Bestand

Martin Gerhardt (Bestand)

Beruflicher Nachlaß des Theologen und Historikers der Inneren Mission Martin Gerhardt (1894-1952), der vermutlich zusammen mit einem Teil seiner Bibliothek 1952 in den Besitz des Central-Ausschusses gelangte.

Vorwort: Martin Gerhardt wurde am 1. Dezember 1894 in Berlin geboren; sein Vater war Oberlehrer am Königsstädtischen Realgymnasium. Er begann im Sommersemester 1913 mit dem Studium der Theologie in Tübingen, ging aber schon im folgenden Wintersemester nach Berlin. Im August 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und kehrte nach dreimonatiger Internierungszeit erst im März 1919 in die Heimat zurück. Er setzte das Theologiestudium fort und schloß sich jetzt an Karl Holl an, als dessen Schüler er sich betrachtete. In einem undatierten, offenbar 1936 entstandenen ausführlichen Lebenslauf sagt er von ihm: "Diesem mir unvergeßlichem Lehrer verdanke ich das Beste in meiner wissenschaftlichen Ausbildung und auch die von Luther her bestimmte Richtung meiner theologischen Grundhaltung" (MG 59). Im Dezember 1920 legte er die erste und im Juli 1922 die zweite theologische Prüfung ab. Er hatte jedoch offenbar nicht die Absicht, in den kirchlichen Dienst zu treten, sondern wendete sich der Wissenschaft zu. Zunächst galt sein Interesse der Alten Kirche. Mit einer Studie über die Bedeutung der Eschatologie bei Irenaeus, Tertullian und Hippolyt erwarb er 1922 in Berlin den Grad eines Licentiaten und habilitierte sich im gleichen Jahre in Erlangen für das Fach Kirchengeschichte. Hier wurde er aufgrund einer Dissertation über "Das Leben und die Schriften Lactantius" auch zum Dr. phil. promoviert.
Damit endete seine Beschäftigung mit der Geschichte der Alten Kirche. In der Folgezeit galt Gerhardts Arbeit ausschließlich der Geschichte der Inneren Mission. Dabei war es ihm selbstverständlich, daß deren wissenschaftliche Erforschung nur auf der Grundlage der Quellen erfolgen konnte (vgl. sein Schreiben an Pastor Hardt vom 1. Juli 1946 in CAW 16 A). Seiner historischen Darstellung ist daher meist die Sicherung und Erschließung der archivalischen Quellen vorausgegangen; er hat sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für das Archivwesen der Inneren Mission Hervorragendes geleistet. Zunächst folgte Gerhardt 1923 einem Ruf des Direktors Pastor Wilhelm Pfeiffer an das Rauhe Haus nach Hamburg, wo er ein Wichernarchiv einrichten und die Geschichte der Anstalt für ihr im Jahr 1933 bevorstehendes 100jähriges Jubiläum schreiben sollte. Anstelle der Anstaltsgeschichte, die ihm wissenschaftlich wenig lohnend schien, schrieb Gerhardt jedoch eine dreibändige Wichernbiographie und gab 1925 die Jugendtagebücher Wicherns heraus. Zum 1. Juli 1931 wurde er an die Diakonissenanstalt Kaiserswerth gerufen, um ein Fliednerarchiv einzurichten und eine Fliednerbiographie zu schreiben. Weil sich nach Beendigung dieser Arbeit zunächst keine weitere Möglichkeit wissenschaftlicher Betätigung zu bieten schien, ließ er sich im Oktober 1936 ordinieren, um gegebenenfalls ein Pfarramt übernehmen zu können. 1937 wurde er jedoch als ordentlicher Professor an die Universität Göttingen berufen. Als er im gleichen Jahre von der 1936 in das Leben getretenen Arbeitsgemeinschaft landeskirchlicher Archivare aufgefordert wurde, dort die Innere Mission zu vertreten, sagte er zu und unterstrich dadurch die Notwendigkeit der Archivarbeit für die historische Forschung.
