„Wir leben mit und sind umgeben von Kulturerbe“: Ein Interview mit Dr. Uwe Koch

„Wir leben mit und sind umgeben von Kulturerbe“: Ein Interview mit Dr. Uwe Koch

11.06.2018

Die Europäische Kommission hat das Jahr 2018 als Themenjahr zum Europäischen Kulturerbe ausgerufen. Die Initiative hierfür stammt vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz (DNK), welches als Ausgangspunkt den Blick auf das erste europäische Denkmaljahr im Jahr 1975 gerichtet hat und auf die Frage: Was hat sich seitdem verändert?
 
Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz (DNK) existiert schon viele Jahrzehnte – gegründet wurde es im Zusammenhang mit dem ersten europäischen Denkmaljahr in den Siebzigern und ist die einzige Plattform, auf der alle Akteure in Deutschland zum Thema Denkmalpflege zusammenkommen – von den Bundesministerien, dem BKM und Auswärtigem Amt bis hin zu zivilgesellschaftlichen Organisationen und Fachinstitutionen.
 
In seiner Rolle als nationaler Koordinator für das Kulturerbejahr in Deutschland haben wir im Vorfeld des DDBforums, die erste Netzwerkveranstaltung der Deutschen Digitalen Bibliothek, mit dem Leiter der Geschäftsstelle Dr. Uwe Koch des DNK gesprochen, der vorher über zwanzig Jahre im Kultur- und Wissenschaftsministerium in Potsdam für Themen des Kulturerbes Referatsleiter war. Wir möchten von ihm wissen, was Kulturerbe für ihn bedeutet, welches Potenzial Kultur in der heutigen Zeit für Europa hat und welche Herausforderungen für Gedächtnisinstitutionen entstehen, bei der gemeinsamen Aufgabe dieses Kulturerbe einem breiten Publikum zu vermitteln.

Dr. Uwe Koch at the DDBforum, Berlin 2018, Deutsche Digitale Bibliothek, Photo: Hans-Georg Schöner (CC BY 4.0 International)
Dr. Uwe Koch at the DDBforum, Berlin 2018, Deutsche Digitale Bibliothek, Photo: Hans-Georg Schöner (CC BY 4.0 International)

Lieber Herr Koch, Sie sind sowohl Ideengeber und Gestalter als auch nationaler Koordinator für das Europäische Kulturerbejahr. Es gibt unglaublich viele Veranstaltungen und es beteiligen sich unglaublich viele staatliche Institutionen, private Initiativen und sogar kleine Vereine an Sharing Heritage. Der Kultur wird oft eine verbindende, ja heilende Wirkung zugesprochen – was glauben Sie, wie groß das Potenzial von Kultur in der heutigen Zeit für Europa ist?
 
Ich bin davon überzeugt, dass Kultur und Kulturerbe bedeutsamer für unsere Zeit sind als es vielleicht gemeinhin kommuniziert und wahrgenommen wird. In Zeiten großer Veränderungen und Dynamik, in denen wir uns befinden, werden wir alle herausgefordert, immer wieder eine Verortung zu finden und unser Selbstverständnis zu definieren: wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Das kann man sehr stark über die kulturellen Dimensionen verhandeln.
 
Gleichzeitig spielt das kulturelle Erbe – das wird vielleicht zu wenig wahrgenommen – in unserem Alltagsleben eine große Rolle. Wir definieren das nicht jeden Tag für uns, aber wir werden umgeben von Kulturerbe, wir leben mit Kulturerbe: Alle unsere Werte und unser Handeln sind bestimmt durch das, was uns überliefert worden ist. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns dessen stärker bewusst werden, dass das Kulturerbe und kultureller Reichtum aus der Vergangenheit nicht nur Gegenstand von Rückbetrachtung ist, sondern dass es um eine Verortung im Heute geht. Es ist wichtig, dass es Teil unseres Lebens ist und deshalb wertgeschätzt wird – und wenn man etwas wertschätzt, dann will man es auch weitergeben, dann will man es auch vererben.
 
