#rückblende89 – ein (vorläufiger?) Abschluss und großer Dank für die Geschichten

29.01.2020 Johannes Lindenlaub (Social Media, Deutsche Digitale Bibliothek)

Wende, friedliche Revolution, Mauerfall, wie auch immer man es nennt, so ganz gerecht kann der große Begriff den kleinen, persönlichen Erlebnissen der Menschen nicht werden, die die Wendezeit erlebt haben. Ihre Erinnerungen reichen von zum Schmunzeln anregenden Anekdoten über bloßes Staunen bis hin zu großer Furcht. Wir haben vom pensionierten Postbeamten gehört, der voller Enthusiasmus dabei helfen wollte, in seiner alten Heimat Köpenick die DDR-Post wiederaufzubauen. Von der Angst der alleinerziehenden Mutter, dass das Geld für den Lebensmitteleinkauf nicht mehr reicht. Von Hummer und Weinbergschnecken zu Silvester, auf die die Neugierde größer war als der Appetit, und von Unsicherheit, Erleichterung, Freude und Einsamkeit der Geflüchteten. Es ist eine Minderheit in Deutschland, die die Erfahrung gemacht hat, den eigenen Staat und – sei er noch so totalitär – damit auch ein Stück Heimat zu verlieren. 

Wir sind dankbar für die Geschichten, die uns erzählt wurden, und von denen wir eine Handvoll auf unseren Social-Media-Kanälen veröffentlicht haben, begleitet von ausgewählten Fotos aus unserem Portal, die wir unseren Datenpartnern verdanken. Wer nachschauen und -lesen möchte, findet sie in unserem Facebook-Album.

Für den Abschluss unserer Aktion haben wir uns eine längere Zusendung aufgehoben, die wir hier ungekürzt und unbearbeitet wiedergeben. In einem ganz eigenen Erzählrhythmus werden die außergewöhnlichen Ereignisse in einem im Verschwinden begriffenen Staat mit dem vermeintlich profanen Voranschreiten des Alltags verwoben. Das kurze Revolutionsjahr 1989 aus ganz persönlicher Perspektive – und doch bemerkenswert neutral.

„Ab Mitte September überschlugen sich die politischen und persönlichen Ereignisse, bei aus heutiger Sicht surrealer Gleichzeitigkeit von Alltagsnormalitäten pubertierender Kinder, die wir alle noch waren. C. trennte sich von P., R. kam mit M. zusammen, und ich fand A. gut, der aber eher K. Mal krank und verletzlich vor Liebeskummer und Weltschmerz, dann wieder im Gefühlstaumel der Unbesiegbarkeit. Keine Chance das alles in die richtige Timeline zu bringen: In der Schule wurden Freiwillige für die Fahrt nach Berlin zum ‚40 Jahre DDR Festakt‘ gesucht und gefunden. Sich da zu melden war zu diesem Zeitpunkt in unserer Klasse schon fast wieder ein Akt der Revolte. Ich fuhr nicht nach Berlin, sondern gab irgendwann um diesen Zeitpunkt meinen FDJ-Ausweis ab, ging aber am 3./4. Oktober auch nicht zum Hauptbahnhof, um den durchfahrenden Zügen aus Prag nach Westdeutschland zuzujubeln. Freunde aus meiner Klasse waren aber da, oder ihre Eltern? Die Situation eskalierte bekanntermaßen, es gab Verhaftungen und viele verletzte Demonstranten und Polizisten. Was damals aber natürlich nicht aus den Nachrichten zu erfahren war. Aber durch die Berichte und Ängste von Polizistentochter und Theaterkindern in meiner Klasse am nächsten Morgen, deren Eltern sich in der Nacht gegenüberstanden, waren wir dabei, ohne dagewesen zu sein. Partei hat damals, glaube ich, keiner ergriffen. Diese legitimen Ängste konnte man auch nicht diskutieren. Sowohl die Polizistentochter als auch die Theaterkinder waren meine Freunde. 

