"Das wunderbarste Märchen ist das Leben selbst“ – Über H. C. Andersen, Kunstmärchen und allzeit bereite Scheren

31.03.2022 Lena Hennewig (wissenschaftliche Mitarbeiterin)

Es war einmal der Sohn eines mittellosen Schuhmachers und einer alkoholkranken Wäscherin, der am 2. April 1805 in der kleinen Stadt Odense auf der dänischen Insel Fünen das Licht der Welt erblickte. Bis er auszog, um die Menschen mit seinen Geschichten zu erfreuen, war es aber noch ein langer, steiniger Weg – und zunächst ein einsamer.

„Mein Leben ist ein hübsches Märchen, ebenso reich wie glücklich. Wäre mir, da ich als Knabe arm und allein in die Welt hinaus ging, eine mächtige Fee begegnet und hätte gefragt: 'wähle deine Laufbahn und dein Ziel, und dann beschütze und führe ich dich je nach deiner Geistesentwickelung und wie es der Vernunft gemäß in dieser Welt sein muss!'– mein Schicksal hätte nicht glücklicher und besser geleitet werden können. Meine Lebensgeschichte wird der Welt sagen, was sie mir sagt: es gibt einen liebevollen Gott, der Alles zum Besten führt.“

So fasste der fünfzigjährige Hans Christian Andersen (1805-1875) sein Leben in seiner Autobiographie „Das Märchen meines Lebens“ (1855) zusammen. Aber beginnen wir am Anfang seiner Geschichte – oder besser: seines ganz persönlichen Märchens.

„So viel Glück habe ich mir nicht träumen lassen, als ich noch das hässliche Entlein war!“

Es war einmal der Sohn eines mittellosen Schuhmachers und einer alkoholkranken Wäscherin, der am 2. April 1805 in der kleinen Stadt Odense auf der dänischen Insel Fünen das Licht der Welt erblickte. Bis er auszog, um die Menschen mit seinen Geschichten zu erfreuen, war es aber noch ein langer, steiniger Weg – und zunächst ein einsamer.

Der junge H. C. Andersen war ein talentiertes Kind. Auf Grund der schlechten finanziellen Situation seiner Familie konnte er jedoch nur selten die Schule besuchen. Dennoch interessierte sich Andersen für das Theater und verschlang die wenigen Bücher, die sein armer Vater besaß. Als Hans Christian Andersens Vater im Alter von nur 34 Jahren starb, musste sein elfjähriger Sohn fortan zum finanziellen Auskommen der Familie beitragen. Er begann, in einer Fabrik zu arbeiten, um seine Mutter zu unterstützen.

Vielleicht ist es diese entbehrungsreiche Kindheit – die frühe Konfrontation mit Verantwortung und körperlicher Arbeit, finanziellen Sorgen und Tod –, in der die Melancholie, aber auch der funkelnde Optimismus in den Schriften H. C. Andersens begründet liegt.

„Leben ist nicht genug!“ sprach der Schmetterling. „Sonnenschein, Freiheit und ein kleines Blümchen muss man haben!“

In H. C. Andersen formierte sich in seiner frühen Jugend der Wunsch, seinen prekären Lebensumständen zu entkommen, und er zog als Vierzehnjähriger nach Kopenhagen. Hier versuchte er sich als Theaterschauspieler und Sänger, und er schrieb erste Gedichte. Großer Erfolg wollte sich jedoch zunächst nicht einstellen.

Allerdings wurde der damalige Direktor des Kopenhagener Theaters Jonas Collin auf ihn aufmerksam. Er lud Andersen ein, bei ihm und seiner Familie zu leben. Gefördert durch Collin und den damaligen König Friedrich VI. konnte der Junge aus Odense die Lateinschule und anschließend die Universität besuchen.

