Der Juni ist Pride Month – ob in Angola oder der Ukraine, überall auf der Welt finden in den Sommermonaten queere Demonstrationen statt, oft unter widrigen Bedingungen. In Deutschland ist die Pride Parade als Christoper Street Day, kurz CSD, bekannt.

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In der Christopher Street in New York City befindet sich bis heute die Bar „Stonewall Inn“. Dort kam es in der Nacht zum 28. Juni 1969 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und queeren Menschen, bis heute ein Meilenstein der LGBTQIA+ Bewegung – ein Meilenstein unter vielen. Andere Aufstände, wie zum Beispiel der Compton’s Cafeteria Riot in San Francisco, sind heute weniger bekannt, aber nicht weniger wichtig. Für die LGBTQIA+ Bewegung in Deutschland war Stonewall ein besonders wichtiger Anstoß.

Um die Bedeutung von Stonewall zu verstehen, ist es hilfreich, einen Blick einerseits auf die Situation queerer Menschen in den USA und andererseits auf das Leben in New York in den 1960er-Jahren zu werfen.

New York in den 60ern

New York in den späten 60er Jahren ist ein Gemisch aus wirtschaftlichem Verfall und kulturellem Aufbruch. Im November 1965 fällt in großen Teilen der Stadt der Strom aus. Manhattan, Queens, die Bronx und fast ganz Brooklyn liegen mehrere Stunden lang im Dunkeln. Ein Jahr später erreicht die Luftverschmutzung einen kritischen Punkt, und die Stadt ist mehrere Tage lang in Smog eingehüllt. Regelmäßig legen Arbeitskämpfe die städtische Infrastruktur lahm. Mal versinken die Straßen mehrere Wochen lang im Müll, dann läuft der neu gewählte Bürgermeister John Lindsay an seinem ersten Arbeitstag sechs Kilometer zur City Hall, um zu zeigen, dass der Streik des öffentlichen Personennahverkehrs überhaupt kein Problem ist.

Gleichzeitig zieht New York Pop-Art Künstler*innen wie Andy Warhol und Rosalyn Drexler an. Um Bob Dylan, Joan Baez und Co. formiert sich in Greenwich Village eine neue Folkbewegung und auf Undergroundpartys der Schwarzen, Latinx und LGBTQIA+ Community verschmilzt Soul mit Funk und lateinamerikanischer Musik zu Disco. Seit 1965 übersetzt das Black Arts Movement (BAM) die Black-Power-Bewegung in Kunst und Kultur. Demonstrationen der Bürgerrechts- und Anti-Vietnamkriegsbewegung werden oft brutal von der Polizei aufgelöst, und es kommt regelmäßig zu Ausschreitungen.

Die queere Community in den 60ern

Die Situation der US-amerikanischen queeren Community in den 1950er- und 1960er-Jahren ist schlecht. 1953 hatte Präsident Eisenhower homosexuellen Menschen eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst verboten. Die Entlassung vornehmlich schwuler Männer, aber auch von lesbischen Frauen sowie die Überwachung queerer Menschen durch das FBI sind heute als „Lavender Scare“ bekannt – der Begriff leitet sich ab vom Red Scare, der „Roten Angst“, einer Verfolgungswelle die Kommunist*innen und Linke in den 1950er-Jahren trifft.

New York hatte 1950 damit Rechtsgeschichte geschrieben, als erster US-Bundesstaat sexuelle Handlungen zwischen Männern zu einer Ordnungswidrigkeit herabzustufen und statt mit Gefängnis fortan „nur“ noch mit einer Geldstrafe zu ahnden. Homosexualität ist 1969 damit aber immer noch eine Straftat. Lesben werden zwar strafrechtlich nicht direkt verfolgt, sehen sich aber trotzdem systematischen Repressalien und Diskriminierung ausgesetzt. Besonders dramatisch ist die Situation von trans Personen: Sie sind in hohem Maß von Polizeibrutalität, sexualisierter Gewalt und Obdachlosigkeit betroffen und werden sogar innerhalb der queeren Community angefeindet.