Mit dem Europäischen Kulturerbejahr versuchen wir, auch die jüngere Generationen und die Breite der Gesellschaft anzusprechen und das Teilhaben und Miteinanderteilen als etwas uns Antreibendes und Zukunftsweisendes zu verstehen.
 
Kultur entäußert sich in allen Gegenständen und Handlungen. Nun geht es im Kulturerbejahr darum, das Gemeinsame zu teilen. Wir teilen in Europa Flüsse, Berge, Waren und Sprachen. Aber was ist Ihrer Meinung nach das Gemeinsame und Verbindende am europäischen Erbe?
 
Die kulturelle Vielfalt ist für mich das Wesentliche, das Europa auszeichnet und unseren Reichtum darstellt.
 
Das war in früheren Zeiten anders, zum Beispiel im 19. Jahrhundert. Wenn wir an Denkmalsetzungen denken - da ist das Kulturerbe zur Identitätsbildung genutzt worden. Ich finde das am Beispiel des Kölner Doms so interessant: Da gibt es einen auf römischen Grundmauern über das Mittelalter gewachsenen, fantastischen Kirchenbau, der nicht fertig geworden ist und die Identität der Region schon immer bestimmte. Im 19. Jahrhundert fängt man in einer Riesenwelle der Aktivität und des Aufschwungs plötzlich an, diesen Kirchenbau fertigzustellen. Die Preußen und das Kaiserreich machen dies zu einer großen nationalen Aufgabe und nutzen die Gotik als einen über Jahrhunderte entwickelten europäischen Baustil. Das ist damals in Abgrenzung zu Frankreich passiert und aus Sicht der historischen Genese geradezu abstrus. Aber daran sieht man die Inanspruchnahme der Kultur und des Kulturerbes für eine nationale staatliche Entwicklung. Insofern ist das 19. Jahrhundert auch ein Europa der Grenzsetzung, um das Eigene zu betonen und sich vom Nachbarn abzugrenzen.
 
Aber jetzt sind wir in einer Zeit, in der es nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist, in der kulturellen Vielfalt Europas verbindende Dinge zu entdecken.
 
Für die Zukunft gibt es wichtige Aufgaben, dies stärker regional fassbar zu machen, also ein Narrativ dafür zu finden, dass das Verbindende die Permanenz des Austauschs und die Bewegung über Grenzen ist.
 
Entdecken und Verantwortung, Kultur und Kulturerbe. Unser kulturelles Erbe wird von vielen Menschen weitergetragen und verändert. Gedächtnisinstitutionen, wie Museen, Bibliotheken und Archive, haben in der Regel die Aufgabe, das Kulturerbe zu bewahren, zu schützen, zu erforschen, zu vermitteln. Haben diese Institutionen einen spezifischen Auftrag – also über das, was wir alle tun, hinaus – wenn es um das Kulturerbe teilen geht?
 
Alle Kulturerbeeinrichtungen, ob das nun Archive, Bibliotheken, Denkmaleigentümer, Denkmalämter oder Museen sind, tun das täglich. Aber das Vermitteln ist ein Aufgabenbereich, den man unterschiedlich weit definieren kann. Man öffnet das Haus im klassischen Sinne, indem man Ausstellungen zeigt oder am Tag des offenen Denkmals die Pforten öffnet – aber manche Dinge erschließen sich nicht durch die Betrachtung eines einzelnen Ortes.
 
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen: In Münster und Osnabrück werden wunderbar die Stätten des „Westfälischen Friedens“ gezeigt. Es sind Orte, sich mit dem Thema „Europa, Frieden“, und konkret mit dem „Westfälischen Frieden“, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, zu befassen.

 Aber ist das an einem Ort hinreichend verständlich? Entsteht nicht auch eine weitere Sicht auf geschichtshistorische Dimensionen, wenn ich diesen Ort verknüpfe mit beispielsweise dem Ort, den man gemeinhin als Ausgangspunkt des Dreißigjährigen Krieges, nämlich die Prager Burg mit dem Prager Fenstersturz, verknüpft?
 
