Mobile Bibliotheken: Von der Feldbücherei zum Bücherbus

01.11.2017 Wiebke Hauschildt (Online-Redaktion)

„Etwa 100.000 Euro kostet der Bücherbus heute die Stadt Duisburg im Jahr. Er fährt dienstags bis freitags 34 Haltestellen an, alle in der Nähe von Schulen. Rund 35.000 Bücher wurden voriges Jahr ausgeliehen. Aber wie viele Horizonte erweitert wurden und wie viel Lust auf Neues damit geweckt wurde, davon kann keine Statistik erzählen,“ schreibt die Journalistin Hatice Akyün in ihrem Beitrag „Der Bus, mit dem ich die Welt entdeckte“ im Zeit Magazin im Juli 2016. Sie erzählt eindringlich, wie sie mit neun Jahren das erste Mal den Bus in Duisburg Marxloh entdeckte und betrat, wie sie für ihren Leseausweis die Unterschrift ihres Vaters fälschte und wie sie viele Jahre später Erhard Schulte kennenlernte: der Beamte, der damals im Bonner Bildungsministerium saß und den Bus initiiert hatte.

Im Mai dieses Jahres ist Akyün für ihren Beitrag mit dem Publizistenpreis der Deutschen Bibliotheken ausgezeichnet worden. Sie „habe gezeigt, wie der Bücherbus und Bibliotheken das Leben von vielen Menschen verändern“, begründet die Jury ihre Entscheidung.

Wie wichtig Bücher und Lesen sind und welche Bedeutung daraus für mobile Bibliotheken erwächst, zeigt nicht nur das Beispiel des Duisburger Bücherbusses. Schon in Kriegszeiten wurde Soldaten der Zugang zu Büchern ermöglicht mit sogenannten „Feldbüchereien“ – die unmotorisierten Vorgänger des Busses.

Bildungskanonen, Reclam und die „Mobilmachung der Bücher“

Die Idee zur mobilen Bibliothek entstand bereits im 18. Jahrhundert, als die Feldbüchereien noch einen elitären Ansatz verfolgten und nur Offizieren offenstanden. Im deutsch-französischen Krieg 1870/71 stellte man dann „Mannschaftsbüchereien“ für alle Soldaten zur Verfügung. Letztlich ordnete Kaiser Wilhelm II. 1893 an, Gelder bereitzuhalten für den Aufbau und Unterhalt solcher Bibliotheken in den Kasernen. Sein Ziel war allerdings, „das Lektüreangebot durch die Obrigkeit zu steuern“.

Im Jahr 1916, zwei Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, ruft das Zentralkomitee vom Roten Kreuz zu Bücherspenden auf: „Der Daheimgebliebenen Pflicht ist es, dazu beizutragen, dass der Geist unserer Truppe in langer, ermüdender Kriegsarbeit frisch bleibe. Bücher sind Freunde und bedeuten für unser Heer und unsere Flotte geistige Mast.“ Dem Spendenaufruf folgend werden im folgenden Jahr fast zehn Millionen Bücher gesammelt. Fahrbare Kriegsbüchereien, ausgestattet mit acht aufklappbaren Kisten und insgesamt 1.000 Büchern, machen sich auf den Weg an die Front. Schnell erfolgt eine Umbenennung: Analog zu den Gulaschkanonen sprechen die Soldaten nun von „Bildungskanonen“. Das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels hingegen spricht von einer „Mobilmachung der Bücher“.

In den Feldbüchereien – auch „Schützengraben-Büchereien“ genannt, denn der Stellungskrieg war viele Nächte lang ereignislos – fanden Unterhaltungsautoren wie Kurt Aram oder Walter Bloem großen Anklang ebenso wie „Lamms jüdische Feldbücherei“ für deutsche Soldaten jüdischen Glaubens. Der Reclam-Verlag stellte entlang der Front seine „Buchautomaten“ auf, die er schon 1912 in Erfurt eingeführt hatte. Auf einem Werbeplakat für diese Automaten spricht der Verlag euphemistisch von „Lesestoff zur Verkürzung der unfreiwilligen Wartezeit“. Über 2.000 dieser Automaten fand man in Bahnhöfen, auf Schiffen und in Krankenhäusern und Kasernen. Erst in den frühen 1930ern baute Reclam diesen Service wieder ab, da die Unterhaltungskosten zu hoch waren.

Die Oberste Heeresleitung war begeistert: Mit Büchern versorgte Soldaten galten als motivierter und neigten seltener zu Desertation oder Revolte. Wie „Cicero“ ketzerisch schreibt: Der Kampf fand statt, aber in den Lesepausen.

Der Bus von Herrn Sandmann

Der Dresdner Bibliothekar Wilhelm Sandmann überführte dann diese mobilen Bibliotheken von Kriegs- in Friedenszeiten und nahm 1929 den ersten Bibliotheksbus in Betrieb.

Wilhelm Sandmann (1879-1944) war Oberstadtbibliothekar. Schon während des Ersten Weltkrieges hatte er als Soldat eine fahrbare Feldbücherei für die Truppen betreut und übertrug dieses System zehn Jahre nach Kriegsende „auf das städtische Bibliothekswesen, um auf kostengünstige Weise eine engmaschige Buchausleihe für die Dresdner zu erreichen“, vermerkt das Onlineprojekt „Sächsische Biografie“. Die vielen Eingemeindungen nach dem Ersten Weltkrieg in Dresden bedeuteten, dass für die vielerorts mangelhaft ausgestatteten Vorortbibliotheken viel Geld aufgewendet hätte werden müssen. Der damalige Direktor der Städtischen Bücherei und Lesehalle, Alfred Löckle, schlug deshalb statt der Standortbüchereien eine zentrale Fahrbücherei vor.

Wilhelm Sandmann beschäftigte sich ab 1927 mit den ersten Entwürfen zu einer solchen Fahrbücherei. Der Bus, der ihm vorschwebte, wurde von der Sächsischen Waggon-Fabrik Werdau nach seinen Vorgaben gebaut und nahm nachfolgend den Dienst auf. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete allerdings seine Karriere, da Sandmann seine Bibliotheksinhalte nicht konform zur NS-Ideologie gestaltete – im März 1933 wurde er mit einer Eingabe des Polizeipräsidiums Dresden konfrontiert, nach der er nach wie vor Werke von Lenin und Marx in seinen Büchereibeständen vorhalte. Im April wurde Wilhelm Sandmann in den vorzeitigen Ruhestand versetzt und trat Ende des Jahres aus dem Verband Deutscher Volksbibliothekare aus.

Die Bücherbusse wurden nachfolgend in vielen Städten und Landkreisen Deutschlands eingeführt und wer weiß, wie viele Menschen sich Hatice Akyün anschließen würden, die schreibt: „Ohne den ersten Bücherbus hätte mein Leben vielleicht eine andere Richtung genommen“.

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