Willi Flemmings Aufsatz zur Bildungsreform (Seite 2). Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b Bü 576.

Aus dem Archivportal: "Im Blickpunkt - Bildungsreform"

04.08.2021

Von Sophia Schorr und Daniel Lieb (Eberhard Karls Universität Tübingen)

In der Rubrik „Im Blickpunkt“ präsentieren wir besondere Highlights aus Archiven, die im Archivportal-D vertreten sind. Diese ausgewählten Archivalien geben Einblick in die Bestände und bieten Rechercheanregungen für eine mögliche Suche im Archivportal-D oder im Themenportal „Weimarer Republik“. Wir freuen uns, in diesem Monat einen wissenschaftlichen Beitrag von Sophia Schorr und Daniel Lieb von der Eberhard Karls Universität Tübingen mit Quellen aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg präsentieren zu können.

Als 79. Ausgabe der Zeitschrift "Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik" erschien im Jahr 1919 Willi Flemmings (1888-1980) Aufsatz „Richtlinien zur Schulreform“. 

Willi Flemmings Aufsatz zur Bildungsreform (Seite 2). Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b Bü 576.
<em>"Denn jeder soll dem Grundziel auf seine Art dienen, hat demnach gleiche Beachtung von den anderen zu verlangen, damit auch gleichen Anspruch auf die Bildungsmöglichkeiten" - so heißt es in Willi Flemmings Aufsatz zur Bildungsreform (Seite 2). Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b Bü 576.</em>

Willi Flemming war Literaturwissenschaftler und Germanist. Während des Ersten Weltkrieges leistete er freiwilligen Kriegsdienst, wobei er nach einem Monat aufgrund eines psychischen Zusammenbruchs freigestellt wurde und eine Stelle als Oberlehrer antrat. Im Jahr 1919 wurde er an der Universität Rostock als Kunst- und Literaturwissenschaftler habilitiert. Infolge der Novemberrevolution suchte Flemming die Nähe zu den sozialistisch orientierten Arbeiter- und Soldatenräten, welche auch den “Werbedienst” herausgaben. Ziel der Zeitschrift war die Propagierung sozialistischer und sozialdemokratischer Reformen für die junge Weimarer Republik. 

Georg Flatow, Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b Bü 573.
<em>Ein weiterer Aufsatz aus dem "Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik" stammt von Georg Flatow: "Die sozialpolitischen Errungenschaften der Revolution" Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b Bü 573.</em>

In seinem Aufsatz zur Schulreform verdeutlichte Flemming seine sozialkritische Haltung gegenüber der sozialen Ungleichheit der späten Kaiserzeit. Um dieser entgegenzuwirken, schlug er einige grundlegende Reformen des Bildungswesens vor. Bildung, so Flemming, sollte für alle Menschen kostenfrei zugänglich sein. Außerdem sollten insbesondere Schüler*innen aus den unteren sozialen Schichten der Gesellschaft mehr staatliche Unterstützung erhalten und die individuelle Leistung über die ständischen Privilegien gestellt werden. Der Unterricht sei fächerübergreifend zu gestalten, wofür in erster Linie eine mitreißende Lehrperson zuständig sein sollte: die Lehrenden müssten einen Führer-Charakter aufweisen und so die Persönlichkeiten der Schüler*innen formen, um am Ende der Schullaufbahn mündige Menschen hervorzubringen. Solche Führer-Organisationen wurden schließlich im Nationalsozialismus zum faschistischen Leitbild. Jedoch waren diese auch in breiten Schichten der Sozialist*innen und Marxist*innen jener Zeit beliebt, die sie als notwendiges Mittel für die Bildung der Massen ansahen.

Mit der Etablierung einer gleichen Bildung für alle sollte gleichzeitig die rigide Arbeitsteilung und mit ihr die Spaltung der Gesellschaft in Klassen überwunden werden. Zentral war für Flemming in diesem Zusammenhang die Einbeziehung von Arbeitenden in den Unterricht: Dadurch sollte Bildung lebensnah gestaltet und der Abschottung der Lehrenden als Kaste entgegengewirkt werden, gleichzeitig verfolgte Flemming damit ein sozialistisches Ideal: die Überwindung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit.

Theodor Thomas, "Was bringt die sozialistische Republik dem Handwerker ?", Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik, Nr. 61. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b Bü 567.
Theodor Thomas, "Was bringt die sozialistische Republik dem Handwerker ?", Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik, Nr. 61. Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 135 b Bü 567.

Damit steht Flemmings Text in einer Reihe weiterer Artikulationen aus dem Umfeld der Arbeiter- und Soldatenräte der Jahre 1918-1920. Mit dem Ende der monarchistischen Herrschaft schien die Überwindung der ständischen Hierarchie innerhalb der deutschen Gesellschaft greifbar, deren Grundlage durch die Teilung in höhere und niedere Schulformen bereits im Bildungswesen angelegt war. Die Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Aufbau einer Einheitsschule waren Bestandteil einer Reihe radikaldemokratischer Forderungen, die insbesondere im Umfeld der Sozialdemokratischen Partei (SPD) artikuliert wurden. Zu diesen lässt sich auch Flemmings Aufsatz zur Schulreform zählen. Diese Vorstöße kamen im Laufe des Jahres 1920 aufgrund finanzieller Engpässe des Staates und der Dominanz konservativer Kräfte zum Erliegen. Einzig ein leicht erhöhtes Niveau in der Volksschule lässt sich als langfristiges Ergebnis der Reformbemühungen erkennen.

Willi Flemming wurde erst im Zuge des Nationalsozialismus zu einer wichtigen akademischen Figur. Dort zeigte er sich als völkischer Vordenker, Mitwirkender bei der Umgestaltung des Bildungswesens und glühender Verehrer des Soldaten-Ethos; eine paradoxe Wendung für einen Menschen, der am eigenen Leib die Schrecken des Krieges und dessen psychische Folgen erlebt hatte. Gegen Kriegsende wurde Flemming unehrenhaft von seinen Aufgaben an der Universität Rostock entbunden, erhielt jedoch bereits 1946 einen neuen Lehrstuhl an der Universität Mainz. Eine gewichtige Rolle fiehl ihm in der jungen Bundesrepublik jedoch nicht mehr zu. Flemming starb 1980 in Mainz.

Dieser Text ist ein wissenschaftlicher Beitrag zur Serie „Im Blickpunkt“. Wir danken Frau Sophia Schorr und Herrn Daniel Lieb von der Eberhard Karls Universität Tübingen herzlich für die Bereitstellung.

Links zu den Quellen im Archivportal-D

Willi Flemming, "Richtlinien zur Schulreform", Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik, Nr. 79

Georg Flatow, "Die sozialpolitischen Errungenschaften der Revolution" Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik, Nr. 76

Theodor Thomas, "Was bringt die sozialistische Republik dem Handwerker ?", Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik, Nr. 61

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