Ich glaube, wir würden uns für einen erfolgreichen Vermittlungsansatz einen Gefallen tun, wenn wir stärker im Geschichte erzählen würden, indem wir Erzählräume und Erzählorte erschaffen, die nur durch eine Verknüpfung von verschiedenen Bereichen des Kulturerbes möglich werden.
 
Zum Beispiel bei dem Thema „Dreißigjähriger Krieg“ nicht nur den historischen Ort des Baudenkmals zu vergegenwärtigen, sondern auch das literarische Schaffen zum Beispiel des Andreas Gryphius, der in den „Tränen des Vaterlandes“ 1636 in sehr anschaulicher Weise beschrieben hat, was der „Dreißigjährige Krieg“ für ein fürchterliches Ereignis war.
 
Außerdem gibt es natürlich die Musik und weitere Bereiche des Kulturerbes, die uns Orte besser verständlich machen. Denn das ist in Zukunft die große Anforderung: Dinge stärker zu verschränken.
Das ist gerade im Hinblick auf die Fragestellung, die Sie vorhin formuliert haben, nämlich was das Verbindende ist, ja geradezu notwendig.
 
Es ist heute die große Herausforderung, andere Formen der Vermittlung im kooperativen Sinne multiperspektivisch zu finden. Dazu ist es wichtig, dass alle Kulturerbeakteure die Zeugnisse des kulturellen Reichtums bewahren – das ist die Kernaufgabe – , aber was die Vermittlung anbetrifft, glaube ich, gibt es neue Aufgabenstellungen.
 
Sie haben es gerade aufgezeigt: Es geht um die Erzählung über uns und über die zu verhandelnden Themen ‚wer wir sind‘, ‚wer die Nachbarn sind‘, ‚was das Fremde, was das Eigene ist‘. In der Tat scheint es so zu sein, dass sich Kulturinstitutionen dieser Vermittlungsaufgabe neu stellen. Sie haben längst begonnen, ihre Bestände zu digitalisieren und zur Verfügung zu stellen oder digitale Medien für die Vermittlung zu nutzen. Wie sehen Sie das? Welche Bedeutung hat das Digitale für Gedächtnisinstitutionen heutzutage?
 
Ich glaube, die digitalen Möglichkeiten sind sowohl wertvoll als auch unerschöpflich. Sie bieten uns neue Möglichkeiten, aber auch neue Risiken.
 
Ich erschrecke manchmal, wenn ich Menschen im Alltag beobachte, die ihre Aufmerksamkeit so stark auf die heutigen medialen Möglichkeiten konzentrieren, dass sie ihre Umwelt gar nicht mehr hinreichend wahrnehmen. Andererseits gibt es wahnsinnig viele interessante Möglichkeiten, die Vielfalt des kulturellen Erbes durch digitale Medien anzueignen und durch das Digitale Orte und Geschichten miteinander zu verknüpfen. Das finde ich fantastisch.
 
Wir müssen aber gleichzeitig bedenken, dass es auch einen Weg des Lernens geben muss, damit angemessen umzugehen. Und es ist ein großes Maß an Verantwortung, diese positiven Möglichkeiten richtig zu nutzen, damit  Missbrauch vermieden wird und ein Lernprozess gerade bei den Jugendlichen einsetzt, der den Reichtum des Kulturerbes auch über die digitale Welt hinaus erschließt.

Das Digitale ersetzt nicht das, was wir an Kulturerbe haben, sondern es hilft uns, Dinge zu erklären und zu erkennen. Es muss zur Erklärung und zum Authentischen hinführen. Der Zeugniswert, den kann man immer nur am Original festmachen.
 
Sie haben gerade auf die vielfältigen Möglichkeiten von digitalen Medien für Kulturinstitutionen und gleichzeitig auf die Herausforderungen hingewiesen, den reflektierten Umgang damit einzuüben. Die Deutsche Digitale Bibliothek veranstaltet seit einigen Jahren den Kultur-Hackathon „Coding da Vinci“. Das tun wir mit einigen Projektpartnern zusammen, um die – jedenfalls teilweise so empfundenen – verschiedenen Bereiche von Technik, Digitalem und Kultur einander anzunähern und wir wünschen uns natürlich, dass dabei neue Anwendungen entstehen, Apps fürs Smartphones oder Virtual-Reality-Anwendungen für  Museen und ähnliches. Kulturinstitutionen stellen dafür offene Daten zur Verfügung, damit TechnikerInnen, DesignerInnen und ProgrammiererInnen damit arbeiten und Neues entwickeln können. Welche Chancen bieten offene Kulturdaten aus Ihrer Sicht?
 
