Bild

Der Maibaum

»Es ist ein seltsamer Mai«, schrieb tief berührt Rainer Maria Rilke, »schwer, wolkig, und seine beweglichen Wolkenmassen auf Zinnober gemalt. Die Brücke mit dem unheimlich verschluckten Kreuz, und auf der Anhöhe dieses unvergeßliche weiße Haus, beschienen und vom Schein ergriffen und wieder losgelassen ins Grau hinein: alles in allem ein Hintergrund, vor dem sich eine Kreuzaufrichtung abspielt, obwohl nur ein Maibaum da ist. Und vorne Gestalten und Maultiere. Und in einer Entfernung, halb vom Land verdeckt, nochmal, ziehend: Gestalten und Maultiere. Daumier muß dies Bild gekannt haben« (Rainer Maria Rilke an Clara Rilke, 5.7.1905, in: Briefe, Bd. 1, Wiesbaden 1950, S. 109). Doch seit längerer Zeit wird das überlieferte Œuvre Goyas nach strengeren Maßstäben gesichtet, um das ganz Eigenhändige von dem Anteil der Ateliergehilfen, der Kopisten und der Nachahmer zu trennen. Wie andere berühmte Bilder wird der »Maibaum«, einst ungeachtet seines bereits vor 1900 breit übermalten Himmels als »sein [Goyas] Meisterwerk«, als »ein Meisterstück der impressionistischen Malerei« gefeiert (Hans Rosenhagen: Neuerwerbungen der Königl. Nationalgalerie zu Berlin, in: Die Kunst für Alle, 19. Jg., 1903/1904, S. 148), heute mit Skepsis betrachtet. Erschwert wird die Meinungsfindung durch die Existenz von mindestens zwei, vielleicht drei Fassungen, von denen eine (Privatbesitz) nachweislich zu den Bildern gehörte, die bei einer vorsorglichen Vermögensteilung des Malers 1812 berücksichtigt wurden. Indes ist dieses Werk seit Jahrzehnten dem Vergleich entzogen. Wie mittelbar sich Goyas Bildvision im Berliner »Maibaum« auch manifestieren mag, sie ist charakteristisch für die Verdüsterung seiner Malerei nach 1800. Den Landschaften fehlen die vertrauten gliedernden Versatzstücke. Jede erscheint als ein Ort des Unheimlichen und möglicher Gewalt. Auch hier: Ein summarisch hingestrichener und -gespachtelter Berg, ein abweisendes Gebäude, von einem gewittrigen Schein der Dunkelheit entrissen, eine Brücke, darauf ein Kruzifix, Symbol der im Spanien des Bürgerkrieges beängstigend allgegenwärtigen Kirche – das alles ist eher symbolischer Hintergrund als Lebensraum für die unruhige Menschenmenge, die sich auf der Wiese niedergelassen hat. Der einzelne ist darin zum Farbfleck reduziert. Das folkloristische Maibaum-Motiv kam schon, jedoch als Kurzweil einer unbeschwerten Oberschicht interpretiert, auf einem von Goyas rokokohaften Gobelin-Entwürfen (1787, Museo Nacional del Prado, Madrid) vor. Nur ein Vierteljahrhundert später scheint diese Welt schon unendlich fern. | Claude Keisch

Vorderseite | Fotograf*in: Klaus Göken

Public Domain Mark 1.0

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Material/Technik
Öl auf Leinwand
Maße
Rahmenmaß: 106 x 128,5 x 7 cm
Höhe x Breite: 82,7 x 103,5 cm
Standort
Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
Inventarnummer
A I 785

Ereignis
Erwerb
(Beschreibung)
1903 Geschenk von Friedrich Alfred Krupp, Essen
Ereignis
Herstellung
(wann)
um 1808/1812

Letzte Aktualisierung
08.08.2023, 11:02 MESZ

Objekttyp


  • Bild

Beteiligte


Entstanden


  • um 1808/1812

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