Die organisierte queere Community ist in den späten 1960er-Jahren extrem klein – in der Mattachine Society organisieren sich schwule Männer seit 1950, und die Daughters of Bilitis sind seit 1955 eine Anlaufstelle für Lesben. Die Angst vor öffentlichen Repressalien ist so groß, dass die Daughters of Bilitis zunächst als Geheimorganisation gegründet werden und sich die Mitglieder der Mattachine Society ausschließlich unter Pseudonym treffen. Im Zentrum dieser Bewegung steht Seriosität, die Aktivist*innen wollen zeigen, dass sie Teil der Gesellschaft und wie alle anderen sind. Damals ist es ein revolutionärer Akt, als schwules Paar in einem schicken Restaurant einzufordern, bedient zu werden.

Queere Bars: Zwischen Mafia und NYPD

Sichere Orte, an denen sich die queere Community treffen kann, gibt es selbst in New York City kaum. Queere Bars sind zwar nicht per Gesetz verboten, die Stadtverwaltung findet aber juristische Umwege, um ihre Existenz praktisch unmöglich zu machen. LGBTQIA+ Bars erhalten keine Ausschanklizenz, dürfen also keinen Alkohol verkaufen. Das treibt die Community in die Arme der Mafia, die illegale Ausschanklizenzen verteilt – natürlich gegen Geld. Die Mafia nutzt die Notlage queerer Menschen finanziell aus, die auf diese Weise gleichzeitig in die Kriminalität gedrängt werden. Queere Bars sind deshalb keine gemütlichen Lokale, wie es heute oft der Fall ist, sondern heruntergekommene Kaschemmen. Das Stonewall Inn beispielsweise hat weder laufendes Wasser noch funktionierende Toiletten.

Zwischen Mafia auf der einen Seite und Polizei auf der anderen wird die queere Szene zerrieben. Queere Menschen sind leichtes Ziel einer Polizei, die ihre Verhaftungsquote aufbessern will: Die bei Razzien obligatorischen Ausweiskontrollen führen umstandslos zur Verhaftung von trans Frauen und Menschen, die sich dem binären Geschlechtersystem widersetzen. Sie verhalten sich nicht entsprechend dem Geschlecht, das in ihrem Pass verzeichnet ist und werden deshalb zum Beispiel für „female impersonation“ (in etwa: Damenimitation) verhaftet. Hier lautet die Regel: Es müssen mindestens drei Kleidungsstücke getragen werden, die dem zugeschriebenen Geschlecht entsprechen. Auch gleichgeschlechtliches Tanzen ist verboten und Grund für eine Verhaftung.

Obwohl „unsittliche“ Bars auf Geheiß des Bürgermeisters John Lindsay permanent geschlossen werden sollen, können sie oftmals noch in derselben Nacht wieder öffnen – das lässt sich die New Yorker Polizei teuer bezahlen. Queere Bars zahlen Schutzgeld also nicht nur an die Mafia, sondern auch an das NYPD.
 

Auch das Stonewall Inn bezahlt Mafia und Polizei, um existieren zu können. Razzien sind Alltag – und trotzdem kommt es in der Nacht auf den 28. Juni 1969 zum Aufstand. Wieso? Die Ereignisse um Stonewall sind gut dokumentiert, viele Zeitzeug*innen haben ihre Erinnerungen geteilt. Ein einzelner Grund für den Widerstand gegen queere Unterdrückung lässt sich dennoch nicht identifizieren. Vielleicht reicht es einfach mit der Gewalt, der Ausbeutung und der Beschämung.

Die Razzia in dieser Nacht beginnt jedenfalls ungewöhnlich spät – normalerweise verhaftet die Polizei relativ früh am Abend ein paar Menschen, sodass der Barbetrieb danach weiterlaufen kann. Am 28. Juni taucht das NYPD erst gegen 1:20 Uhr auf. Das Stonewall Inn ist zu diesem Zeitpunkt gut besucht. Die Beamten kontrollieren Ausweise, verhaften und entlassen die Leute dann einzeln auf die Straße. Anstatt nach Hause zu gehen, wie es üblich gewesen wäre, bleiben die Barbesuchenden draußen stehen – sie warten auf ihre Freund*innen und weigern sich, zu gehen.

Wer warf den ersten Stein?

Die Menschenmenge wächst an. Es gesellen sich Schaulustige dazu und – wichtig – viele queere Menschen aus der Nachbarschaft (Greenwich Village, der Stadtteil von Manhattan, in dem sich das Stonewall Inn befindet, ist zu diesem Zeitpunkt nämlich ein queerer Kiez, ähnlich wie der Nollendorfkiez in Berlin-Schöneberg). Die Menge zählt schließlich um die 500 Menschen. Die Stimmung ist ausgelassen und aufgeheizt.