Ich kann nur darüber sprechen, was wir selbst dazu versuchen. Wir haben den Kultur-Hackathon dieses Jahr erstmalig mitgestaltet und wir sammeln damit Erfahrung. Der Dialog zwischen den Akteuren der digitalen Welt und den Kulturerbeakteuren zeigt schnell, dass es sehr viele Schnittmengen gibt. Wir haben sehr positive Erfahrungen gesammelt, werden den Weg weiter beschreiten und können nur empfehlen, die Möglichkeiten miteinander zu entwickeln. Ein virtueller Zugang zu einem historischen Ort, zu einer Stadt, der wird dann spannend, wenn ich ihn mit den hinreichenden Basisdaten, mit den Verknüpfungen speise.
 
Die Deutsche Digitale Bibliothek hat das Ziel, das gesamte digitale Kulturerbe Deutschlands auf einem Portal, auf einer Internetseite zentral zugänglich zu machen, von jedem Ort der Welt aus, zu jeder Stunde. Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach dieses Projekt für die Vermittlung und das Teilen des kulturellen Erbes?
 
Ich möchte meine eigene Erfahrung dazu beisteuern: Ich habe mich vor einigen Jahren mit einem ambitionierten Ausstellungsprojekt beschäftigt, das war 2002. Es ging um den humanistischen Universalgelehrten, Kaspar Peucer, Schwiegersohn Philipp Melanchthons. Er hat unheimlich viel publiziert und über ihn ist eine Menge geschrieben worden. Als ich damals dieses Projekt initiiert, umgesetzt und kuratiert habe, musste ich lange suchen und von Bibliothek zu Archiv, von Archiv zu Bibliothek gehen. Da war das digital zugängliche Material sehr überschaubar. Wenn ich heute in die Deutsche Digitale Bibliothek unter dem Stichwort „Kaspar Peucer“ schaue, habe ich auf einen Schlag unwahrscheinlich viele seiner Publikationen. Das zeigt ja schon, welch eine Möglichkeit der Teilhabe das bietet! Der Zugriff ist viel schneller möglich und die Quellen erschließen sich schneller. Das ist für das Teilhaben eine ganz entscheidende Voraussetzung.
 
Natürlich ist es auch reizvoll, in Bibliotheken zu gehen und selber danach zu suchen. Aber im Hinblick auf die Anforderungen, Dinge möglichst schnell erreichen und verknüpfen zu können ist die Deutsche Digitale Bibliothek ein unwahrscheinlicher Fortschritt. Es ist also eine fantastische Entwicklung seitdem und insofern kann ich diesen Ansatz nur unterstützen.
 
Ich finde, der „Sharing Heritage-Ansatz“ – das ist zwar das Motto für ein Jahr, aber im Grunde genommen ist es eine Aufgabenstellung für vielleicht ein nächstes Jahrzehnt. Insofern finde ich es ganz fantastisch, dass die Deutsche Digitale Bibliothek eine „Sharing Heritage-Institution“ ist und ich bin ein Nutzer, der glücklich ist, dass es sie gibt.
 
Lieber Herr Dr. Koch, haben Sie ganz herzlichen Dank für dieses sehr erhellende Interview. Vielen Dank!
 
Die Fragen stellte Astrid B. Müller (Kommunikation, Presse, Marketing Deutsche Digitale Bibliothek).

Dr. Uwe Koch hat beim DDBforum die Abschluss-Keynote über „Kulturerbe teilen – Aufgaben und Herausforderungen für Gedächtnisinstitutionen“ gehalten. Die erste Netzwerkveranstaltung fand im Rahmen des Kulturerbejahres 2018 – Sharing Heritage statt.

 

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