinem Wesen nach episch ist und sich auf der Szene ins Ungreifbare verflüchtigt: die Verflechtung eines großen Einzelnen in das Schicksal seiner Epoche. Die Pest bricht ein, und dem Meister Gerhard Grabherr stirbt das Geschlecht aus, dessen Kraft ihm seinen gewaltigen Dom vollenden sollte; es fehlt ihm, im engsten Sinn an Händen; es fehlt an Mitteln, an Vitalität und Energie, um solch Werk auszuführen. […] Da der Dombaumeister in der weimarer Aufführung gar jeder Größe entbehrte und als ein ‚Künstler‘ gegeben wurde, dem nicht straßburger Turmgotik, sondern die Sichelsche Bettlerin vom Pont des arts zuzutrauen war, so versank sein Geschick vollends in dem der Zeit, und das Schauspiel offenbarte sich deutlichst als die Folge von szenischer Balladik und Lyrik, die es im Innersten ist. ‚Hohenklingen‘, das zwei Jahre vor dem ‚Gast‘, 1898, erschien, ist ihm durch die reinere Form der historisch-lyrischen Gebilde überlegen, die hier, wie Goldadern im Gestein, im Umbau des dramatischen Komplexes stecken; in der Fülle der sprachlichen Kraft und in der Erfindung zeitsymbolischer Vorgänge ist das jüngere Werk stärker als das frühere, wie es überhaupt, rein dichterisch genommen, zu den reichsten Schöpfungen der modernen Literatur gehört. Seine Sprache ist kaum jemals dramatisch, zündender Schlag von Stahl auf Stein: sie ist vielfältige Fülle steinernen Maßwerks und Laubgesimses, von Sandsteinrosen und Kreuzblumen, von spukhaften Wasserspeiern: fabulierender Reichtum gotischer Ornamentik. Die Liebe zum Stein und der Sinn für Maße wird also wundervoll lyrisch umschrieben, äußert sich aber noch nicht rein sachlich, in einem abgewogenen und struktiven Bauen selbst. Die Regie hätte auf Grund dieser Tatsachen aus dem Wesen des Werkes die Konsequenz ziehen und den Ton vornehmlich auf die Zeitstimmung legen sollen; denn dann hätten seine dichterischen Eigenschaften sich frei ausleben können, während sie immerhin beeinträchtigt wurden, wenn sie sich vergeblich mühten, dramatisch zu werden. Wo diese Stimmung nicht geschaffen ward, verloren die Worte jene symbolische Steinfarbe, jenes erschaute Licht gotischer Mystik, die sie beim Lesen haben, und erschienen tönern statt steinern, klingend, statt visionär; am tiefsten wirkte darum der dramatisch schwächste, der dritte Akt, der lyrisch der reichste ist und am einheitlichsten gefaßt wurde. Dies war vor allem Karl Weiser zu danken, dem stärksten Darsteller des Abends, dem zugleich die dichterisch stärkste Figur zugefallen war: der alte Ratsschreiber, der vor Jahrzehnten irrtümlich als tot gebucht wurde, der Geschlechter überlebt hat und überleben wird, und nun die Chronik dieser Pest und dieses Dombaus aufzeichnet, gleichsam als ein Stellvertreter des Todes auf Erden. Aber auch sonst klingt unvergeßbar diese Stimmung nach: stille Mittagzeit im verödeten Rathaussaal, in die hinein man die Leere der ausgestorbenen Häuser, Gärten und Gassen drunten rings leibhaft schweigen hörte, bis dann leise, von ferner Straße her, mit dem Kinderreigen ein erster Klang der nachkommenden Geschlechter heraufscholl.“

Creator
Contributor
Gelling, Hans
Published
1911-01-14

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01.09.2025, 12:12 PM CEST

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  • Theaterzettel ; Text

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Time of origin

  • 1911-01-14

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