Bereits zum Ende seiner Schulzeit schrieb H. C. Andersen sein erstes international veröffentlichtes Gedicht „Das sterbende Kind“, das den Tod aus der Perspektive des namensgebenden Kindes beschreibt. Ab 1822 folgten weitere publizierte Gedichte, Erzählungen und Theaterstücke. Zur selben Zeit verfasste er auch sein erstes Kunstmärchen, dessen Manuskript jedoch erst im Jahr 2012 aufgefunden und unter großem medialem Interesse veröffentlicht wurde.

„Wer für Erwachsene schreibt, schreibt für die Zeit, wer für die Kinder schreibt, für die Ewigkeit.“

Hans Christian Andersen verfasste ab den 1830er Jahren mehr als 150 weitere Kunstmärchen, die ihm noch zu Lebzeiten zu Weltruhm verhalfen. Kinder und Erwachsene waren gleichermaßen Zielgruppe seiner Märchen, deren ironische und teilweise amourösen Anspielungen nur dem erwachsenen Leser verständlich sind.

Er war vertraut mit den berühmten Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Die bereits ab 1820 in dänischer Sprache veröffentlichten Geschichten der hessischen Brüder gelten als eine der Inspirationsquellen des Dänen. Die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen gehören zu der Gruppe der Volksmärchen, die sich durch ihre mündliche Überlieferung und einen unbekannten Urheber auszeichnen. Jakob und Wilhelm Grimm ließen sich die Märchen von verschiedenen Quellen erzählen und schicken, um sie anschließend niederzuschreiben. Eigene Märchen verfassten sie nicht.

Hans Christian Andersens Erzählungen sind hingegen sogenannte Kunstmärchen. Sie sind von einem benennbaren Autor erdacht und niedergeschrieben und häufig zeitlich und räumlich festgelegt. Einige Kunstmärchen greifen Motive der Volksmärchen auf, die meisten sind jedoch vollkommen unabhängige Erzählungen. Gemeinsam ist beiden Märchenarten jedoch die Verwendung von phantastischen, magischen oder surrealen Komponenten.

Hans Christian Andersens Kunstmärchen haben innerhalb ihrer Art einen ganz eigenen Charakter. So ist ihr Schauplatz genauestens festgelegt und detailliert beschrieben: das Kinderzimmer mit dem papiernen Spielschloss in „Der standhafte Zinnsoldat“, die kalten Straßenzüge am Silvesterabend in „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen“ oder die grüne Wiese an einem herrlichen Sommertag in „Das hässliche Entlein“. H. C. Andersen schrieb zudem häufig aus einer kindlichen Perspektive und versuchte, die märchenhaften Elemente in seine Erzählungen des alltäglichen Lebens zu integrieren.

„Scherenschnitte sind der Auftakt zum Schreiben.“

H. C. Andersen war jedoch nicht nur mit Papier und Stift ein begnadeter Erzähler. Auch mit Papier und Schere gelang es ihm meisterhaft, fremde Welten einzufangen.

Scherenschnitte waren für Hans Christian Andersen nicht mehr und nicht weniger als eine geliebte Freizeitbeschäftigung. Er stellte sie nicht aus und verkaufte sie nicht, sondern verschenkte sie an Freunde, Gastgeber und deren Kinder. Er fertigte sie an, während er seine Geschichten erzählte – mit einer Schere, die er stets bei sich trug.

Manche Scherenschnitte steckte er zur Zierde in Blumensträuße, andere waren zum Puppenspielen gedacht. Wieder andere konnten durch Anpusten zum Laufen gebracht werden. Die Motive seiner Scherenschnitte waren so vielfältig wie die seiner Märchen – und die seines Lebens: Es finden sich Pierrots und Tänzerinnen, Tiere, phantastische Gestalten und exotische Architekturen.

Etwa 400 seiner Scherenschnitte sind heute noch erhalten, die Forschung geht davon aus, dass es zahlreiche weitere gegeben hat. 1.000 bis 1.500 könnten es ursprünglich gewesen sein.

