Bestand
E 427 Initiativgruppe Homosexualität Tübingen (IHT) / Hilfe für Homosexuelle e.V. / Lesben und Schwule in Tübingen (LuSchT) e.V. (Bestand)
Form und Inhalt: Zum Bestand
Den Großteil dieses Bestands bilden Ordner, Kassenbücher, Plakate und weitere Dokumente, die jeweils bei der Auflösung der Initiativgruppe Homosexualität Tübingen (IHT), des Vereins Hilfe für Homosexuelle e.V., Vereins Lesben und Schwule in Tübingen LuSchT e.V. und der Einstellung des Betriebs des Café LuSchT "entsorgt" werden sollten. Michael Osdoba, der in diesen Gruppen ab 1990 aktiv war, hat die Bestände jeweils vor der Vernichtung gerettet. Zusammen mit weiteren Dokumenten, darunter vor allem Plakaten, Dekomaterialien und einem sehr großen Bestand an Zeitschriften und Magazinen, die er während seiner Zeit als Mitarbeiter dieser Gruppen schon privat gesammelt hatte, übergab er sie 2022 als Schenkung an das Stadtarchiv Tübingen. Ergänzt wurden sie durch Dokumente, die Holger Starzmann, der zeitgleich wie Herr Osdoba bei der IHT und beim Verein Hilfe für Homosexuelle aktiv war, aufbewahrt hatte. Weiterhin hat Roland Schuller Plakate und Dokumente des Vereins GayDay e.V. überlassen. Die große und vielfältige Tätigkeit von Frauen- bzw. Lesbengruppen/-Initiativen, die in diesem Zeitraum (und teilweise) bis heute in Tübingen aktiv waren und sind, ist hier nur ansatzweise (bei der gemeinsamen Veranstaltung von Parties im Rahmen von Lesben und Schwule in Tübingen e.V - LuSchT e.V.) dokumentiert. Ebenso fehlen Dokumente zur örtlichen Gruppe der Ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche, die lange Jahre in Tübingen aktiv war, sowie zur AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen, die seit 1986 besteht. Zudem sind alle jüngeren "Gruppen", "Initiativen", "Treffpunkte" etc., die ab ca. 2003 in Tübingen bestanden bzw. noch bestehen, nicht mehr berücksichtigt.
INITIATIVGRUPPE HOMOSEXUALITÄT TÜBINGEN (IHT)
April 1973 ("Arbeitsgrundlage" vom 09. April 1973): Initiativgruppe Homosexualität Tübingen (IHT) gegründet. Obwohl die Selbstbezeichnung theoretisch Frauen mit einbezog, war die IHT von Beginn bis zur Auflösung eine Gruppe schwuler Männer, nur vereinzelt nahmen Frauen an Gruppenveranstaltungen teil. Als "Initiativgruppe" ordnet sich die IHT ganz bewusst den emanzipatorischen Aufbrüchen, die seit Ende der 1960er ausgehend von den USA auch die junge Schwulen- und Lesbenbewegung Westeuropas bestimmten, zu: Man verstand sich in diesem Sinne als "links", sah die Unterdrückung von Sexualität, zumal gleichgeschlechtlicher Sexualität, als Teil und Folge repressiver Strukturen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die aufgezeigt und aufgebrochen werden sollten. Ein Schwerpunkt dieser Aktivitäten, die man in Tübingen wie in anderen Gruppen mit dem Begriff "Kampf" umschrieb, bildete die Abschaffung des § 175. Die IHT ließ sich als offizielle studentische Gruppe registrieren, suchte aber letztlich nie eine engere Anbindung an die Universität und die Strukturen der Räte-Vollversammlung. Die ersten Treffen fanden in Räumen in der Mühlstraße statt, später nutzte die IHT Räume in der Rümelinstr. 8, am Schluss nutzte die IHT bis zu ihrer Auflösung die Räume der AIDS-Hilfe in der Herrenberger Str. 9. Leider sind aus 1970er- und den 1980er-Jahren bislang nur wenige Dokumente archivalisch gesichert. Lediglich die Ausstellung "Homosexuelle im Nationalsozialismus", die 1985 nach Tübingen übernommen wurde, und auf die ein rechtsradikaler Anschlag verübt wurde, ist ausführlich dokumentiert.
In dem Maße, wie die Akzeptanz für gleichgeschlechtliche Lebensweisen in der Gesellschaft zunahm, wobei die Abschaffung des § 175 ein Markstein war, trat die IHT mit größeren Veranstaltung verstärkt an die Öffentlichkeit:
ab Beginn der 1990er: Veranstaltung von BoyMeetsBoy-Discos, einer selbst organisierte Partyreihe, die bis 1997 regelmäßig an Freitagabenden im Club Voltaire stattfand.