Wer den ersten Backstein wirft, ist heute umstritten – ganz vorne dabei sind all jene, die nichts zu verlieren haben. Das sind vor allem trans Frauen of Colour und obdachlose queere Jugendliche. Sie sind auch diejenigen, die selbst in der Stonewall Inn nicht am Türsteher vorbeikommen. Die Bar ist zwar inklusiver als andere queere Bars der Zeit, trotzdem ist das Klientel (an diesem Abend) fast vollständig weiß und cis männlich. Zu diesem Zeitpunkt bezeichnen sich trans Frauen übrigens noch nicht als trans, sondern als Queens, was neben ihnen auch effeminierte cis Männer und Formen der Gender-Nonkonformität wie Crossdressing einschließt.

Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera sind heute zwei der bekanntesten trans Frauen, die sich während der Stonewall-Unruhen mutig der Polizei entgegenstellen. Die beiden engagieren sich auch nach dieser Nacht für LGBTQIA+ Rechte, für trans Personen und obdachlose queere Jugendliche – unter anderem gründen sie die Street Transvestite Action Revolutionaries. Aus der Geschichte von Stonewall werden Johnson und Rivera zunächst herausgeschrieben. So zeigt das 1992 eingeweihte Gay Liberation Denkmal von George Segal lediglich weiße cis Menschen. Im Gegensatz zu schwulen und lesbischen Aktivist*innen, die in den Jahren nach Stonewall durch ihren Aktivismus ein bescheidenes Auskommen hatten, lebten Johnson und Rivera ihr Leben lang unter der Armutsgrenze und waren streckenweise obdachlos.

Aber zurück zum 28. Juni 1969 – die Menschen vor dem Stonewall Inn weigern sich zunächst, nach Hause zu gehen und wehren sich dann mit Steinen und Flaschen gegen die Polizeirazzia. In bester Camp-Manier formieren sie außerdem eine Tanzreihe gegen die Polizei – wie in einer Revue oder einem Musical. In einem nahegelegenen Frauengefängnis solidarisieren sich die Insassinnen und beginnen „gay power“ zu rufen. Die Polizei verbarrikadiert sich in der Kneipe, bis eine Beamtin aus dem Klofenster klettert und Verstärkung ruft. Ein SWAT-Team rückt an und knüppelt die Protestierenden gewaltsam nieder. Statt ein Einzelfall zu bleiben, ist Stonewall der Auftakt einer Protestwelle. Am nächsten Abend gehen die Auseinandersetzungen weiter – und statt 500 sind nun 2.000 Menschen dabei. Das Ganze dauert insgesamt fünf Tage.

1969 ist die queere Community in den USA schon nicht mehr ganz so klein wie zu Beginn des Jahrzehnts. Es gibt eine Infrastruktur, die aktivistischen Gruppen sind vernetzt, und  ein Jahr nach den Aufständen werden die erste Gedenkdemonstration organisiert. Neben der Mattachine Society und den Daughters of Bilitis formieren sich radikalere Gruppen wie beispielsweise die Gay Liberation Front und die schon erwähnten Street Transvestite Revolutioniaries. Für das Gedenken an die Stonewall-Proteste setzt sich im Laufe der Jahre der Begriff Gay Pride durch, „gay“ hat damals eine inklusivere Bedeutung, ähnlich wie heute „queer“. Inzwischen ist die Demonstration schlicht als New York City Pride bekannt.

Wie die Christopher Street nach Deutschland kam

In der Bundesrepublik stellt der §175 des Strafgesetzbuches sexuelle Handlungen zwischen Männern theoretisch bis 1994 unter Strafe – 1969 gibt es Reformen, die den Paragraphen lockern. Diese Lockerungen sind das Ergebnis von jahrzehntelangen Kämpfen, von Verfassungsklagen, die eingereicht und abgelehnt werden, und von Protesten im Rahmen der Studierendenbewegung. Ab 1969 ist Sex zwischen Männern über 21 Jahre straffrei. 1973 wird das Alter auf 18 Jahre abgesenkt – und ist damit trotzdem noch eine Sonderregelung, denn das Schutzalter für heterosexuellen Sex liegt bei 16 Jahren. Erst fünf Jahre nach der Wiedervereinigung wird der §175 abgeschafft, Altersgrenzen unabhängig von der sexuellen Orientierung werden eingeführt. In der DDR sind sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern straffrei. Allerdings gilt auch hier eine höhere Altersgrenze als für gleichgeschlechtlichen Sex.
 