„Man bekommt einen klaren Kopf auf Reisen“

Die Inspirationsquelle für seine Scherenschnitte und Märchen fand Hans Christian Andersen während seiner zahlreichen Exkursionen. Die ersten Skizzen zu „Die kleine Meerjungfrau“ entstanden beispielsweise während einer Italienreise. Der Einfluss Italiens zeigt sich deutlich in Andersens Beschreibungen des Landes, das die kleine Meerjungfrau aus dem Wasser heraus betrachtet:

„Nun sah sie vor sich das feste Land, hohe blaue Berge, auf deren Gipfel der weiße Schnee erglänzte, als wären es Schwäne, die dort lägen. Unten an der Küste waren herrliche grüne Wälder, und davor lag eine Kirche oder ein Kloster, das wusste sie nicht recht, aber ein Gebäude war es. Zitronen- und Apfelsinenbäume wuchsen im Garten, und vor dem Tore standen hohe Palmen. Die See bildete hier, wo es ganz still, aber sehr tief war, eine kleine Bucht, gerade bis zu den Klippen, an die weißer feiner Sand gespült war […].“

Ein staatliches Stipendium finanzierte H. C. Andersens erste Reisen durch zahlreiche Länder Europas und in das Osmanische Reich. Neben Inspirationen sorgten die Reisen ebenso für eine steigende internationale Bekanntheit – bis heute sind H. C. Andersens Bücher in 120 Sprachen erschienen.

 

Und wenn er nicht gestorben ist…

Hans Christian Andersen starb am 4. August 1875 in Kopenhagen als weltberühmter Autor. Durch sein Wirken ist er unsterblich geworden, sein Leben wird bis heute gefeiert: Im Juni 2021 wurde in seiner Geburtsstadt Odense das neue „Hans-Christian-Andersen-Museum“ eingeweiht, bereits seit 1913 sitzt die bronzene „Kleine Meerjungfrau“ im Hafenbecken Kopenhagens und ist eines der beliebtesten Wahrzeichen der dänischen Hauptstadt. Berühmte Disney-Filme wie „Arielle, die Meerjungfrau“ und „Frozen“ basieren auf seinen Ideen. Der große Pop-Art-Künstler Andy Warhol widmete Hans Christian Andersen im Jahr 1987 sogar eine eigene Werkreihe. Und die vielleicht größte Ehre: Anlässlich seines Geburtstags am 2. April wird der Internationale Kinderbuchtag begangen.

Mehr Hans Christian Andersen in der Deutschen Digitalen Bibliothek


Quellen:

H. C. Andersens Autobiographie „Das Märchen meines Lebens“, 1855, online unter: https://www.google.de/books/edition/Das_M%C3%A4rchen_meines_Lebens/HXlBAAAAYAAJ?hl=de&gbpv=1&printsec=frontcover

https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4rchen

https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Christian_Andersen

https://de.wikipedia.org/wiki/Odense

http://www.grimms.de/de/content/des-m%C3%A4rchens-neue-kleider-hans-christian-andersen-und-die-br%C3%BCder-grimm

https://www.dw.com/de/hans-christian-andersen-museum/a-58075837

https://www.dw.com/de/die-scherenschnitte-des-hans-christian-andersen/a-45849742

https://hans-christian-andersen.de/

http://hans-christian-andersen.de/biografie/

http://hans-christian-andersen.de/biografie-andersen/

https://hans-christian-andersen.de/biografie/andersen-leben/

http://www.grimms.de/de/content/des-m%C3%A4rchens-neue-kleider-hans-christian-andersen-und-die-br%C3%BCder-grimm

https://www.geo.de/geolino/mensch/1958-rtkl-weltveraenderer-hans-christian-andersen

https://www.planet-wissen.de/kultur/literatur/maerchen/pwiehanschristianandersen100.html

https://www.ad-magazin.de/article/hans-christian-andersen-scherenschnitte

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