1939 bis 1945 nahm Gerhardt als Offizier am 2. Weltkrieg teil. Als er am 4. September 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, fand er die vom Military Government verfügte Entlassung aus dem Staatsdienst vor (vgl. Schreiben vom 12. Januar 1946: CAW 16 A; seinen Lehrstuhl erhielt Ernst Wolf: Schreiben vom 10.3.1949 in MG 36). Er war nämlich seit 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP gewesen und hatte auch eine Zeitlang - nach eigenen Angaben bis 1936 - den Deutschen Christen angehört (Schreiben vom 28. Mai 1948: MG 42). Im Entnazifizierungsbescheid wurde er dann als entlastet in Kategorie V eingestuft (MG 42). Da in der Entlassungsverfügung die Fortsetzung seiner Arbeit im Bereich der Inneren Mission ausdrücklich gestattet worden war, setzte sich Gerhardt im Januar 1946 mit dem Präsidenten des Central-Ausschusses in Verbindung und erbot sich, wieder die Betreuung des Archivwesens der Inneren Mission zu übernehmen und den Central-Ausschuß in der Arbeitsgemeinschaft landeskirchlicher Archivare zu vertreten (CAW 16 A). Der Vorstand des CA-West erklärte sich am 8. Februar 1946 damit einverstanden. Aus der Niederschrift über die Sitzung des Vorstandes des CA-Ost am 24. Oktober 1946 geht jedoch hervor, daß "vom Leiter des kirchlichen Archivwesens in Berlin-Brandenburg" dagegen Bedenken geltend gemacht worden sind; der Ost-Vorstand machte sie sich zu eigen und bat den West-Vorstand, seine Entscheidung zu überprüfen (CAW 33). Letzterer trug dem Rechnung, indem er "die Vertretung der Archivangelegenheiten nach außen" P. Münchmeyer übertrug (Sitzung am 3.12.1946: CAW 29). Am 4. Dezember 1946 beschloß der West-Vorstand, Gerhardt zu bitten, bis zum Jubiläum des Central-Ausschusses im Jahre 1948 eine Darstellung seiner Geschichte zu verfassen; sie erschien in zwei Bänden unter dem Titel "Ein Jahrhundert Innere Mission". Ende 1948 erhielt er von den Bodelschwinghschen Anstalten den Auftrag, eine wissenschaftliche Biographie von Friedrich v. Bodelschwingh dem Älteren zu schreiben. Der erste Band erschien 1950; der erste Teil des 2. Bandes 1952. Am 27. Mai dieses Jahres starb er.
Der Vorstand des Central-Ausschusses beschloß am 29. September 1952, für DM 6.000,- denjenigen Teil der Bibliothek Gerhardts zu erwerben, der sich mit der Inneren Mission befaßt (CAW 30). Wahrscheinlich ist zusammen mit der Bibliothek auch sein Nachlaß in die Geschäftsstelle des Central-Ausschusses in Bethel und danach in die Hauptgeschäftsstelle des fusionierten Werkes gelangt. Von dort ist er an das Archiv abgegeben und hier im März 1986 von Frau Schwittlinsky geordnet und verzeichnet worden; im August 1999 wurde er von Frau Ute Franke elektronisch erfaßt.
Im Zuge des Umzuges 2012 wurden aus der Stuttgarter Bibliothek die letzten Schuber des Bestandes nach Berlin abgegeben. Sie sind an den Eintragungen im Feld Registratursignatur zu identifizieren. Vier Schuber mit Bibliotheksgut wurden in den Bibliotheksbestand eingearbeitet (Kleine Schriften Wicherns, Theodor Fliedner, Jahresberichte und Jahressprüche des Rauhen Hauses).

Literatur
A. Oe. [ = Annemarie Oertel ] in: Die Innere Mission 42. Jg. 1952, Heft 7 S. 32
Talazko, Helmut: Die Landeskirchlichen Archive und das Archivgut der Diakonie, in: Allgemeine Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für das Archiv- und Bibliothekswesen in der evangelischen Kirche 1971 Nr. 2
Vgl. Ernst Berneburg in: Kirchliche Zeitgeschichte 1. Jg. 1988, Heft 1 S. 193
Berlin, 17.3.1986

Reference number of holding
MG

Context
Archiv für Diakonie und Entwicklung (Archivtektonik) >> Personen (Handakten und Nachlässen)

Date of creation of holding
1923-1952

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Last update
22.04.2025, 11:01 AM CEST

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Object type

  • Bestand

Time of origin

  • 1923-1952

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