1992 (?): Erstmals wurden in Zusammenarbeit mit der Frauen-Disco im Saal des Sudhaus eine aufwändige Motto-Party für Frauen und Männer veranstaltet. Diese Parties etablierten sich rasch, es gab bald drei bis fünf Termine im Jahr. Da sich die IHT offiziell nie als Verein registrieren ließ, schied sie für die Abwicklung und Abrechnung solcher großen Veranstaltung aus; die wichtigsten Akteure einigten sich auf die Gründung von LuSchT e.V. - siehe unten. IHT und LuSchT sind Geschichte, die LuSchT-Parties finden, nun veranstaltet von der AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen, nach wie vor statt (2023: aktuell im Schlachthof)
5. Juni 1993 CSD in Tübingen: Ein Höhepunkt der Aktivität dieser Jahre war der erste Tübinger CSD, der mit einem Demozug durch die Altstadt, einer großen Kundgebung auf dem Marktplatz und diversen Aktionen in der ganzen Stadt queeres Selbstbewusstsein zeigte und feierte. Neben der IHT trugen andere queere Gruppen zum Erfolg dieser Großveranstaltung bei: Dazu zählten verschiedene Frauen-Intitiativen, GayDay e.V., Homosexuelle und Kirche wie auch die AIDS-Hilfe. Neben den gemeinsamen, größeren Veranstaltungen, trafen sich die einzelnen Gruppen und Initiativen weiterhin zu ihren i.d.R. wöchentlichen Treffen; die IHT behielt zudem in kleinem Umfang ihr eigenes, gesellschaftspolitisches und kulturelles Engagement bei:
1994: Im Vorfeld der Bundestagswahl fand eine Podiumsdiskussion mit allen großen Parteien, die zur Wahl antraten, im Kupferbau statt.
1994: Vortrag von Bernd Thinius (Berlin): Schwules Leben in der DDR
1994: Lesung von Friedrich Kröhnke
Mit den rechtlichen Erfolgen (Abschaffung des § 175) und der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz, nicht zuletzt auch mit dem Aufkommen sozialer Netzwerke und Dating-Plattformen, verlor die IHT ab Mitte der 1990er an Bedeutung. Neue Mitglieder fanden nicht mehr den Weg zur Gruppe, das Interesse an den Gruppentreffen war stark rückläufig, auch der Internetauftritt der Tübinger Gruppen auf der deutschlandweiten Plattform stadt.gay-web.de konnte an dieser Entwicklung nichts ändern.
November 1998: Konsequenterweise löste sich daher die IHT auf.
LESBEN UND SCHWULE IN TÜBINGEN E.V. (LuSchT e.V.)
1991: Die Anmietung von Räumen eines ehemaligen Blumenladens in der Herrenberger Str. 9 erlaubte es erstmals, die Mehrzahl der Initiativen und Gruppen unter einem Dach zusammen zu fassen. Hier fanden fortan die wöchentlichen Treffen der IHT (immer donnerstags), der Homosexuellen und Kirche und der Coming-Out-Gruppen statt, hier installierte der Verein "Hilfe für Homosexuelle" sein Rosa Telefon (Freitagabends besetzt). Hauptmieter und -nutzer wurde aber (bis heute) die AIDS-Hilfe Tübingen. Für die neue Mietsitutation wie auch die Organisation und vor allem die finanzielle Abwicklung der rasch größer werdenden Veranstaltungen - insbesondere der Parties im Sudhaus - waren die bestehenden Strukturen nicht mehr angemessen:
1991: Gründung des Vereins Lesben und Schwule in Tübingen (LuSchT e.V.). Dieser eingetragene Verein fasste fortan die wichtigsten Tübinger Initiativen zusammen: AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen, IHT, Örtliche Gruppe Homosexuelle und Kirche, Hilfe für Homosexuelle e.V. (Rosa Telefon), auch kleinere Gruppen, die oft nur für kürzere Zeit bestanden (so z.B. die schwulen Redaktion Rosamunde im Freien Radio Tübingen und die Tanzgruppe Taktlos). Die Frauen-Disco arbeitete innerhalb von LuSchT e.V. nur an den Sudhaus-Parties mit. Und: Mit GayDay e.V. gab es bald parallel eine weitere Initiative für schwule Kultur, die ganz bewusst außerhalb von LuSchT. e.V. blieb.
