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Körpervermittelte Rechtlosigkeit: die KZ-Haft als Idealtypus

"Das Konzentrationslager NS-deutscher Prägung bietet ein Exempel für den Ablauf sozialer Exklusion. Die Insassen erleiden einen totalen Rechtsverlust. Sämtliche Bürgerrechte werden entzogen, und zwar mit Maßnahmen, die primär zum Körper der Delinquenten greifen. Regulative, symbolische und kommunikative Mechanismen werden erst nachrangig eingesetzt. Es sind die physischen Umstände von Einweisung, Aufenthalt und Haftdauer, welche Situation und schließliches Schicksal des Subjekts bestimmen: Ernährung, Wohnen, Bekleidung, Gesundheitsversorgung, Arbeit, Übergriffe u.a. Auch die 'Körpernähe' des anfänglichen Haftgrundes beeinflusst die Überlebenschance. Soziale Exklusion vollzieht sich hier über eine buchstäblich körperliche Aussonderung aus der umgebenden Gesellschaft. Zugleich zeigt sich eines der gesellschaftlichen Modelle für das Verhältnis von Körper und Recht. Körperprozeduren markieren die Stufen der Häftlingskarriere. Die Insassen durchschreiten die Stadien des Rechtsverlusts, indem ihr Körper sich transformiert. Die Belastungen können durch die Unterstützung von Mithäftlingen aufgefangen werden. Als ein Surrogat für Regelsysteme im Lager dient die gruppeninterne Solidarität - wenn vorhanden. Die lagerinternen Regeln entstammen nicht dem Recht der Außengesellschaft. Sie werden von der SS bestimmt und körperunmittelbar kommuniziert. Auch wenn sich so etwas wie eine 'Häftlingsgesellschaft' bestünde, sind die Routinen und Regeln des Lagerlebens kein 'Recht'. Die körpervermittelte Rechtlosigkeit wird nicht unterschiedslos in den totalitären Politikregimes angetroffen. Zu vergleichen ist vielmehr eine Körperdiktatur wie in NS-Deutschland mit einer Erziehungsdiktatur wie in der DDR. Auch Demokratien kennen den körpervermittelten Rechtsentzug. Welche 'Natur' mag es sein, auf die Gesellschaft sich hier reduziert? An den Lagern auf 'reichsdeutschem' Boden (wie Buchenwald, Dachau, Ravensbrück - nicht aber an Vernichtungsmaschinen wie Auschwitz-Birkenau) lässt sich eine Ausschließungsstrategie in beinahe idealtypischer Reinheit beobachten. Die deutsche Soziologie hat sich dafür nur selten interessiert, die internationale umso mehr." (Autorenreferat)

Körpervermittelte Rechtlosigkeit: die KZ-Haft als Idealtypus

Urheber*in: Lautmann, Rüdiger

Free access - no reuse

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Alternative title
Physically mediated lawlessness: imprisonment in a concentration camp as an ideal type
ISBN
978-3-593-38440-5
Extent
Seite(n): 1122-1137
Language
Deutsch
Notes
Status: Veröffentlichungsversion; begutachtet
33. Kongress "Die Natur der Gesellschaft". Kassel, 2006

Bibliographic citation
Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2

Subject
Geschichte
Soziologie, Anthropologie
allgemeine Geschichte
Kriminalsoziologie, Rechtssoziologie, Kriminologie
Gesellschaft
Solidarität
Konzentrationslager
Diktatur
Recht
Körper
Bürgerrecht
Häftling
Gruppe
Regime
DDR
Drittes Reich
Exklusion
Vergleich
Dokumentation
historisch

Event
Geistige Schöpfung
(who)
Lautmann, Rüdiger
Event
Herstellung
(who)
Rehberg, Karl-Siegbert
Event
Veröffentlichung
(who)
Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS)
Campus Verl.
(where)
Deutschland, Frankfurt am Main
(when)
2008

URN
urn:nbn:de:0168-ssoar-152878
Rights
GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Bibliothek Köln
Last update
21.06.2024, 4:26 PM CEST

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Object type

  • Sammelwerksbeitrag
  • Konferenzbeitrag

Associated

  • Lautmann, Rüdiger
  • Rehberg, Karl-Siegbert
  • Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS)
  • Campus Verl.

Time of origin

  • 2008

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