Archivalie
Liebe Prinzipeschka, da Ihr mich als Pagen gütigst...
Transkription: Stuttgart 11 August 1913 Abschrift! Liebe Prinzipeschka , da Ihr mich als Pagen gütigst acceptiert , müsst Ihr mich nach Herrinnen Art duzen, ich hingegen muß Eure Hoheit "Ihren". Bleibts dabei? - Ich schreibe Euch im Morgen- dämmern um 4 Uhr, der Tag blaut, (nicht graut) u. meine Lampe kann bald verlöschen. Das ist die rechte Zeit; sie erinnert mich an die Nachtwachen in der Friedrichs Ruher Straße. Ich habe heute abend Raskolnikow zu ende gelesen u. bin voll Russland, besser Rassland. Wegen Rasse u. auch wegen rase. Wie fein sind die Namen im Klang bei Dostoy. Z.B. Swidrifailow (das deutsche zuwider u. geil ist darinnen) oder fürst Myschkin = an Mystik erinnernd, deren er voll ist. Nach der Lektüre war ich voll Ekels gegen unseren Alltag hier unten: sie ist herausfordernd zu Extasen, Ausschweifungen, Ausserordentlichem. Ich möchte fragen: Meister was soll ich tun, um groß zu werden. Ich bin ja noch ein Kind! Welche Tat enthält die größte Läuterungskraft? In unserer verwässerten Zeit muß man zu ausserordentlichen Mitteln greifen! Unterdessen wollen wir tändeln u. spielen, wol darum wissend, daß es nur ein Spiel ist. Euer Brief hat mich - im bade - "er- wischt", meine Sklavin reichte mir ihn. Fast wäre er betropft worden u. die schöne Locke mit. Danke! An sie werde ich mich also halten in schweren Stunden. Zum Aufknüpfen wird sie nicht reichen, selbst wenn ich Haar an Haar binde. Aber der Duft ging wol auf der reise verloren: meine körperliche Nase war unbe- friedigt. Das Aroma Euer Haut, Prinzessin, erinnerte mich an die Wilden, wie ich sie früher im Zoologischen Garten sah. Den- selben Duft hatte inmal ein Modell u. dann, erinnernd nur, das Mädchen meiner jüngsten Liebe: im Geist besaß ich Euch! Das Mädchen gab nur seinen Körper. Verachtet Ihr solcher Art Liebe? Was schreibt Ihr da von der Frau von 40 Jahren u. von Älterchen! Doch da fällt mir ein: der Maler Kokoschka heiratet die Witwe Gustav Mahlers, des Componisten. Solche Ehen gefallen Nietzsche: der junge Mann soll eine Frau älter als er heiraten, die ihm Geliebte und Mutter ist, später soll er dann ein junges Mädchen heiraten, die ihm Geliebte ist, und die erstere soll resignierend Mutter beider sein. Schreibe ich deutlich, daryanuschka? u. könnt Ihr lesen und verstehen, was ich schreibe? Bei dieser Gelegenheit muß ich Euch ein Kompliment machen über Euren sich immer mehr verbessernden Stil. Ist Helena die Lehrerin? Was ist Graal? Ein Badeort? Ich dachte, es wäre phantastisch Wagners Graal! Werden Sie im Herbst in Berlin sein? Es könnte sein, daß ich komme auf kurze Zeit. Stuttgard ist nichts für junge Geister. Es umnebelt u. kreist ein; es ist recht für zur Ruh gekommen, die das Behagen suchen u. lieben, nicht für Kämpfende und Strebende. Darüber hilft auch mein wunderbares atelier nicht hinweg u. meine Verkaufschancen. Lieber ein Leben in Not u. Drankg, aber voll u. ganz. Ihre Blumenliebe ist schön. Ich vergesse nicht wie Sie den Cyringenbusch umarmten! Ich vergesse aber noch vieles nicht. Aber ich glaube, ich stehe Euch gereinigter gegenüber als damals. ich möchte gern wieder einmal sprechen. Karl ist noch nicht hier gewesen; aber bald will er kommen. Vergesst nicht, im nächsten Brief, wol aus Dresden? Euren Pagen zu duzen, es ist so Sitte bei Hof. herzlichen Gruss! Oskar
- Collection
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Archiv Oskar Schlemmer
- Inventory number
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AOS 2013/1,10
- Material/Technique
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Papier; maschinenschriftlich
- Event
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Herstellung
- (who)
- Rights
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Staatsgalerie Stuttgart
- Last update
-
28.03.2025, 12:10 PM CET
Data provider
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Object type
- Archivalie
Associated
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