„Ab Mitte September überschlugen sich die politischen und persönlichen Ereignisse, bei aus heutiger Sicht surrealer Gleichzeitigkeit von Alltagsnormalitäten pubertierender Kinder, die wir alle noch waren. C. trennte sich von P., R. kam mit M. zusammen, und ich fand A. gut, der aber eher K. Mal krank und verletzlich vor Liebeskummer und Weltschmerz, dann wieder im Gefühlstaumel der Unbesiegbarkeit. Keine Chance das alles in die richtige Timeline zu bringen: In der Schule wurden Freiwillige für die Fahrt nach Berlin zum ‚40 Jahre DDR Festakt‘ gesucht und gefunden. Sich da zu melden war zu diesem Zeitpunkt in unserer Klasse schon fast wieder ein Akt der Revolte. Ich fuhr nicht nach Berlin, sondern gab irgendwann um diesen Zeitpunkt meinen FDJ-Ausweis ab, ging aber am 3./4. Oktober auch nicht zum Hauptbahnhof, um den durchfahrenden Zügen aus Prag nach Westdeutschland zuzujubeln. Freunde aus meiner Klasse waren aber da, oder ihre Eltern? Die Situation eskalierte bekanntermaßen, es gab Verhaftungen und viele verletzte Demonstranten und Polizisten. Was damals aber natürlich nicht aus den Nachrichten zu erfahren war. Aber durch die Berichte und Ängste von Polizistentochter und Theaterkindern in meiner Klasse am nächsten Morgen, deren Eltern sich in der Nacht gegenüberstanden, waren wir dabei, ohne dagewesen zu sein. Partei hat damals, glaube ich, keiner ergriffen. Diese legitimen Ängste konnte man auch nicht diskutieren. Sowohl die Polizistentochter als auch die Theaterkinder waren meine Freunde.
Trotzdem dann am 7. Oktober meine erste Demonstration, mit Kerzen nach einer Andacht in der Kreuzkirche startend. Streit mit meinen Eltern deswegen, speziell mit meinem Vater, der meinte, ich würde mich damit gegen ihn stellen. Am 8. Oktober wieder Demonstration. Schon da erinnere ich die Stimmung schriller und aggressiver. Die ‚Gruppe der 20‘ entstand. Die ‚Wir sind das Volk‘-Demonstrationen wurden zur Hauptbeschäftigung. In der Schule begann eine neue Zeit, das Vokabular änderte sich ‚Machtmissbrauch‘, ‚Dialog‘ und ‚Mündigkeit‘ wurden wichtige Wörter. Die Zeit der Resolutionen begann. Ich lernte spannende Menschen bei den Demos kennen, neue Freundschaften entstanden und machten mich vier Monate später zum Gründungsmitglied der Jungen Sozialdemokraten der DDR, bis ich dann, nochmal vier Monate später, nach einem Bundeskongress mit den West-Jusos desillusioniert wieder austrat. Dazwischen lag noch eine Klassenfahrt auf der wir gemeinsam die Montagsdemos in Leipzig verfolgten, damals dann schon im Fernsehen.
Die eigentliche Maueröffnung am 9. November erlebte ich unspektakulär, fast wie sie eigentlich auch war. Die berühmte Pressekonferenz mit Schabowski und der Handzettelreichung hatte ich nicht mitbekommen. Ich hörte von der Maueröffnung am Abend des 9. November in meinem Plattenbau-Kinderzimmer sitzend (wahrscheinlich machte ich Hausaufgaben) in den Radionachrichten und erinnere diese Nachricht als genauso trocken vorgetragen, wie alle Nachrichten, und die in der DDR im Besonderen.
Richtig wahrgenommen und für voll genommen hatte ich sie erst nach drei oder viermaliger Wiederholung. Ich fuhr dann ziemlich zeitgleich nach Berlin, ob am ersten oder zweiten Wochenende danach (der 9. November war ein Donnerstag und ich hatte ja trotzdem ganz normal Schule) und mit wem, erinnere ich nicht mehr. Aber ich erinnere mein Entsetzen über meine Mitreisenden im Zug nach Berlin. Leute schubsten, drängelten und schimpften, weil sie unbedingt in den Zug in den Westen wollten. Ein Baby, das durch ein enges Zugfenster gequetscht wird, ist ein Bild, das haften blieb. Irgendwie bin ich aber trotzdem nach Berlin gekommen, wenn auch unter Schock. Dort dann wie alle Begrüßungsgeld abgeholt, zum Ku‘damm gefahren, völlig überfordert in die Schaufenster geglotzt, nach langem Schlangestehen an einem Süßigkeitenstand aus lauter Überforderung mindestens 30 DM in Gummibärchen investiert (in Tüten füllen und nach Gewicht bezahlen) und dann völlig entnervt wieder nach Hause gefahren. Bis zu einem Besuch in Hamburg mit ‚Westanschluss‘ bei den Jusos dort, Monate später, wurde bzw. hatte ich kein Bedürfnis, diesen ersten Eindruck vom Westen zu relativieren.