Trotzdem dann am 7. Oktober meine erste Demonstration, mit Kerzen nach einer Andacht in der Kreuzkirche startend. Streit mit meinen Eltern deswegen, speziell mit meinem Vater, der meinte, ich würde mich damit gegen ihn stellen. Am 8. Oktober wieder Demonstration. Schon da erinnere ich die Stimmung schriller und aggressiver. Die ‚Gruppe der 20‘ entstand. Die ‚Wir sind das Volk‘-Demonstrationen wurden zur Hauptbeschäftigung. In der Schule begann eine neue Zeit, das Vokabular änderte sich ‚Machtmissbrauch‘, ‚Dialog‘ und ‚Mündigkeit‘ wurden wichtige Wörter. Die Zeit der Resolutionen begann. Ich lernte spannende Menschen bei den Demos kennen, neue Freundschaften entstanden und machten mich vier Monate später zum Gründungsmitglied der Jungen Sozialdemokraten der DDR, bis ich dann, nochmal vier Monate später, nach einem Bundeskongress mit den West-Jusos desillusioniert wieder austrat. Dazwischen lag noch eine Klassenfahrt auf der wir gemeinsam die Montagsdemos in Leipzig verfolgten, damals dann schon im Fernsehen. 

Die eigentliche Maueröffnung am 9. November erlebte ich unspektakulär, fast wie sie eigentlich auch war. Die berühmte Pressekonferenz mit Schabowski und der Handzettelreichung hatte ich nicht mitbekommen. Ich hörte von der Maueröffnung am Abend des 9. November in meinem Plattenbau-Kinderzimmer sitzend (wahrscheinlich machte ich Hausaufgaben) in den Radionachrichten und erinnere diese Nachricht als genauso trocken vorgetragen, wie alle Nachrichten, und die in der DDR im Besonderen. 

Richtig wahrgenommen und für voll genommen hatte ich sie erst nach drei oder viermaliger Wiederholung. Ich fuhr dann ziemlich zeitgleich nach Berlin, ob am ersten oder zweiten Wochenende danach (der 9. November war ein Donnerstag und ich hatte ja trotzdem ganz normal Schule) und mit wem, erinnere ich nicht mehr. Aber ich erinnere mein Entsetzen über meine Mitreisenden im Zug nach Berlin. Leute schubsten, drängelten und schimpften, weil sie unbedingt in den Zug in den Westen wollten. Ein Baby, das durch ein enges Zugfenster gequetscht wird, ist ein Bild, das haften blieb. Irgendwie bin ich aber trotzdem nach Berlin gekommen, wenn auch unter Schock. Dort dann wie alle Begrüßungsgeld abgeholt, zum Ku‘damm gefahren, völlig überfordert in die Schaufenster geglotzt, nach langem Schlangestehen an einem Süßigkeitenstand aus lauter Überforderung mindestens 30 DM in Gummibärchen investiert (in Tüten füllen und nach Gewicht bezahlen) und dann völlig entnervt wieder nach Hause gefahren. Bis zu einem Besuch in Hamburg mit ‚Westanschluss‘ bei den Jusos dort, Monate später, wurde bzw. hatte ich kein Bedürfnis, diesen ersten Eindruck vom Westen zu relativieren.

Es folgte die Zeit der runden Tische und die kurze Phase der Montagsdemos von nur wenigen Woche, in denen sich der Ruf ‚Wir sind das Volk‘ zu ‚Wir sind EIN Volk‘ wandelte bzw. gewandelt wurde und damit auch die Stimmung und Energie bei den Demonstrationen in Dresden und im ganzen Land. Ein erster Akt der Übernahme durch die BRD und von dort gezielt beeinflusst.

Meine Wende endete am 19. Dezember 89 mit Kohls Rede vor der Frauenkirche. Wir waren vielleicht 20 bis 30 Leute und mit DDR-Fahnen gekommen. Auf den Fahnen der anderen Hunderttausend waren Hammer, Sichel und Ährenkranz längst entfernt. Irgendwo stand noch ein Häufchen mit Rot-Schwarzen Fahnen, deren Bedeutung ich damals noch nicht kannte.

Nach Kohls Schlussworten ‚Gott segne unser deutsches Vaterland!‘ brach hunderttausendfach die Hölle los, und ich rannte zum ersten Mal gefühlt um mein Leben, verfolgt von einem Mob aus Skinheads und Wutbürgern. Die #Baseballschlaegerjahre begannen, in denen ich mein Abitur machte, Häuser und Radiofrequenzen besetzte, studierte, mich verliebte und entliebte, Europa und die Welt bereiste, während sich meine Eltern trennten und meine Mutter nie wieder eine richtige Arbeit fand... in denen ich schließlich nach New York und dann nach Berlin ging.“

Schlagworte: