Historische Speisekarten oder Die kuriose Geschichte der Frank E. Buttolph

30.05.2016 Wiebke Hauschildt (Online-Redaktion)

Im August des Jahres 1900 finden Leser des amerikanischen Magazins “Hotel Monthly” diese Werbeanzeige vor: “Es ist von größter Wichtigkeit, dass die Karten gut verpackt und zwischen zwei große Pappen gelegt werden, ansonsten werden sie auf dem Postweg verschmutzt und ruiniert, was sie wertlos macht. Das Schöne an dieser Sammlung ist, dass fast alle der 3.600 Speisekarten in perfektem Zustand sind, aber ich musste härter als General Otis auf den Philippinen kämpfen, damit mein Standard eingehalten wird. Sollte er niedriger werden, lege ich die Arbeit nieder.“

Hinter der Dramatik dieser Anzeige verbirgt sich die Sammlerin Frank E. Buttolph (1850 – 1924). Viel ist nicht über sie bekannt: Im Jahr 1899 spendet sie der New York Public Library ihre Speisekartensammlung – und macht das Angebot weiterhin für die Bibliothek zu sammeln. Bis zu ihrem Tod 1924 geht Frank E. Buttolph dieser Tätigkeit nach: Sie schreibt sämtliche Restaurants an, die sie kennt, und bittet um die Zusendung eines Exemplars. Sie schaltet Werbung in Fachpublikationen wie „The Caterer“ und „The Hotel Gazette“ und erhält daraufhin Speisekarten aus aller Welt. Am Ende ihres Lebens wird sie über 25.000 Speisekarten gesammelt haben, die heute von der New York Public Library gemeinfrei zur Verfügung gestellt werden. Ihre Leidenschaft und ihre vielleicht nicht ganz einfache Persönlichkeit rufen unterschiedliche Reaktionen hervor: Die Mitarbeiter der New York Public Library reichen reihenweise Beschwerden über sie ein mit der Konsequenz, dass sie schließlich, ein Jahr vor ihrem Tod, 1923 Hausverbot erhält; die New York Times widmet ihr aber sogar drei Artikel zwischen 1904 und 1907.  

Ihre Mission hatte Miss Buttolph klar vor Augen: „For many years my library work has been the only thing I had to live for. It was my heart, my soul, my life. Always before me was the vision of students of history, who would say 'thank you' to my name and memory...." (aus einem ihrer letzten Briefe an die Verwaltung der New York Public Library).

Von arbeitslosen Köchen zur ersten Speisekarte in Europa

Seit wann es genau Speisekarten gibt – im Sinne einer schriftlichen Liste angebotener Speisen – ist umstritten. Eine frühe Form soll es bereits im China der Song-Dynastie (zwischen 970 und 1279 n. Chr.) gegeben haben. In bevölkerungsreichen Städten bereiteten Händler am Abend Speisen für ihre vielbeschäftigten Kunden zu, die keine Zeit zum Kochen hatten. Die Unterschiede bei der Essenszubereitung in den chinesischen Regionen führten dann dazu, dass die Köche Speiselisten für ihre Gäste erstellten.

Die Speisekarte in Europa entstand erst im 18. Jahrhundert, wofür besonders eine Entwicklung maßgeblich war: Die Etablierung öffentlicher Restaurants um 1770 in Paris als Resultat der französischen Revolution. Nach dem Ende des höfischen Lebens und der ausschweifenden Lebensweise des französischen Adels fanden sich auf den Straßen Paris‘ diejenigen wieder, die für den Adel gearbeitet hatten, darunter viele Köche. Sie eröffneten die ersten Speiselokale, die jedem zugänglich waren, sofern er bezahlen konnte.

Das Angebot dieser frühen Restaurants soll so groß gewesen sein, dass es notwendig wurde, die unterschiedlichen Gerichte und Getränke aufzuschreiben. Geboren war neben dem öffentlichen Restaurant auch die Speisekarte. Doch wollten nicht nur die Pariser auswärts essen – das Konzept Restaurant inklusive Speisekarte verbreitete sich schnell in ganz Europa und darüber hinaus.

Die Speisekarte im Dienst der Wissenschaft!

Die Relevanz von historischen Speisekarten für die Ozeanographie ist auf den ersten Blick nicht offensichtlich. Jedoch hat der amerikanische Wissenschaftler Glenn Jones bei seinen Forschungen zu historischen Fischbeständen und deren Entwicklung durch Zufall einen Menüzettel aus den fünfziger Jahren in die Hände bekommen und seinen Fund richtig eingeordnet: Als verlässliche Daten zum Fischkonsum. Was wurde verzehrt? Wo und wann wurde es verzehrt? Wie viel hat es gekostet? Diese Erkenntnisse gewann Jones aus alten Speisekarten und konnte so nicht nur historische Fischbestände bestimmen, sondern auch, warum bestimmte Arten heute so selten (und damit teuer) geworden sind.

Das Paradebeispiel: Der Hummer. Mitte des 19. Jahrhunderts galt er noch als Arme-Leute-Essen, ein Jahrhundert später war er teure Delikatesse. Je beliebter der Hummer wurde, umso mehr wurde er gefischt. Die Bestände schrumpften, das Hummerfischen wurde aufwendiger und die Preise stiegen. Heute dürfen Hummer nur noch ab einer bestimmten Größe verkauft werden und kleinere Tiere müssen wieder zurück ins Meer. Das schränkt das Angebot weiter ein und lässt den Preis ebenfalls steigen.

Die Damenkarte, das Secret Menu und der Speisekarteneffekt

Eine Speisekarte, die heute kaum noch bekannt und selten in Verwendung ist, ist die sogenannte „Damenkarte“. Noch vor rund achtzig Jahren war es gang und gäbe, weiblichen Restaurantgästen mit männlicher Begleitung die „Damenkarte“ ungefragt zu überreichen. Das Besondere dieser Karte: Sie enthält keine Preise. Dies sollte der Frau die Möglichkeit geben, ihre Wahl zu fällen ohne sich von den Preisen beeinflussen zu lassen. Selbstredend davon ausgehend, dass die Frau weder Herr noch Entscheider über die Finanzmittel war. Heute wird diese Karte noch in gehobenen Restaurants verwendet – beliebt ist sie auch bei Geschäftsessen, bei denen der Gastgeber zahlt. In diesem Fall erhalten jedoch auch die männlichen Gäste die „Damenkarte“.

Ein weiteres Phänomen des Bereichs Speisekarte ist das „Secret Menu“ – die geheime Speisekarte. Sie existiert zumeist nicht schriftlich, sondern verbreitet sich durch Mundpropaganda. Diverse amerikanische Fast Food Restaurants verfügen über die Geheimspeisekarte, durch die – wenn der Gast die Namen kennt – die meist reduzierte Speisekarte um diverse Optionen erweitert wird.

Und dann gibt es noch den „Speisekarteneffekt“ – ein Begriff aus der Wirtschaft, der den Kostenanstieg in der Gastronomie beschreibt. Dabei werden allerdings alle auftretenden Kosten berücksichtigt: Nicht nur Speise- oder Materialkosten, sondern auch Anpassungskosten (für den Neudruck von Speisekarten z.B., Verwaltung und anderes), so dass der Gast mehr als die „reine“ Preissteigerung bezahlt.

In Zeiten der Inflation, wie zum Beispiel während der Weltwirtschaftskrise 1929, war der Preisanstieg so extrem, dass es sich nicht mehr lohnte, Speisekarten zu drucken: Stattdessen stellte sich alle halbe Stunde ein Kellner auf einen Tisch, um die Preiserhöhungen bekannt zu geben.

Diese Entwicklung erlebte Frank E. Buttolph nicht mehr – sie wäre darüber wahrscheinlich nicht amüsiert gewesen.

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