Ab 1991: Die großen Motto-Parties im Sudhaus wurden unter der Bezeichnung "LuSchT-Parties" organisiert und beworben. Die Partyreihe findet unter diesem Namen aktuell (2023) immer noch statt, Veranstalter ist aber nun die AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen. Nachdem sich die IHT 1998 aufgelöst hatte, bot LuSchT für die nächsten fünf Jahre den Rahmen für politische und kulturelle Veranstaltungen der schwulen Szene - u.a.:
2001 und 2002: Beteiligung an Holocaust-Gedenkveranstaltung in Tübingen
2004: Unterstützungsveranstaltung für den Belgrad Pride
Als nach der IHT auch das Rosa Telefon seine Tätigkeit einstellte und das Café LuSchT (siehe unten) seinen Betrieb immer mehr reduzierte, verblieb im Wesentlichen nur noch die AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen als Nutzer der Räume in der Herrenberger Straße. Damit stellte sich konkret die Frage nach der Notwendigkeit von LuSchT e.V. als Dachverband.
2004: Auflösung von LuSchT e.V. Die als Nachfolgerin initiierte Gruppe gogay gewann nie an Bedeutung und erwies sich als Totgeburt.
CAFÉ LUSCHT
April 1991: In den ehemalige Verkaufsräumen des Blumenladens in der Herrenberger Str. 9 öffnet das Café LuSchT für Lesben und Schwule und Ihre Freund*innen seine Türen. Über 15 Jahre hinweg wurden, unterbrochen von Sommerpausen, Kaffee, Kuchen und Kaltgetränke angeboten. Organisiert und betrieben wurde das Café von einem wechselnden Team, das neben Mitgliedern der IHT, der Gruppe Homosexuelle und Kirche und des Vereins Hilfe für Homosexuelle auch Mitarbeiter umfasste, die u.a in der Reutlinger Schwulengruppe SchwubeRT aktiv waren. Da vor allem im Sommer wenig Besucher kamen, dehnte das Team zunächst die Sommerpausen aus; mit Autorenlesungen und (in der letzten Phase des Bestehens) der Vorführung queerer Speilfilme bemühte sich das Café-Team um zusätzliche Attraktivität.
2007/2008 (?): Da es immer schwieriger wurde, Ehrenamtliche für den Café-Betrieb zu finden, wurde das Café geschlossen.
AIDSHILFE TÜBINGEN-REUTLINGEN (AH TÜ-RT)
1986: Mit Beginn der AIDS-Pandemie fand sich auch in Tübingen ein engagierter Kreis, der sich mit weiteren Aktiven aus Reutlingen zur Gründung der AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen zusammenschloss. Archivalien der AIDS-Hilfe finden sich in diesem Bestand allerdings keine. 2023: Während die genannten Gruppen nicht mehr bestehen, ist die AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen aktuell noch aktiv.
SCHWULE AKTION SÜDWEST (SAS)
Ende der 1970er: In den einzelnen lokalen Schwulengruppen im Südwesten wuchs der Wunsch, sich überörtlich zu organisieren - schließlich wurde die Schwule Aktion Südwest (SAS) eingerichtet. Es kam in den nächsten Jahren zu regelmäßigen Treffen und Einrichtung von verschiedenen Arbeitskreisen, die den Kontakt zu Ministerien und Behörden suchten; auch Mitglieder der IHT arbeiteten viele Jahre in der SAS mit. Um queeres Leben auch in der Provinz präsent zu machen, rief die SAS den CSD-Südwest ins Leben: Jedes Jahr sollte fortan ein CSD-Südwest in einer anderen baden-württembergischen Stadt stattfinden. Abgesehen von diesen einzelnen Erfolgen, wurde die SAS, die zunehmend von Akteuren der Initiativgruppe Homosexualität Stuttgart dominiert wurde, nie zum verbindenden Netzwerk für das queere Leben in Baden-Württemberg.
2023: Nominell besteht die SAS noch.
Holger Starzmann, 2023
- Reference number of holding
-
E 427
- Extent
-
9,5 lfd. m
- Context
-
Stadtarchiv Tübingen (Archivtektonik) >> E: Fremdprovenienzen
- Indexbegriff subject
-
AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen
Hilfe für Homosexuelle e.V. (Rosa Telefon)
Lesben und Schwule in Tübingen (LuSchT) e.V.
- Date of creation of holding
-
1973-2022
- Other object pages
- Provenance
-
Osdoba, MichaelStarzmann, Holger
- Online-Beständeübersicht im Angebot des Archivs
- Last update
-
29.04.2025, 8:21 AM CEST
Data provider
Stadtarchiv Tübingen. If you have any questions about the object, please contact the data provider.
Object type
- Bestand
Time of origin
- 1973-2022