Trans Identität gilt in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik als eine Art Psychose und trans Personen werden regelmäßig in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Eine Möglichkeit, den Geschlechtseintrag ändern zu lassen, gibt es nicht. Punktuell kommen Behörden einzelnen Menschen entgegen und stellen sogenannte „Transvestitenscheine“ aus. Diese wurden erstmals in der Weimarer Republik eingeführt und ermöglichen es, der Geschlechtsidentität angemessene Bekleidung zu tragen, ohne dafür strafrechtlich belangt zu werden. Bis zur Einführung des Transsexuellen Gesetzes (TSG) 1980, das zwar hochproblematisch ist (Stichwort: psychiatrische Gutachten und Sterilisation), aber für die damalige Zeit einen radikalen Schritt darstellt, haben trans Personen überhaupt keine Rechte. Wie in den USA sind sie eine extrem vulnerable Gruppe, die überproportional von Gewalt und Armut betroffen ist.

Der erste Christopher Street Day  in Deutschland findet zehn Jahre nach den Stonewall-Aufständen 1979 in Berlin statt. Insgesamt kommen 450 Menschen zum Charlottenburger Savignyplatz und marschieren von dort über die Kurfürstenstraße nach Halensee. Heute ziehen beim CSD mehrere Hunderttausend Menschen durch Berlin und selbst in kleineren Städten wie Bingen am Rhein oder Görlitz finden Demonstrationen statt. 

Ende gut, alles gut?

…Keinesfalls. Im Februar 2025 werden auf Anweisung von Donald Trump alle Hinweise auf transgender und queere Personen von der Website des National Park Service (NPS) gelöscht, zu dem auch das Stonewall National Monument gehört. Trans und queere Menschen werden also wieder aus der Geschichte herausgeschrieben. Die US-Regierung schränkt außerdem die Rechte von trans Personen systematisch ein, verweigert ihnen Zugang zum Gesundheitssystem, sammelt ihre Pässe ein und weist ihnen gewaltsam das Geschlecht zu, das sie für biologisch korrekt hält.

Und auch in Deutschland sind CSD-Demonstrationen zunehmend Anfeindungen und Gewaltdrohungen durch Rechte ausgesetzt – so zum Beispiel 2024 in Görlitz. Protest und Solidarität sind heute also wichtiger denn je.

 

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Quellen

Laura Adamietz, Aus Politik und Zeitgeschichte, Geschlechtsidentität im deutschen Recht https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/135436/geschlechtsidentitaet-im-deutschen-recht/ 

Benno Gammerl, Eine Regenbogengeschichte https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/homosexualitaet/38831/eine-regenbogengeschichte/ 

Michael Hobbes, Sarah Marshall: You're Wrong About - The Stonewall Uprising (Podcast) https://www.youtube.com/watch?v=5FSEJclA_EQ 

Thomas Jander, DHM Blog: Wozu das denn? Ein Schein zum (anders-)Sein https://www.dhm.de/blog/2019/07/23/wozu-das-denn-ein-schein-zum-anders-sein/ 

Ants Kiel, Eine (kurze) Geschichte des Christopher Street Day https://www.bbz-lebensart.de/CMS2021/uploads/PDFs/Geschichte_CSD.pdf 

Tobias Sauer, fluter Interview, „Heute Nacht wirst du kämpfen, Bitch!“ https://www.fluter.de/geschichte-des-csd-interview-mit-zeitzeuge 

Daniel Schwitzer: Geschichte des Christoper Street Day https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/homosexualitaet/38838/geschichte-des-christopher-street-day/ 

bpb kurz&knapp: Die Geburtsstunde des "Gay Pride" https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/292948/die-geburtsstunde-des-gay-pride/ 

Deutschlandfunk nova: Der Stonewall-Aufstand 1969 https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/christopher-street-day-geschichte-der-lesben-und-schwulenbewegung 

Wikipedia: Stonewall Riots (englisch) https://en.wikipedia.org/wiki/Stonewall_riots, §175 Strafgesetzbuch https://de.wikipedia.org/wiki/%C2%A7_175_Strafgesetzbuch_(Deutschland), The History of New York City (englisch) https://en.wikipedia.org/wiki/History_of_New_York_City_(1946%E2%80%931977)